US-Konservative wollen "einen völlig anderen Staat"

Moderation: Joachim Scholl · 28.07.2011
Die Republikaner wollen den Sozialstaat beschneiden, für die Demokraten ist das nicht akzeptabel. Im Streit um die Anhebung der US-Schuldengrenze sind Kompromisse daher kaum noch möglich, erklärt der Politikwissenschaftler Karl Kaiser.
Joachim Scholl: Bis zum 2. August, also nur noch wenige Tage, haben US-Präsident Barack Obama, seine demokratischen Abgeordneten und die Vertreter der Republikaner Zeit, sich zu einigen auf eine Erhöhung der Schuldengrenze – sonst droht die Zahlungsunfähigkeit der USA. Doch auch nach wochenlangem Streit sind die Fronten verhärtet: Keiner will nachgeben. Was geht hier eigentlich vor? Was ist los in der amerikanischen Demokratie, im System der Checks and Balances, das noch stets auf den Kompromiss gesetzt hat? Wir sind jetzt verbunden mit Karl Kaiser, Professor für internationale Politik, derzeit an der Harvard University, wo wir ihn jetzt auch erreichen. Guten Tag nach Amerika, Herr Kaiser!

Karl Kaiser: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Täuscht der Eindruck, dass Politik in den USA mit so harten Bandagen wie selten zuvor geführt wird?

Kaiser: Ja, und der europäische Beobachter wird natürlich erinnert an die unselige Definition von Carl Schmitt in der Vorkriegszeit, dass Politik als Freund-Feind-Verhältnis zu definieren ist. Vor allen Dingen die politischen Rechte sieht die andere Seite praktisch in unversöhnlicher Weise. Gingrich, republikanischer Präsidentschaftskandidat, sagte vor einigen Tagen: Die Demokraten sind die Feinde der modernen Amerikaner.

Und darüber hinaus hat etwas stattgefunden, das vielleicht erklärt, was hier sich abspielt, zumindest aus der Rechten: Die Republikaner haben ihren gemäßigten Flügel nicht nur verloren, sondern: Die Tea Party, die mit den letzten Wahlen in den Kongress gekommen sind, haben jetzt dort eine so große Gruppe, nämlich immerhin 57 Abgeordnete von 240, dass praktisch keine Lösung möglich ist ohne deren Zustimmung, jedenfalls nicht unter den derzeitigen Umständen – und die Tea Party ist sozusagen eine fundamentalistische Gruppe, die einen völlig anderen Staat will, wie sie so schön sagten: We want America back, wir wollen Amerika zurückholen, als ob es nicht von der Mehrheit gewählt worden sei. Dahinter steckt auch ein bisschen Rassismus: Ein Schwarzer im Weißen Haus – das ist für viele Weiße immer noch ein Problem. Aber sie wollen einen anderen Staat, vor allen Dingen mit einem Abbau an Leistungen in einem Lande, das ohnehin einen relativ geringen Sozialstaat hat, verglichen etwa mit Europa.

Scholl: Aber Herr Kaiser, die amerikanische Demokratie basiert auf dem System der Checks and Balances, der Kontrolle und des Ausgleichens zwischen den parlamentarischen Organen, dem Repräsentantenhaus und dem Senat. Ist dieses System damit aus den Fugen geraten?

Kaiser: Ja, denn dieses System setzt ja voraus die Fähigkeit zum Kompromiss. Da sind mehrere Dinge passiert: Die Mehrheit ist ja nicht mehr die Mehrheit, 51 Prozent, sondern der Senat, das entscheidende Organ, hat praktisch eine Übermehrheit: Ohne 60 Abgeordnete, also Senatoren, lässt sich überhaupt nichts machen. Und das heißt: Man kann sehr wenig erreichen und vieles wird blockiert.

