Ursendung

Vater zieht in den Krieg

Jahrzehntelang lag das Album in einer Ecke des Bücherregals, gelegentlich zog die Autorin es hervor und blätterte darin. Als Kind bewunderte sie die Soldaten und Pferde, später begriff sie, was es dokumentiert: Fotos, handgezeichnete Karten und Texte beschreiben den Frankreichfeldzug ihres Vaters im Mai und Juni 1940. Mehr als 70 Jahre danach bricht sie auf, um seinen Weg nachzuvollziehen, in Begleitung des Fotografen Pierre Bourdis. Sie entdeckt die französische Seite der Geschichte. Hört von Pierres Vater, der als Reaktion auf den deutschen Einmarsch in den Untergrund ging. Und macht nebenbei Bekanntschaft mit ihrem Großvater, den im Oktober 1914 eine englische Kugel ins Herz traf.
In dem Dorf La Bouteille in Nordfrankreich. Autorin Christiane Seiler folgt den Spuren eines Fotoalbums. © Pierre Bourdis
Von Christiane Seiler · 31.05.2014
Jahrzehntelang lag das Album in einer Ecke des Bücherregals, gelegentlich zog die Autorin es hervor und blätterte darin. Als Kind bewunderte sie die Soldaten und Pferde, später begriff sie, was es dokumentiert: Fotos, handgezeichnete Karten und Texte beschreiben den Frankreichfeldzug ihres Vaters im Mai und Juni 1940.
Mehr als 70 Jahre danach bricht sie auf, um seinen Weg nachzuvollziehen, in Begleitung des Fotografen Pierre Bourdis. Sie entdeckt die französische Seite der Geschichte. Hört von Pierres Vater, der als Reaktion auf den deutschen Einmarsch in den Untergrund ging. Und macht nebenbei Bekanntschaft mit ihrem Großvater, den im Oktober 1914 eine englische Kugel ins Herz traf.
Regie: die Autorin
Mit: Christiane Seiler, Simone Kabst, Erika Skrotzki, Ole Lagerpusch, Karim Cherif
Ton: Lutz Pahl
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2014
Länge: 53'17
Christiane Seiler studierte in Berlin und Paris Religions- und Literaturwissenschaft. Sie arbeitet als Radioautorin und Übersetzerin. 2011 war sie Grenzgänger-Stipendiatin der Robert-Bosch-Stiftung. Zuletzt: "Der Kopf der Herde - Unterwegs mit Schäfern" (DKultur 2013).
Über diese Sendung:
Das Leben hängt an einem seidenen Faden
Von Christiane Seiler (Autorin)
Den Anstoß zu dieser Reise gab Pierres Interesse an dem Kriegsalbum meines Vaters. Eines Tages schauten wir es gemeinsam an, ich, die Tochter eines Wehrmachtssoldaten, er, der Sohn eines Résistance-Kämpfers. Seine Reaktion hatte ich nicht erwartet: Er bewunderte die Fotos, die handgezeichneten Karten, die Sorgfalt, mit der es angelegt war. Er war neugierig auf diese deutsche Sicht auf sein Heimatland. Wir trafen uns im Juli 2013 in Haybes an der Maas und folgten der Route meines Vaters Richtung Paris, er mit der Kamera, ich mit dem Mikrofon. Bis dahin war das Album für mich ein unangenehmes Objekt gewesen. Jetzt brachten wir die Bilder an den Ort ihrer Entstehung zurück. Öffneten das Album mit Menschen, denen wir auf unserer Reise zufällig begegneten. Sie erkannten darauf ihre Dörfer, erinnerten sich an Szenen ihrer Kindheit.
Viele sagten mir: noch vor 20 Jahren hätten wir nicht so unbefangen mit Ihnen gesprochen. Ein Mann, der 1940 als Kind vor den vorrückenden Deutschen geflüchtet war, erinnerte sich beim Anblick eines Fotos mit toten Pferden und Soldaten in dem Album an ein Gespräch mit seiner Mutter damals: 'Was ist das Rote da auf der Straße?' 'Jemand hat Wein verschüttet', antwortete sie. 'Und warum liegen da so viele Pferde?' 'Sie schlafen', sagte die Mutter.
Ich verstand, dass nach über 70 Jahren dieser Einmarsch der Deutschen in Frankreich, der bei uns gerne als "Blitzkrieg" verniedlicht wird, immer noch Gefühle der Scham hervorruft. Dass aber die traumatischere Erfahrung der hundert Jahre zurückliegende Erste Weltkrieg war, in dem mein Vater seinen Vater verloren hatte. Die Armee des Kaisers ist den Franzosen zwischen Maas und Oise-Aisne-Kanal auch heute noch als unbarmherzige Besatzungsmacht in Erinnerung.
Ein alter Mann, dem wir begegnet sind, hat mich besonders berührt. Wir schellten an seiner Haustür, unangemeldet, Pierre stellte uns vor, er bat uns hinein. Das erste, was er uns in der Diele seines Hauses zeigte, war eine Fotografie seines kleinen Bruders. Während der deutschen Besatzungszeit nach 1940 hatten die beiden sich an Sabotageaktionen der Résistance beteiligt. Der alte Mann bewunderte seinen Bruder immer noch für seinen Mut. Und trauerte noch immer um ihn, der als Soldat in Indochina verwundet wurde und auf der Fahrt ins Krankenhaus verblutete. "Das Leben hängt an einem seidenen Faden", sagte der alte Mann zu uns.
Ich habe nach dieser Reise mit dem ungeliebten Erbstück meinen Frieden geschlossen. Es hat einen neuen Kontext bekommen, viele Blicke und Hände haben es berührt, wie mein Freund Pierre sagt. Ohne ihn hätte ich mich nicht auf den Weg gemacht.

