Unter Geschwistern

Johannes Krause im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.05.2010
Wissenschaftler vom Leipziger Max-Planck-Institut fanden heraus, dass sich Menschen und Neandertaler vor Jahrtausenden begegnet sind. "In uns Europäern stecken ungefähr zwei bis vier Prozent Neandertaler-DNA", erklärt Paläogenetiker Johannes Krause.
Dieter Kassel: Vor inzwischen schon mehr als 150 Jahren wurden in einem kleinen Tal in der Nähe von Düsseldorf zuerst Knochen und später dann sogar der Schädel eines Frühmenschen gefunden. Wir wissen, wie dieses ehrlich gesagt nicht so wahnwitzig bedeutende Tal heißt, weil man diesen Frühmenschen danach benannt hat: Ich rede natürlich vom Neandertaler. Und wir haben, glaube ich, alle in der Schule gelernt, dass dieser Neandertaler nicht unser direkter Vorfahre ist, weil er zwar zeitweilig zur gleichen Zeit Teile der Erde bevölkert hat wie der frühe moderne Mensch, aber die beiden sollen sich nie begegnet sein – meinte lange Zeit die Mehrheit der Wissenschaftler.

Es gab aber immer auch ein paar, die hatten daran große Zweifel, die sind doch von so einer Begegnung ausgegangen, aber die hatten nie Beweise. Und darin liegt nun die eigentliche Sensation einer neuen Untersuchung, deren Ergebnisse heute im Fachmagazin "Science" veröffentlicht werden: Internationale Forscher unter der Leitung von Svante Pääbo vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie haben nämlich jetzt Übereinstimmungen gefunden zwischen Teilen des Genoms des Neandertalers und des Genoms moderner Menschen, und das beweist: Sie müssen sich in irgendeiner Form nun doch mehr als nur begegnet sein. Einer der Mitautoren dieses "Science"-Artikels bei mir im Studio, es ist der Paläogenetiker Johannes Krause. Schönen guten Morgen, Herr Krause!

Johannes Krause: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Wie viel Neandertaler steckt denn nun in Ihnen und in mir?

Krause: Ja, in uns Europäern beziehungsweise auch in den Asiaten stecken ungefähr zwei bis vier Prozent Neandertaler-DNA. Das ist keine große Menge, das heißt, zu 98 Prozent sind wir immer noch der frühe, moderne Mensch, der aus Afrika ausgewandert ist, aber zwei bis vier Prozent aller Nichtafrikaner stammen vom Neandertaler ab.

Kassel: Aller Nichtafrikaner heißt: Sie haben bei dieser Untersuchung nicht nur einen Vergleich angestellt zu Europäern, sondern auch zu anderen Menschen?

Krause: Genau. Wir haben insgesamt fünf menschliche Genome sequenziert neben dem des Neandertalers, nämlich das von zwei Afrikanern, von einem Europäer aus Frankreich, einem Asiaten aus China und einem Asiaten aus Papua-Neuguinea. Und diese fünf Genome haben wir dann mit dem Neandertalergenom verglichen, um herauszufinden: Welche fünf Menschen sind mit dem Neandertaler näher verwandt? Was wir dabei gefunden haben, war, dass sowohl die Asiaten als auch der Europäer eine nähere Verwandtschaft zeigen zum Neandertaler, aber die beiden Afrikaner diese nähere Verwandtschaft nicht zeigen.

Kassel: Warum die nicht?

Krause: Wir gehen davon aus, dass der Neandertaler ja kein Afrikaner war. Der Neandertaler hat in Europa und auch in Teilen von Asien gelebt, unter anderem auch im Mittleren Osten. Und wir gehen im Moment davon aus, dass die modernen Menschen sich ja aus Afrika heraus entwickelt haben, dass sie vor ungefähr 40.000 Jahren Afrika verlassen haben. Dabei sind sie – wahrscheinlich im Nahen Osten – auf Neandertaler gestoßen. Da wir die gleiche Menge Neandertaler-DNA sowohl im Europäer als auch in den Asiaten finden, gehen wir davon aus, dass diese Vermischung, das heißt, dass die Vermischung zwischen Neandertaler und Mensch dort im Nahen Osten stattgefunden hat. In dem Moment, wo sich die modernen Menschen aus Afrika herausentwickelt haben, durch den Nahen Osten hindurchgezogen sind, in dem auch Neandertaler zu dieser Zeit gelebt haben, ist es wahrscheinlich zur Vermischung gekommen. Nur das erklärt, warum wir die gleiche Menge Neandertaler-DNA im Europäer und auch im Papua-Neuguineaner finden.

