Unterwegs im Norden Syriens

Die Narben des Terrors

Eine zerstörte Straße im syrischen Kobane
Eine zerstörte Straße im syrischen Kobane © Deutschlandradio Kultur / Alexander Bühler
Von Alexander Bühler · 29.11.2015
Im Norden Syriens konnten die Kurden den selbsternannten Islamischen Staat zurückdrängen. Doch noch immer herrscht Ausnahmezustand in der Region - ob sich dort noch immer IS-Kämpfer verstecken, weiß niemand. Alexander Bühler wagte sich dorthin.
Ein Laden neben dem anderen, Granatäpfel, Kartoffeln, rohes Fleisch, Fleischspieß, Falafel. Auf der Marktstraße kann man alles kaufen, was den Alltag bestimmt. Die Läden sind klein, schlauchförmig, einer neben dem anderen. Der Bürgersteig platzt fast vor Gewusel und Auslagen.
Dieser Ort heißt Sere Kaniye. Er liegt im Nordosten Syriens, fast in Rufweite zur Türkei. Das Städtchen gehört zum Kurdengebiet, Rojava - wie es die Kurden nennen. Das Assad-Regime hat hier seit einigen Jahren nichts mehr zu sagen. Oberflächlich gesehen scheint alles gut. Eine zeitlang war Sere Kaniye Frontstadt, grenzte direkt an das Gebiet des Islamischen Staates. Tatsächlich nahm der IS die Stadt auch kurz ein, musste sich aber rasch wieder zurückziehen. Man könnte also glauben, dass es hier ruhig und sicher ist.
Wir suchen einen zuverlässigen Übersetzer, jemand der gut Englisch spricht, der bereit ist, mit uns weiter Richtung Westen zu fahren. In Orte, die durch die Kurden vom IS befreit wurden. Wir, das sind der Fotograf Edouard Beau, ich, der Reporter, und Emad, ein Architekt, der sich als Fahrer ein Zubrot verdient. Die meisten winken ab, was wir vorhaben, ist ihnen zu gefährlich. Schließlich gibt es in den befreiten Orten wohl immer noch IS-Schläfer, die ihnen zuhause Killer auf den Hals hetzen könnten.
Am späten Vormittag beginnt die Fahrt, ohne Übersetzer. Edouard setzt sich nach vorne, unterhält sich mit Emad auf Zorani, dem lokalen kurdischen Dialekt. Es ist heiß, 43 Grad Celsius. Die Landschaft ist sanft gewellt, fast wie in der Toskana. Am Wegesrand tauchen immer wieder Dörfer auf, Lehmhütten, vor denen Kinder im Staub spielen. Und Checkpoints, mit denen die Kurden versuchen, diese Straße gegen den IS zu sichern.
Emad: "Hallo, Wie geht's?"
Soldat: "Wo kommen Sie her?"
Emad: "Von Ra'as Al-Ain, Sere Kaniye, und wir wollen nach Kobane. Wir haben eine Presse-Genehmigung."
Soldat: "Okay, hier ihre Papiere. Wiedersehen!"
Dann geht es weiter. Neben der Straße sind Erdwälle zu sehen, Schützengräben. Manchmal ist der Boden von Öl schwarz gebrannt. Hier haben der IS und die Kurden gegeneinander gekämpft.
Selbstmordanschläge auf die Checkpoints
Ein Warnschuss! Das Auto ist zu schnell an den Checkpoint herangefahren, die Kurden dachten, dass es gefährlich wird. Emad steigt aus, wartet bis der Soldat ihm ein Zeichen gibt und geht dann mit den Genehmigungen zu ihm. Als das Auto vorbeifährt, lädt Saidi, der Kommandeur des Checkpoints, zur Entschädigung für den Schrecken zum Tee ein.
Saidi: "Hallo!"
Edouard: "Wie geht's Ihnen?"