Dann kommt hinzu, dass auf der demokratischen Seite so etwas stattgefunden hat wie ein "Bis hierher und nicht weiter", weil die Ungleichheit in der amerikanischen Gesellschaft solche Formen angenommen hat, dass auf der demokratischen Seite die Bereitschaft zum Kompromiss auch nicht mehr sehr groß ist. Man muss sich vor Augen halten, dass etwa von 1980 bis heute der Anteil der oberen 10 Prozent am Nationaleinkommen von 5 auf 20 Prozent gestiegen ist, also sich vervierfacht hat. Man muss sich vor Augen halten, dass beispielsweise die 25 größten Hedgefonds-Manager im Jahre der großen Krise 2009 im Schnitt 892 Millionen Dollar Jahreseinkommen hatten, und dass sie darauf noch weniger Steuer zahlen als ihre Sekretärin, nämlich nur 15 Prozent. Das heißt: Die Einkommenssteuer ist auch gigantisch gesunken, die Umverteilung hat stattgefunden, und in dieser Situation jetzt noch Abstriche am Sozialstaat zu machen, ist für die Demokraten einfach unakzeptabel.

Scholl: Das heißt aber, für beide geht es um eine Grundsatzfrage: Was ist Amerika? Der Historiker Fritz Stern hat von einem ideologischen Kampf gesprochen, der jetzt zurzeit in den USA stattfinde, wobei die Sachfragen wirklich nur die Oberfläche für diesen tiefer sitzenden Konflikt oder für diese Grundsatzfrage bilden, also: Was ist Amerika, wem gehört es sozusagen? Geben Sie Fritz Stern recht?

Kaiser: Fritz Stern hat vollkommen recht, es ist eine Auseinandersetzung um einen neuen Staat, in der Tat. Die Republikaner wollen einen weiteren Abbau des Staates, gegen Big Government, also gegen umfangreiche Regierung, obwohl sie ohnehin schon geringer ist, wie ich eben sagte, als in Europa. Und es ist außerdem eine Bewegung, die den Sozialstaat so stark abbauen will, dass für Demokraten dies nicht mehr akzeptabel ist. Und das erzeugt eben diese Situation, dass sie sich nicht mehr einigen können.

Scholl: Der Streit um die Staatsschulden als Grundsatzfrage um die amerikanische Identität – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Professor Karl Kaiser von der Harvard University. Jetzt haben Sie vorhin schon einen kleinen Bogen geschlagen zur Vergangenheit, Herr Kaiser, Sie sagten, die demografische, oder sagen wir, die Einkommensentwicklung seit 1980 – wann hat denn diese politische Trennung, dieser Riss begonnen, sich aufzutun? Nach unserer Wahrnehmung war es vor allem die Wahl Obamas, aber waren nicht auch die Bush-Jahre vorher schon entscheidend dafür, dass sich jetzt also ein Riss gebildet hat, der jetzt zu diesem tiefen Graben geführt hat?

Kaiser: Also die Umverteilung geht weit zurück. Die Einkommenssteuer, die ist kontinuierlich seit der Zeit von Eisenhower ... da war sie mal bei 90 Prozent, bei Nixon 77, bei Reagan 50, dann ging sie runter unter Bush auf 38, und er senkte sie weiter auf 35,5 – dieser Trend war schon lange da. Aber unter Bush hat sich das sehr, sehr stark verstärkt. Clinton übergab an Bush vor jetzt ungefähr zehn Jahren ein ausgeglichenes Budget, Bush hat dann praktisch ein Defizit, ungefähr die Hälfte des jetzigen Defizits, aufgebaut, und die Ironie ist, dass Obama mit einem Defizit zu kämpfen hat, von dem die meisten Ausgaben von seinem Vorgänger zu verantworten sind.

Und deshalb ist es so schwer für die Demokraten, unter diesen Umständen weitere Konzessionen an die Republikaner zu machen, die ja verlangen als Gegenleistung für eine Erhöhung der Staatsschulden eine weitere Senkung vor allem der Sozialausgaben, und sie weigern sich konstant und verbissen gegen jede Erhöhung der Steuern, die über die letzten Jahre natürlich sehr, sehr stark für die Wohlhabenden gesenkt wurden. Und das erzeugt die jetzige Situation, sie reflektiert sich auch in der Art, wie in der öffentlichen Politik gewählt wird. Das Erstaunliche ist ja, dass die Republikaner nach wie vor ungefähr die Hälfte der Stimmen im Lande bekommen.