Eine europäische Begegnung
Von Pierre Bourdis (Fotograf)
Wir kennen uns seit 25 Jahren, seit dem Tag, an dem Christiane, auf die Empfehlung meines Freundes Ludwig, an die Tür meiner Pariser Wohnung klopfte. Seitdem begann unsere Freundschaft zu wachsen, zu der sich rasch meine Bewunderung für ihre Beherrschung unserer Sprache und ihre Liebe zu unserer Literatur mischte.
Nie haben wir uns über die Vergangenheit unserer Väter unterhalten, obwohl sie ungefähr zur selben Generation gehörten. Auf beiden Seiten des Rheins mussten beide in dem Konflikt, in dem sich unsere Nationen 1940 gegenüberstanden, Stellung beziehen. Mein Vater Michel hat mir in langen Gesprächen, die ich mit einem Rekorder aufzeichnete, erzählt, was ihn dazu brachte, am 18. Juni 1940, an dem Tag, an dem Charles de Gaulle seine Rede über die BBC hielt, seine Heimatstadt Grenoble zu verlassen. Er war noch Schüler, 17 Jahre alt, sein Bruder war gerade 20 geworden. Ihr Stiefvater, ein Psychiater, hatte sie dringend dazu aufgefordert. Sie machten sich mit Fahrrädern auf den Weg, ihr Ziel war Nordafrika oder England. "Die Deutschen sind unersättlich", hatte der Stiefvater vorausgesagt, "sie werden am Ende ganz Frankreich einnehmen." Damals war Paris seit vier Tagen deutsch besetzt.
Christiane konnte sich mit ihrem Vater Johannes nicht über seine Kriegserfahrungen unterhalten. Aber er hat seiner Familie einige Fotoalben mit Kriegserinnerungen hinterlassen. 35 Jahre nach seinem Tod öffneten wir in Berlin gemeinsam das mit handgezeichneten Karten und Fotos illustrierte Album, das seinen Einmarsch in Frankreich dokumentiert. Und ich stellte fest, dass er an jenem 18. Juni mit seinem Gebirgsjägerregiment bei einem kleinen Dorf im Burgund kampierte, das ausgerechnet "Justice" hieß. An dem Tag, an dem Johannes Seilers Invasion fast zu Ende war, begann Michel Bourdis Flucht. Und auch für ihn begann das Abenteuer seines Lebens: der Krieg.
Christiane und ich beschlossen, Johannes Seilers Spuren zu folgen. Was hatte diesen 36 Jahre alten Arzt dazu gebracht, freiwillig an den verrückten Kriegszügen seines fanatisierten Volkes teilzunehmen. Während wir der Route seines Regiments folgten, das sich im Windschatten des Siegesmarsches des Dritten Reiches bewegte, hatte ich die Landkarte im Kopf, die bei meiner Großmutter für alle gut sichtbar in der Diele hing. Sie zeigte mit Hand eingezeichnet die Wege, die ihre Söhne im Krieg zurückgelegt hatten: Der eine führte über London, der andere über die Pyrenäen durch ein Gefängnis in Francos Spanien bis zur Wiedereroberung Frankreichs. Die beiden Brüder kämpften erst gemeinsam in Italien und dann für die Befreiung Europas vom Nazijoch. Ich kenne kaum Fotos aus diesem Jahr 1944, in dem mein Vater in Uniform unterwegs war. Aber nach seinen Erzählungen muss es für ihn ähnlich gewesen sein wie für Johannes Seiler 1940. Kameradschaft, Begeisterung und ein fester Wille, die verheerenden, über ein Jahrhundert andauernden Konflikte ein für alle mal zu beenden. Mussten unsere beiden Nationen erst durch diese Zerstörung und dieses Leid gehen, damit Christiane und ich Freunde werden konnten?