Saidi: "Gut - und ihnen? Setzen Sie sich."
Emad: "Ich setze mich mal auf den Boden."
Noch diesen Tag durchstehen, erzählt er, dann hat er Heimaturlaub. Wie die anderen Soldaten um ihn herum gehört er zur YPG, der kurdischen Miliz. Sein Checkpoint liegt auf einer kleinen Anhöhe. Direkt dahinter liegen die ersten Häuser eines benachbarten Dorfes. Der Tee wird unter einem Blechdach als Schutz vor der sengenden Sonne serviert, an der Hauswand dahinter hängt ein alter Teppich.
Saidi: "Fünf YPG-Soldaten sind hier getötet worden."
Emad: "Als die YPG das Haus stürmte, explodierte eine Sprengfalle. Der Besitzer des Hauses ist mit dem IS verbündet. Hier lag eine Mine und hier noch eine weitere."
Saidi: "In dieser Gegend gibt es viele Minen."
Edouard: "Minen? Wo?"
Saidi: "Hier, der IS hat sie bei der Straße vergraben."
Edouard: "Gibt es da noch Minen?"
Saidi: "Nein, wir haben sie alle gefunden."
Autor Alexander Bühler und sein Fahrer am kurdischen Checkpoint
Autor Alexander Bühler und sein Fahrer am kurdischen Checkpoint© Deutschlandradio Kultur / Alexander Bühler
Die Straße, die wir befahren, ist die Schlagader des kurdischen Gebiets. Sie führt an der türkischen Grenze entlang von Ost nach West, sie verbindet alle Städte miteinander. Und genau deswegen vergräbt der IS oft nachts Minen entlang der Straße. Und jeden Morgen versucht ein Konvoi der YPG alle Minen zu finden. Die Checkpoints sind ein weiteres Instrument, die Straße zu sichern - doch ab und zu verübt der IS auch Selbstmordanschläge auf diese Checkpoints. Dann rast ein mit Sprengstoff beladenes Auto auf die Soldaten zu. Der IS arbeitet mit einer Terror-Taktik - immer wieder kleine Nadelstiche, die den Gegner verunsichern, mutlos machen. Und ihm zeigen, dass der Feind überall ist. Dass man nie sicher sein kann. Auch hier, 100 Kilometer westlich von Sere Kaniye, mitten im Kurdengebiet.
Saidi: "Der Schwiegervater des Nachbarn gehört zum IS und ist jetzt in Raqqa."
Emad: "Wieviele Familien hier unterstützen den IS?"
Saidi: "Nicht so viele, nur ein paar Familien in diesen Häusern."
Zum Abschied warnt Saidi nochmal - und macht deutlich, wie unsicher es hier ist, dass es immer noch viele gibt, die mit dem IS kooperieren und für die wir ein lohnendes Ziel sein könnten.
Saidi: "Ihr wollt nach Tal Abyad?"
Emad: "Ja, zuerst nach Tal Abyad, und dann nach Kobane."
Saidi: "Das ist einfach."
Edouard: "Ist der IS in der Nähe, auf dem Weg dorthin?"
Saidi: "Nein, die sind nur in Raqqa. Aber steigt nicht aus dem Auto aus - und lasst andere Autos nur vor euch fahren, nie hinter euch."
Tal Abyad, das nächste Ziel, liegt direkt neben der türkischen Grenze. Früher, bevor der IS die Stadt im Juni 2014 besetzte, war Tal Abyad ein Abbild der vielen Ethnien und Konfessionen Syriens. Hier lebten Kurden, Araber, Turkmenen, Christen, Schiiten und Sunniten friedlich miteinander. Jetzt nicht mehr. Wer nicht den religiösen Vorstellungen des IS entsprach, wurde vertrieben oder musste sich der Terrorherrschaft beugen und kollaborieren.