Scholl: Aber genau zu den Wählern einfach: Also die amerikanische Historikerin Hope Harrison hat hier bei uns im Deutschlandradio Kultur gesagt vor einigen Tagen: "It's all about elections, topics don't matter any more" – es geht nur noch ums Gewähltwerden, Themen sind egal, nur Vehikel dazu, selbst der Staatsbankrott wird also in Kauf genommen. Aber man merkt es ja an der Reaktion der Bevölkerung, den vielen Protesten, dass bislang diese Rechnung jetzt auch der Republikaner nicht aufgeht, Obama als den alleinigen Verhinderer, Versager darzustellen. Die Bürger sagen: Einigt euch.

Kaiser: Das wird sich erst in einiger Zeit zeigen, ob diese Rechnung aufgeht. In der Tat, man fragt sich wirklich, nicht zuletzt auch, weil das in den Medien immer mehr thematisiert wird: Kann eine Partei, die so verbissen die Privilegien der Wohlhabenden verteidigt, kann sie Mehrheiten erreichen? Dass die Republikaner jetzt natürlich versuchen, schon Bedingungen zu schaffen, die die Wiederwahl Obamas schwer machen, das ist vollkommen normal. Dass sie dabei aber so eine riskante Politik, die nicht nur die USA, sondern die Weltwirtschaft in den Abgrund ziehen kann ... , das ist natürlich neu. Aber bisher hat das immer geklappt bei den Republikanern, weil sozusagen der Mythos der Mobilität nach oben immer dazu beigetragen hat, dass die weniger Wohlhabenden akzeptiert haben, dass die Republikaner sozusagen ihnen das Geld aus der Tasche nehmen. Und im Übrigen darf man nicht vergessen: Die Republikaner werden ja nicht nur aus ökonomischen Gründen gewählt, sondern auch aus ideologischen.

Scholl: Wird denn diese Veränderung der politischen Kultur, die man ja auch als Verfall der amerikanischen Demokratiekultur bezeichnen könnte, wird das denn entsprechend reflektiert von den Intellektuellen, von den Medien des Landes?

Kaiser: Ja, unter den, sagen wir mal, liberalen Medien findet sich dazu sehr, sehr viel in diesen Tagen. Es ist auch reflektiert in den Einstellungen: Noch nie hat der Kongress eine so niedrige Zustimmungsrate nach dem Krieg gehabt, das liegt jetzt bei 20 Prozent. Der Ärger steigt, man sieht es auch in der Berichterstattung, dass sozusagen die Bevölkerung sagt, nun einigt euch um Gottes Willen endlich, ihr könnt nicht hier uns alle in den Abgrund ziehen. Denn man darf ja nicht vergessen: Es geht hier nicht nur um die Staatsschuld oben, sondern das reflektiert dann hinunter in die Gesellschaft und wird den Bankrott von vielen Firmen zur Folge haben, mehrere Staaten werden in größte Schwierigkeiten ... Kommunen kommen in Schwierigkeiten, die Zinsen werden steigen, Hypotheken werden nicht mehr bezahlbar sein. Es hat also gewaltige Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Scholl: "Compromise seems to have become a dirty word", das war das Wort von Barack Obama, der Kompromiss scheint ein schmutziges Wort geworden zu sein. Herr Kaiser, das demokratische System der USA war immer Vorbild für andere Demokratien. Verliert das Land durch diesen so hart geführten ideologischen Streit womöglich auch noch diese Rolle als Musterbeispiel für andere Demokratien?

Kaiser: Ja, ich würde schon sagen, das, was sich hier abspielt, ist von grundlegender Bedeutung: Wenn die Fähigkeit zum Kompromiss nicht mehr vorhanden ist, dann ist das Ansehen der Demokratie natürlich auch vermindert. Und man fragt sich dann auch: Was wird aus der Weltmachtrolle der Vereinigten Staaten, wenn es so schwer wird, innenpolitische Probleme zu lösen? Das ist dann eine zweite Frage, die sich stellt. Und die USA bleiben nun mal die unerlässlich wichtige Macht in der Weltpolitik. Aber vielleicht hat Churchill recht, der ja mal gesagt hat: Was die Amerikaner angeht, da kann man sich darauf verlassen, dass sie am Ende das Richtige tun, nachdem sie alles andere versucht haben.

Scholl: Die amerikanische Demokratie steht auch auf dem Prüfstand im Schuldenstreit. Das war der Politologe Karl Kaiser, er lehrt derzeit an der Harvard University. Besten Dank für das Gespräch, Herr Kaiser!

Kaiser: Gern geschehen, auf Wiederhören!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema