Urteil im Organspendeprozess

Moralisch falsch, aber nicht strafbar

Eine Lungentransplantation in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)
Inzwischen "weitgehend manipulationssicher": Nach dem Organspendeskandal wurden die Kriterien verschärft © picture alliance / dpa / Junge /MHH
Von Alexander Budde · 06.05.2015
Das Landgericht Göttingen hat im Organspendeprozess den angeklagten Transplantationsmediziner in allen Punkten freigesprochen: Zwar seien Daten manipuliert worden, aber dies sei zum Tatzeitpunkt nicht strafbar gewesen.
Richtungsweisend ist das Urteil, überraschend kam es nicht. Von sämtlichen 14 Anklagepunkten sei der Beschuldigte freizusprechen, befindet der Richter. Zwar habe die Kammer in der Tat in mehreren Fällen Verstöße gegen die Richtlinien der Bundesärztekammer festgestellt: Daten seien manipuliert worden, damit Patienten schneller als in der Warteliste vorgesehen zu Spenderlebern gekommen seien. Selbst alkoholkranken Patienten seien Organe verpflanzt worden, obwohl das nach den Richtlinien gar nicht zulässig gewesen sei.
Moralisch sei das Vorgehen von Aiman O. zu missbilligen, so der Vorsitzende. Die Verfälschung von Dialyseergebnissen sei zum Tatzeitpunkt jedoch nicht strafbar gewesen - und könne dem Beschuldigten folglich nicht angelastet werden.
Objektiv sei nicht feststellbar, ob andere Patienten, die auf der Warteliste weiter unten standen, durch die Manipulationen möglicherweise verstorben seien.
"Das Gericht ist zu der Überzeugung gekommen – das betrifft nur einen Teilaspekt dieses Verfahrens –, dass die Richtlinien der Bundesärztekammer, die zum Teil Patienten von der Warteliste ausschließen, weil sie beispielsweise die Alkohol-Karenzzeit nicht eingehalten haben, gegen das Grundgesetz, insbesondere Artikel 2, verstößt und deshalb unbeachtlich ist."
Transplantationen waren "medizinisch geboten"
Denn das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gelte für jedermann, erläutert Gerichtssprecher Matthias Thielbeer. Die Verfassung gebiete eine gleichberechtigte Teilnahme aller Betroffenen am Transplantationsverfahren, solange medizinische Gründe dem nicht eindeutig entgegenstehen.
Oberstaatsanwältin Hildegard Wolff hatte gegen den 47-jährigen Leberchirurgen acht Jahre Haft und ein lebenslanges Transplantationsverbot gefordert. Denn in drei Fällen seien Patienten Lebern eingepflanzt worden, obwohl das medizinisch nicht erforderlich gewesen sei. Doch die Kammer sieht den Vorwurf des versuchten Totschlags und der Körperverletzung mit Todesfolge nach 20-monatiger Verhandlung widerlegt:
"Die Kammer hat in den sogenannten Indikationsfällen entschieden, dass die Heileingriffe des Angeklagten in allen Fällen indiziert waren, das heißt: nach medizinischen Gründen geboten waren."
Nach allen Regeln der Kunst also wurde im Interesse der Schwerstkranken operiert, niedere Motive dafür wie der unterstellte Drang nach Ruhm und Boni hätten keine entscheidende Rolle gespielt. Sichtbare Erleichterung beim Angeklagten. Vor dem Pulk der angereisten Journalisten kommentiert Strafverteidiger Steffen Stern mit zufriedener Miene:
"Ganz wichtig ist, dass auch gewisse Beanstandungen, die wir hinsichtlich der Richtlinien erhoben haben, dass die auch hier Beachtung gefunden haben. Das ist wichtig für alle Patienten und auch für die Verteilungsgerechtigkeit, die bislang aus unserer Sicht nicht gegeben war."
Inzwischen "engmaschige Kontrollen" und "Sechs-Augen-Prinzip"
Die Verteidigung hatte von Anfang an betont, dass es nicht sein könne, dass die Richtlinien der Bundesärztekammer über Leben und Tod entscheiden, dass ein Arzt bestraft werden könne, nur weil er seinem Gewissen folgt und Richtlinien missachtet, um Menschenleben zu retten.
Schon vor dem Start des Mammutverfahrens und unabhängig vom heutigen Ausgang hatte der Göttinger Skandal eine Reihe von Reformen bewirkt. Eine Kommission von Ärzten, Kliniken und Kassen wurde eingesetzt, um die Manipulationen an deutschen Kliniken aufzuarbeiten und somit das Vertrauen in das Vergabesystem wieder herzustellen.
Seit Bekanntwerden des Skandals im Jahr 2012 war die Bereitschaft für Organspenden in Deutschland deutlich gesunken. Der Vorsitzende des Bundestagsgesundheitsausschusses, Edgar Franke (SPD), hält das System inzwischen aber für "weitgehend manipulationssicher". Es seien engmaschige Kontrollen und ein Sechs-Augen-Prinzip eingeführt worden, sagte Franke dem Südwestrundfunk. Er warb für eine höhere Spendenbereitschaft: Derzeit würden auf der Warteliste für ein Spenderorgan täglich im Schnitt drei Patienten sterben.
Die Staatsanwaltschaft war für eine Stellungnahme zunächst nicht zu erreichen. Jedoch hatten die Ankläger bereits vor der heutigen Urteilsbegründung zu erkennen gegeben, im Falle einer Niederlage die Revision anzustreben. Eine abschließende Grundsatzentscheidung wird wohl erst der Bundesgerichtshof sprechen.
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