Sie nannten den Tunnel "Erdogan"
Die Peshmerga, die kurdischen Soldaten, haben ihr Hauptquartier in einer fest ummauerten alten Villa am Stadtrand aufgeschlagen. Aus Sicherheitsgründen. Wer weiß, ob sich nicht im Ort noch ein paar IS-Kämpfer versteckt halten, die sie angreifen wollen. Sie geben eine Eskorte mit. Sie soll zeigen, wie der IS hier herrschte. Als erstes führen die Soldaten zu einem Tunnel, den sie "Erdogan" nennen, nach dem türkischen Präsidenten. Denn dorthin, in die nahe Türkei, führte der Tunnel, glauben sie. Neue IS-Rekruten, Waffen und Munition seien so nach Tal Abyad gekommen.
Soldat: "Dieser Tunnel ist lang - aber es gibt noch größere!"
Edouard: "Wir möchten alle Tunnel sehen, die in die Türkei führen."
Soldat: "Wenn es sicher ist, können sie in den Tunnel steigen."
Edouard: "Gibt es am anderen Ende einen Eingang?"
Soldat: "Nein, nichts."
Edouard: "Gibt es darin irgendwelche Bomben oder Minen?"
Soldat: "Nein, nichts. Nur lange Elektrokabel für die Beleuchtung beim Graben. Alle fünf Meter eine Glühbirne."
Soldat: "Die Arbeiter, die den Tunnel gegraben haben, sind alle vom IS getötet worden, damit dieser Ort ein Geheimnis bleibt."
Der IS versucht, möglichst alle Details seiner Herrschaft geheim zu halten. Daher auch die Sturmhauben, die seine Soldaten tragen. Niemand soll etwas Genaues wissen, die Unterworfenen sollen immer in einer lähmenden Ungewissheit bleiben. Als nächstes zeigen uns die Soldaten einen weiteren Tunnel, mitten in einem Wohngebiet.
Soldat: "Ich bin fünf Meter weit in den Tunnel hineingelaufen und bin dann wieder umgedreht. Wir können nicht bis zum Ende dieses Tunnels laufen. Es kann sein, dass es darin Minen oder Sprengfallen gibt."
Den Erdaushub für den Tunnel haben die IS-Arbeiter einfach in das leerstehende Haus geschaufelt. Die Grenze mit der Türkei ist immer in Sichtweite, man kann die rote Fahne mit dem Halbmond deutlich erkennen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Barbarei des IS in Sichtweite der Türkei stattgefunden hat - und dass die nicht eingeschritten ist. Auf einem Rondell steht ein von hohen Eisengittern umzäuntes und überdachtes Ölfass. Hier köpfte der IS alle die, die ihm nicht passten. Reiner Terror, zur Abschreckung der Bewohner. Am Rand des Rondells stehen ein paar Jungen herum, verkaufen Gemüse und Zigaretten. Haben sie etwas gesehen, kennen sie jemanden, der die IS-Herrschaft erlebt hat? Einer von ihnen hat seine Arme über und über mit Sternen und "YPG", der Abkürzung für die kurdische Armee, bekritzelt.
Soldat: "Sie haben die Leute gezwungen, sich hier zu versammeln, rund um die Öltonne. Dann haben die IS-Leute ihre Opfer hingerichtet. Sie appellierten sogar an die Leute, sich zu beteiligen."
Einheimischer: "Dieses Kind war hier, die IS-Leute haben seinen Vater hingerichtet."
Edouard: "Wo hast du zum letzten Mal deinen Vater gesehen?"
Kind: "In der Nähe vom Kreisverkehr. Als mein Vater und ein Freund das Haus verlassen haben, haben die IS-Leute sie verhaftet. Sie haben sie hier geköpft und dann in der Stadt aufgehängt."
Ein Ozean der Gewalt
Wir sind sprachlos, Edouard streichelt dem Jungen über den Kopf, es würgt jeden von uns in der Kehle. Die kurdischen Soldaten stehen abseits, sie sind solche Geschichten gewöhnt. Aber sie wirken auch ratlos, als würde der Ozean der Gewalt über ihnen zusammenschlagen. Sie führen uns zur nächsten Hinrichtungsstätte des IS. Wieder ein Rondell, daneben eine Straßenlaterne.
Soldat: "IS-Kämpfer haben die Menschen hier geköpft und ausgestellt, damit die Menschen Angst bekommen. Sie ließen sie drei Tage an der Laterne baumeln."
Eine Hinrichtungsstelle des IS auf einem Straßenkreisel
Eine Hinrichtungsstelle des IS auf einem Straßenkreisel© Deutschlandradio Kultur / Alexander Bühler
Ein paar Meter weiter das Rathaus des IS. Es ist schwarz-weiß gestrichen, in den einzigen Farben, die der IS zulässt. Die Tore stehen offen, doch das Gebäude ist verlassen. Drinnen eine übermalte IS-Flagge an der Wand, am Boden rote Spritzer. Zu hell für Blut, eher die Reste von rotem Eis, Himbeereis, dass Kinder hier gegessen haben. Vielleicht haben die Bewohner von Tal Abyad das Gebäude besichtigt, nachdem der IS abgezogen war, um zu sehen, wer sie terrorisiert hatte. Und haben dabei vielleicht auch dieses Papier gefunden, einen Strafbefehl des IS. So hört es sich an, wenn Bürokratie und Barbarei zusammen kommen:
"Die Männer Abu-el Barrah-el Sahraoui und Abu Abdel-Rahman nahmen ihn fest und fanden bei besagtem Mann 55 Zigarettenschachteln der Marke "Mikado", drei Schachteln "Gazi" und eine Packung "m'Assel". Alle gefundenen Waren wurden auf der Stelle vernichtet. Und nun haben wir Ihn zu Euch geschickt, damit ihr nach eurem Sinne seine Tat bestraft."
Ein kleines Indiz für die Struktur, die der IS überall in den besetzten Gebieten aufbaut: An der Spitze ein Emir, ein lokaler Befehlshaber. Er arbeitet mit der Führung im Irak zusammen und agiert vor Ort. Gleichzeitig sorgt er für Einnahmen, indem er Steuern erhebt. Wer nicht pariert, wer versucht die Steuern zu vermeiden, riskiert immer höhere Strafen. Erst Geld, dann Gefängnis, dann Auspeitschen und schließlich vielleicht den Tod. Die klassische Zuckerbrot- und Peitsche-Taktik: Das Zuckerbrot ist, dass jeder sunnitische Muslim alles darf, solange er dem IS Geld abgibt, vom Handel mit Erdöl bis zum Sklavenhandel.
Wir können nicht über Nacht in Tal Abyad bleiben, zu gefährlich, meinen die kurdischen Soldaten, sie wüssten immer noch nicht genau, wer mit dem IS zusammenarbeitet, vielleicht würden die Islamisten versuchen, uns zu entführen. Wir fahren weiter nach Kobane, jenem Ort, der monatelang von Kurden und IS umkämpft war. Wieder überall Zeugnisse von Kämpfen: verbrannte Erde, verlassene Dörfer, zerstörte Häuser. Und die Abzweigung nach Raqqa. Nur 40 Kilometer liegen zwischen uns und einem der größten Stützpunkte des IS. Soviel Nähe ist unheimlich. Doch längst nicht alle Araber unterstützen den IS, erklärt Emad, als wir einen Checkpoint passieren:
Emad: "Hier gibt es viele Araber. Sie arbeiten für den kurdischen Geheimdienst oder bei der YPG. Viele sind beim Geheimdienst, sehr viele."
In Kobane werden wir im Gästehaus der Stadt, einem der wenigen erhaltenen Häuser, von einem Konzert empfangen. Eigentlich gilt es nicht uns, es ist ein Abschiedskonzert für einige internationale Helfer, die beim Wiederaufbau der Stadt geholfen haben. Eine Hommage an den Widerstandswillen der Kurden im Kampf gegen den IS.