Kassel: Je nachdem – ich glaube, es gibt zwei Theorien –, ob man davon ausgeht, dass der Neandertaler vor 30.000 oder vielleicht auch erst vor 24.000 Jahren ausgestorben ist, hatten die also – Kopfrechnen – zwischen 10.000 und 16.000 Jahren Zeit, sich zu begegnen. Wie habe ich mir das vorzustellen? Also, wenn man jetzt mal ein bisschen die Phantasie spielen lässt, nach dem, was Sie wissenschaftlich in den Genen gefunden haben, dann heißt das: Sie hatten schlicht und ergreifend Sex miteinander.

Krause: Kann man genau so sagen. Interessanterweise finden wir aber nur Neandertaler-DNA im modernen Menschen, wir finden keine moderne menschliche DNA im Neandertaler, das heißt, das sieht so aus, als ob der Genfluss nur in eine Richtung stattgefunden hat, nur vom Neandertaler zum Menschen. Natürlich – wenn sich zwei Populationen vermischen, kommt es natürlich zum Genfluss in beide Richtungen. Aber scheinbar war nicht genug Zeit – falls dieser Genfluss im Nahen Osten stattgefunden hat, im heutigen Israel oder Syrien –, dass diese DNA zurück nach Europa gewandert ist und dort ihren Eingang in die europäischen Neandertaler gefunden hat, nämlich: Was wir jetzt sequenziert haben, war ein klassischer Neandertaler aus Europa, aus Kroatien, aus der Vindija-Höhle. Wir haben quasi keine Neandertaler aus dem Mittleren Osten untersucht, die sich eventuell dort mit dem modernen Menschen vermischt haben.

Kassel: Warum soll es da passiert sein, einfach nur aus geografischen Gründen?

Krause: Einmal aus geografischen Gründen – wenn man Afrika verlässt, muss man genau durch diesen Korridor hindurchziehen, nämlich genau durch das heutige Israel oder Syrien –, aber auf der anderen Seite halt auch: Die Tatsache, dass wir die gleiche Menge Neandertaler-DNA in Menschen heute aus Europa und auch in Papua-Neuguinea und in China finden, gibt uns den Anlass, zu vermuten, dass diese Vermischung an einer Stelle passiert sein muss, wo alle Menschen durchgezogen sind, also nicht nur die, die später zum Europäer wurden, die, die später zum vielleicht Mittelasiaten wurden, sondern auch die, die später zum Australier oder zum Papua-Neuguineaner wurden. Und das ist im Prinzip die einzige Stelle, durch die alle modernen Menschen durchziehen mussten, um sozusagen die Welt zu besiedeln.

Kassel: Wir wissen, dass der moderne Mensch überlebt hat und irgendwann Sie und ich unter anderem daraus geworden sind, und der Neandertaler ist ausgestorben. Es gibt ja eine Menge Theorien dazu, aber man weiß ja eigentlich nicht, warum. Diese Gen-Übereinstimmung, kann das mittelfristig auch der Schlüssel zu der Antwort auf die Frage sein, warum die Neandertaler verschwunden sind?