Schon die Grundversorgung ist schwierig
In der Nacht dagegen herrscht Stille, kaum jemand ist auf der Straße, kaum eine Laterne brennt. Nur die Stromgeneratoren rauschen. Ist Kobane eine tote Stadt?
"Sie kamen von dieser Straße, von Jarablus, schossen drei Raketen ab, das ist das Tor, IS griff von dieser und jener Straße an, aber konnte nicht in die Stadt eindringen, aber hier waren jede Menge Kämpfe, viel zerstört, hier auch viele Kämpfe, als sie kamen, haben die Kämpfer die Kontrolle über diese Plätze errungen, hier auch viele Kämpfe, weil der IS diese Linie erreicht hat. Die YPG kontrollierte nur diesen Bereich."
Die Finger des Stadtplaners tanzen Pirouetten auf dem Stadtplan von Kobane. Kaum einen Punkt lässt er beim Erklären der Kämpfe aus. Es scheint wie ein Wunder, dass überhaupt noch Gebäude stehen. Doch auch nach dem Ende der Kämpfe gibt es noch viele Hindernisse.
"Wir arbeiten seit fünf Monaten am Wiederaufbau. Die Grundversorgung ist schwierig. Das Wassernetzwerk ist zu 80 Prozent zerstört, zusätzlich hatte der IS die Wasserzufuhr abgeschnitten, aber das haben wir behoben. Immerhin haben jetzt die meisten Häuser wieder Wasser."
Die Kämpfe um Kobane dauern von September 2014 bis in den Februar 2015 - fünf Monate. Die Zahl der Einwohner ist in dieser Zeit von 400.000 auf 120.000 geschrumpft. Wie hat die Stadt das überstanden?
"Am 29. Juli haben die Ingenieure begonnen, den Schaden zu erfassen, in Bezug auf Gesundheitsversorgung, Landwirtschaft, Grundversorgung, die zerstörten Häuser. Also: Güter im Wert von 3 Milliarden Dollar. 7000 Häuser sind zerstört, 3000 brauchen Reparaturen, damit Leute dort leben können. Wir haben tausende Minen und tausende zerstörte Fahrzeuge des IS weggeräumt - genauso wie etwa 1100 Leichen, die auf der Straße verwesten. Und die Leichen unter dem Schutt zählen wir dabei nicht mit."
Überall Schutt, zerstörte Häuser, Einschüsse. Betonplatten, die nach unten eingeknickt sind. Nichts ist komplett erhalten, überall sind es nur noch Reste, die stehen. Man kann sich kaum vorstellen, dass hier einmal eine lebendige Fußgängerzone war. Eine Frau hastet mit ihrer Familie durch die Ruinen.
"Sie hier ist vier Jahre alt, Ali ist ein Jahr alt, Naila 24. Ja, wir sind aus Kobane. Diese Straße war eine Marktstraße. Wir haben hier Make-up gekauft, Kleider - und jetzt ist alles zerstört. Wir sind sechs Monate in der Türkei geblieben, an Newroz sind wir wieder zurückgekehrt. Wenn wir schon sterben müssen, dann wenigstens in unserer eigenen Erde. Deswegen bauen wir unser Haus Stein für Stein wieder auf."
Das Tor in die andere Welt ohne Krieg
Nur eine Straße in Kobane scheint wirklich belebt. Die Straße, die zum Grenzübergang in die Türkei führt. Einmal im Monat öffnet die Türkei ihre Tore für die Kurden, die zurückkehren und Waren nach Kobane bringen wollen. Im Grunde ging es dem IS um diese Straße, diesen Zugang in die Türkei, den ihre Kämpfer den Kurden abnehmen wollten. Das bestätigt auch der Übersetzer der Gemeinde von Kobane:
"Der IS hat das hiesige Krankenhaus und das Stadtzentrum im Osten gestürmt, so der YPG alle Versorgungslinien von Süden und Westen abgeschnitten. Die YPG konnte nur diese Straße kontrollieren. Die Straße, die zum Tor führt. Wer das Tor kontrolliert, kontrolliert Kobane."
Die Kurden warfen alles gegen den IS in die Schlacht, manchmal völlig verzweifelt:
"300 YPG-Kämpfer sind nach Kobane gekommen - die ersten 20 starben innerhalb von zehn Minuten. Denn die YPG hatte anfänglich nur Ak47-Gewehre gegen die Panzer des IS."
Das Tor aus einer anderen Welt ohne Krieg, es sieht unspektakulär aus. Aber es ist der einzige offizielle Übergang in die Türkei im gesamten Kurdengebiet. Auf 400 Kilometern. Eine hohe Mauer und eine Stahltür, davor drängen sich vielleicht hundert, zweihundert Menschen. Sie warten, recken die Hälse, wenn die Tür aufgeht, wenn Menschen voller Pakete mit Keksen oder Kleidern raustreten. Wegen der extremen Hitze im Sommer haben die Kurden einige Bänke mit Blechen überdacht, hier warten Frauen und Kinder.
"Ich warte auf meine Töchter, und die Frau meines Sohnes. Während der Kämpfe wurde ihnen gesagt, sie sollten in die Türkei gehen, damit ihnen nicht das gleiche wie den Frauen in Shingal passiert."
Ohne es auszusprechen, meint die Frau, dass sie ihre Töchter in Sicherheit gebracht hat, damit die nicht - wie die Jezidinnen im Irak - vom IS vergewaltigt und versklavt würden.
"Während der Kämpfe habe ich Kobane nicht verlassen. Wir sind hier geblieben, auf unserem Land. Wir haben der YPG geholfen, wollten Kobane nicht verlassen. Ich habe für die YPG-Kämpfer gekocht, sie brachten uns Holz zum Kochen, und wir kochten ihnen Fleisch und Suppe. Es war wirklich hart, vor allem während des Angriffs aus Richtung des Tors, da konnten wir das Haus nicht verlassen, ich kümmerte mich um die Verwundeten, raus konnten wir nicht wegen der Granatwerfer, an einem Tag zählten wir 170 Mörsereinschläge in der Nähe."
Die Stadt ist ein einziger Schutthaufen, überall ragen wie vereinzelte Zähne die Betonpfeiler von Ruinen empor. An Straßenecken stehen die weiß ausgebrannten Autos der IS-Kämpfer, manchmal sieht man noch zerstörte Humvees und Panzer, die der IS der irakischen Armee abgenommen und hier eingesetzt hat. Hier ist so viel zerstört, dass man sich nur schwer vorstellen kann, woher die Menschen Hoffnung für den Wiederaufbau nehmen sollen. Von einem friedlichen Weiterleben zwischen Arabern und Kurden ganz zu schweigen, das Misstrauen zwischen den beiden Ethnien ist groß, immer schwebt die Frage im Raum, ob die Araber getarnte IS-Kämpfer sind.
Sein eigenes Schicksal ist ungewiss
Wie kann eine Zukunft aussehen, mit all diesem Hass - auch Emad, unser Fahrer ist ratlos. Er zeigt Edouard und mir, wie er sich seine Zukunft vorgestellt hat. Auf der Rückfahrt von Kobane nach Sere Kaniye bringt Emad uns in das Dorf Manajir, wo er seine Frau kennengelernt hat, wo er vor Jahren der Leitende Architekt war:
"Ihr seht, wie verzweifelt die Lage in Manajir ist. Die Leute müssen Wasser von Tankwagen kaufen, die das Wasser aus Sere Kaniye bringen, weil das Wasser aus ihrem eigenen Fluss, dem Khabour, nicht mehr trinkbar ist. 10.000 Menschen haben hier gelebt, aber seit der IS und Banditen aufgetaucht sind, seit der Krieg ausgebrochen ist, sind sehr viele geflohen - wer geblieben ist, ist noch weiter verarmt. Die Einwohner hier sind alle Araber, es gibt nur eine assyrische Familie, die sind weder Kurden noch Christen."
Emads eigenes Schicksal ist ungewiss. Der IS ist zwar aus den kurdischen Gebieten vertrieben, aber wie soll das Leben dort weitergehen? Emad sieht wenig Perspektiven. Was früher war, ist durch den jahrelangen Konflikt zerstört und Neues entsteht in der Kriegssituation noch nicht. Doch die Geduld geht Emad langsam aus. Am Rand von Sere Kaniye liest er die Inschrift des Stadttors vor:
"Da steht: 'Die Bruderschaft der Völker ist die Basis des Aufbaus von Nationen.' Ich werde euch diese Worte erklären: Wenn man früher in Sere Kaniye 'Bruderschaft der Völker' sagte, bedeutete es, dass alle wie Brüder sind - Araber, Kurden, Assyrer, Christen, Tscherkessen, sogar Fremde aus anderen Städten wie Jarablus, Aleppo, Damaskus, Latakia. Sogar andere Religionsgemeinschaften wie Alawiten und Ismailis. Wir waren wie Brüder, es gab keine Unterschiede, das Leben miteinander war schön! Jetzt ist nichts davon übrig geblieben, die syrische Regierung hat die Völker aufeinander gehetzt. Die Assyrer, Christen, Tscherkessen oder Armenier sind nicht geblieben, niemand außer den Arabern ist in dieser Stadt geblieben. Viele sind in den Libanon, ins irakische Kurdistan, nach Italien oder Australien ausgewandert."
Das Auto bricht schließlich am Stadtrand von Sere Kaniye zusammen, bei einem Park, den das Assad-Regime einst angelegt hat. Die Benzinpumpe hat schlapp gemacht, das Benzin war verdreckt. Gutes Benzin gibt es schon lange nicht mehr, das ganze kurdische Gebiet hat nur eine Ölraffinerie. Erst nach Stunden können wir die Fahrt fortsetzen. Bevor wir endgültig das Land verlassen, halten wir noch bei Emads Familie, bei seiner Frau und seiner kleinen Tochter Rohaiv.
"Rohaiv, komm zu deinem Papa! Hast du mich vermisst? Na, wen magst du am meisten? Ich werde das Land für dieses Mädchen verlassen, denn hier kann ich nichts tun. Ich tue dem Mädchen Unrecht an, wenn ich hier bleibe, denn sie ist ein Geschenk Gottes. Und ich muss dafür sorgen, dass sie ein gutes Leben hat. Aber ich habe nicht die Mittel dazu! Ich kann ihr weder schöne Kleidung noch leckeres Essen kaufen! Auch wenn ich mein Bestes dafür tue! Ich kaufe mir selbst ja schon keine Kleider mehr oder gehe essen - sie soll gut leben! Meine Frau hier und mein Kind bedeuten mir alles. Und hier ist nichts mehr, nur dieses Haus. Keine Freunde, keine Verwandten. Das hier ist eigentlich ein Paradies, aber ich fühle mich nicht wohl. Ich halte diesen Druck nicht mehr aus. Wir haben ständig Angst, vor dem Krieg, den Autobomben, Angriffen vom IS oder weil wir hören, dass die Türkei Syrien oder Rohjava angreifen will. Das fühlt sich furchtbar an. Deshalb wollen wir nach Europa."
Emad fragt seine Frau: "Das willst du auch, oder?"
Emads Frau: "Ja."
Emad: "Warum willst du von Syrien auswandern?"
Emads Frau: "Weil das hier kein Leben mehr ist."
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