Krause: Man könnte natürlich jetzt spekulieren und sagen: Der Neandertaler ist nicht ausgestorben, sondern er lebt in uns weiter, das heißt, wenn zwei bis vier Prozent unserer DNA vom Neandertaler stammen, ist ja noch ein bisschen Neandertaler da, das heißt, die kleine, eventuell kleine Population der Neandertaler ist in unsere große Population der modernen Menschen eventuell absorbiert worden. Das wäre eine Theorie. Was ein bisschen gegen diese Theorie spricht, ist die Tatsache, dass wir keine Hinweise darauf finden, dass es in Europa – wo ja moderner Mensch und Neandertaler lange koexistiert haben –, dass es dort Vermischung gegeben hat. Sonst wären nämlich die Europäer näher mit dem Neandertaler verwandt als zum Beispiel eine Person aus China oder Papua-Neuguinea. Aber hier finden wir keine Hinweise, dass es dort zur Vermischung gekommen ist. Das heißt: Hier sieht es schon so aus, als ob der Neandertaler verdrängt wurde, eventuell war der moderne Mensch erfolgreicher, seine Umgebung auszubeuten, vielleicht war die Population des modernen Menschen viel größer als die vom Neandertaler. Der Neandertaler war ein sehr speziell angepasster Urmensch, er war ein absoluter Fleischfresser. Wir wissen auch, dass er nur in kleinen Populationen vorgekommen ist in Europa, dass heißt: Es wäre möglich, dass einfach die Konkurrenz, die der moderne Mensch dargestellt hat, so groß war, dass es dazu geführt hat, dass die kleine Population an Neandertalern ausgestorben ist.

Kassel: Könnte man das rein theoretisch irgendwann anhand des Erbgutes nachweisen? Also, können Sie sagen: Das sieht man ja am Neandertaler-Genom, das und das hatte der, was nicht so günstig war, der musste ja aussterben?

Krause: Was wir nachweisen können ist: Wir können messen: Wie groß war die Populationsgröße, wie viele Neandertaler gab es, wie groß war die Diversität? Wir haben eine kleine Untersuchung im letzten Jahr begonnen, wo wir einen Teil der DNA untersucht haben von unterschiedlichen Neandertalern aus Deutschland, aus Spanien, aus Kroatien, auch aus Russland, haben die miteinander verglichen und haben gemessen: Wie groß war die Diversität, wie viele Unterschiede gab es innerhalb der Neandertaler-Population? Und da haben wir gesehen, dass es viel geringere Diversität war, als wir sie heute im modernen Menschen finden, das heißt, die Populationsgröße der Neandertaler war wahrscheinlich relativ klein. Wir haben gemessen: Es waren wahrscheinlich nur einige 1000 weibliche Neandertaler – weiblich deshalb, weil wir uns die weibliche DNA der Mitochondrien angeschaut haben. Das heißt, es gab nicht viele Neandertaler, und das kann natürlich ein Grund für das Aussterben des Neandertalers sein: Wenn die Population klein ist und es kommt zum Beispiel ein Nahrungskonkurrent wie der moderne Mensch, kann das natürlich dazu führen, dass die Population weiter schrumpft und am Ende verschwindet.

Kassel: Im Deutschlandradio Kultur reden wir heute Vormittag mit Johannes Krause, er war Teil des internationalen Forscherteams, das nachgewiesen hat, dass es Übereinstimmungen gibt zwischen dem Genom des Neandertalers und dem der modernen Menschen. Das klingt jetzt so lässig: Sie haben das nachgewiesen. Ich persönlich wüsste ja gar nicht, wenn ich jetzt mal so ein bisschen Genom vom Neandertaler bräuchte, wo ich das herbekomme. Selbst Ebay gibt ja auf, wenn man so was fragt. Jetzt mal ganz im Ernst, Sie haben das erwähnt, die Kroatien-Quelle: Wie kommt man denn überhaupt an Material, aus dem man dieses Erbgut dann extrahieren kann?

Krause: Also, das einzige organische Material, was wir vom Neandertaler übrig haben, aus dem wir quasi die DNA extrahieren können, das sind Knochen, das heißt, es gibt jede Menge Neandertaler-Skelette, in Europa mehr als 300 unterschiedliche Neandertaler, und aus diesen Neandertaler-Knochen kann man auch DNA gewinnen. Das heißt, über die vielen 1000 Jahre ist ein kleines bisschen dieser DNA übriggeblieben und das kann man aus dem Knochen herausextrahieren, das heißt, man löst den Knochen auf, man muss eine Probe entnehmen – das ist natürlich destruktiv, aber diese Proben sind häufig sehr klein, vielleicht nur 20, 30, 40 Milligramm, das heißt, eine kleine Menge, nicht mal fingerkuppengroß. Und diese DNA löst man auf und sequenziert sie am Ende, das heißt: Ähnlich wie man es auch bei menschlicher DNA macht für Untersuchungen vom menschlichen Genom wird auch hier die DNA in großen Sequenziermaschinen dann sequenziert, die DNA-Sequenz bestimmt, und am Ende bauen wir aus den vielen kleinen DNA-Fragmenten, die wir aus dem Knochen bekommen haben, dann ein ganzes Genom zusammen.

Kassel: Ich glaube, in dem Fall geht es um Neandertaler, die vor etwa 60.000 Jahren gelebt haben. Wenn das Rohmaterial, also der Knochen, schlichtweg so lange in der Höhle rumliegt – kommt es nicht zu enormen Verunreinigungen?

Krause: Es kommt zu zweierlei Verunreinigungen. Eine Verunreinigung ist die Tatsache, dass am Knochen und auch im Knochen jede Menge Mikroorganismen leben. Diese Mikroorganismen – Pilze, Bakterien – hinterlassen auch ihre DNA am Knochen oder im Knochen, das heißt, bei einigen dieser Knochen – beispielsweise die spanischen Neandertalerknochen – da sind 99,9 Prozent der DNA, die wir aus dem Knochen herausbekommen, nicht vom Neandertaler, sondern von Mikroorganismen. Das ist natürlich ein großes Problem für uns, das stellt für uns ja dann im gewissen Sinne Schrott-DNA dar, an der wir nicht interessiert sind. Die müssen wir quasi herausfiltern und müssen nur unsere DNA-Fragmente des Neandertalers zusammenbauen.

Ein weiteres Problem stellt die Kontamination mit menschlicher DNA dar. Wenn Sie den Knochen anfassen aus einer solchen Höhle, dann hinterlassen Sie mehr DNA am Knochen, an der Oberfläche des Knochens, als sich im Knochen befindet. Das heißt: Kontamination mit menschlicher DNA stellt ein sehr großes Problem dar. Das Problem ist außerdem sehr groß, weil sich natürlich Mensch und Neandertaler sehr, sehr ähnlich sind in der DNA. Man erwartet ungefähr einen Unterschied in 500 Basenpaaren. Unsere Fragmente sind im Durchschnitt aber nur 50 Basenpaare, das heißt, wir könnten für die meisten Fragmente gar nicht sagen: Stammen die jetzt vom modernen Menschen oder stammen die vom Neandertaler? Deshalb müssen wir ganz viele unterschiedliche Untersuchungen durchführen, bevor wir die Knochen dann sequenzieren, um sicherzustellen, dass in diesen Knochen oder in der DNA aus diesem Knochen keine menschliche Kontamination zu finden ist.

Kassel: Zum Schluss: Wenn ich ab heute jetzt behaupte, der moderne Mensch, wie er hier mit drei Beispielen gerade im Studio sitzt – Christine Watti ist natürlich noch da, die hört man gerade nicht –, stammt vom Neandertaler ab: Ist das wissenschaftlich korrekt oder doch ein bisschen unsauber formuliert?

Krause: Vielleicht ein wenig unsauber. Man müsste dazu sagen, dass er zu ein bis vier Prozent vom Neandertaler abstammt, das heißt zu 96 Prozent sind wir immer noch Afrikaner, zu 96 Prozent sind wir immer noch der frühe moderne Mensch, der aus Afrika vor 40.000 Jahren ausgewandert ist. Aber zu ein bis vier Prozent sind wir auch Neandertaler.

Kassel: Das ist als Ergebnis – auch wenn es jetzt viele Wissenschaftler gibt, die sagen, das habe ich doch eigentlich schon immer gewusst – eine ziemliche Sensation und dieses Ergebnis verdanken wir einem internationalen Forscherteam rund um Svante Pääbo vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Zu diesem Team gehört auch Johannes Krause, der extra heute Vormittag bei uns im Studio war. Ich danke sehr, dass Sie zu uns gekommen sind.

Krause: Bitte schön!