"Unsere Auffassung vom Menschen und der Welt ist falsch"

Moderation: Holger Hettinger · 17.10.2005
Vor 50 Jahren warnten Bertrand Russell und Albert Einstein in einem gemeinsamen Manifest vor den Folgen des Einsatzes von Nuklearwaffen. Nun hat eine Gruppe von Wissenschaftlern unter dem Titel "We have to learn to think in a new way" das Potsdamer Manifest 2005 vorgelegt und zeigt damit Ansätze zur Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auf.
Hettinger: "We have to learn to think in a new way"- Wir müssen lernen, auf neuen Wegen zu denken, in neuen Wegen zu denken, das steht über dem Potsdamer Manifest 2005, einer Schrift, die eine Gruppe von Wissenschaftlern verfasst hat. Der Inhalt mit Theorien, mit Lösungsansätzen aus der Welt der Physik soll hier den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts unter dem Rubrum der Globalisierung begegnet werden. Einer der Mitautoren dieses Potsdamer Manifestes ist Professor Hans Peter Dürr, ein Physiker, lange Jahre am Heisenberg Institut in München tätig, Mitglied des Club of Rome.

Herr Professor Dürr, Potsdamer Manifest 2005, da denkt man natürlich an das Russell-Einstein-Manifest von 1955, zehn Jahre nach den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki und mit der traurigen Gewissheit, dass auch die Wasserstoffbombe ein furchtbares Vernichtungsinstrument sein wird. Haben sich diese Wissenschaftler entschlossen, aus ihrer wissenschaftlichen Position gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen? Nun ist doch die Ausgangslage im Jahr 2005 in der unüberschaubaren Lage der Globalisierung und der vielfältigen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Herausforderungen eine ganz andere.

Dürr: Ja, die Aufgabe war nun: 50 Jahre später, was hätten Russell und Einstein und die Leute, die damals Mitverfasser dieser Schrift waren, heute zu der Situation gesagt? Und dieser Auftrag ist an mich herangetragen worden von den Physikern, insbesondere den Physikern der Vereinigung deutscher Wissenschaftler, wo ich ja auch mit im Vorstand bin. Wir wollen eine Neuformulierung des Russell-Einstein-Manifestes schreiben. Und ich hatte den Eindruck, das ist unmöglich zu machen, weil die Problemstellung war damals konzentriert auf die Möglichkeit der Massenvernichtungswaffen, Nuklearbomben, und das war noch isoliert, weil nur die Amerikaner es hatten. Und da konnte man noch sehen, da gibt es Auswege, das zu neutralisieren, indem man die UNO fragt, darüber zu verfügen und so fort.

Und heute haben wir eine irre Menge von Problemen, die genau daraus hervorgegangen sind, dass wir nicht gefolgt sind, diesem Weg, den damals Einstein und Russell vorgeschlagen haben. Wir haben eine Menge von Problemen nicht nur mit Massenvernichtungswaffen, wir haben Probleme mit diesen Machtzusammenballungen in der Welt, über diese strukturelle Gewalt, die vom Wirtschaftsgeschehen ausgeht, die zu ungeheuren Ungerechtigkeiten führen und die Zerstörung unserer Biosphäre, die unsere natürliche Lebensgrundlage ist.

Was soll man denn schreiben? Das kann nicht ein Manifest sein, das ja nur war "Ja, wir müssen was machen. Entweder wir überleben, oder der Krieg überlebt", eines vom beiden geht. Und jetzt müssen wir eigentlich praktische Vorschläge machen. Wir können nicht sagen, "noch schlimmer, noch schlimmer", ja, das kann eigentlich kein Manifest werden. Und deshalb sind wir es anders angegangen. Wir haben gesagt, wir wollen nicht die Symptome und Syndrome sehen, die ja Massenvernichtungswaffen sind, Machtzusammenballung und all das, sondern was steht eigentlich im Hintergrund? Wir steigen ein bei den eigentlichen Ursachen, das heißt, die Aufforderung, "Wir müssen lernen auf neue Weise zu denken", wirklich ernst nehmen.

Für mich ist es ganz klar, dass wir in einer geistigen Krise sind und nicht nur, dass wir hier etwas falsch machen. Unsere Auffassung vom Menschen und der Welt ist falsch. Wir müssen raus aus dem mechanistischem, materialistischen Denken, weil das ist die Ursache.

Hettinger: An wen wenden Sie sich denn in Zeiten einer ausdifferenzierten Öffentlichkeit? Russell und Einstein hatten ihre ganz klaren Empfänger.

Dürr: Wir wenden uns eigentlich an die große Öffentlichkeit. Das erste, was wir sagen müssen: Glaubt nicht daran, wenn man euch sagt, es gibt keine Alternative. Die Zukunft ist offen und sie kann von euch gestaltet werden und ihr seid kreativ. Wartet nicht, bis die Zukunft diese Probleme löst, sondern nehmt sie selbst in die Hand. Es ist wichtig, dass ihr Visionen habt, es ist wichtig, dass ihr Träume habt. Das ist ein Vorstadium, die Welt in diese Richtung zu drängen. Und was ihr macht, das macht dann selber und lasst es euch einfallen. Es gibt nicht nur eine Lösung. Es gibt unendlich viele Lösungen. All diese verschiedenen Arten, Spezies auf der Welt, Millionen von Arten, sind geglückte Lösungen auf die Frage, "Wie geht es weiter?"

Wir sagen nur: Wir bestehen darauf, dass wir ein Spielfeld bereithalten, auf denen diese Spiele notwendig sind. Wenn jemand anfängt, das zu kippen, dann sagen wir: Das ist die eigentliche Gefahr. Was, wenn das Spielfeld dann eben ist, welche Spiele ihr spielt, das ist eure Aufgabe.

Jede Kultur hat ein Recht, seinen eigenen Weg zu finden. Wenn wir Demokratie auf diese Weise verstehen, ist es nicht die Lösung für alle. Jeder muss das selber finden. Und das heißt immer, dass wenn ihr euch differenziert habt, ihr müsst einen Modus finden der Zusammenarbeit, und das heißt Kooperation von allen Kräften. Und das ist eigentlich die Grundforderung der Demokratie.

Ob wir das nun mit Wahlen machen, wo wir dauernd Leute wählen, die wir gar nicht haben wollen, sondern nur die uns jemand auf dem Tablett entgegen bringt. Das ist ja noch nicht, was Demokratie heißt, sondern dass wir unseren eigenen Einsichten eine Möglichkeit geben, es deutlich zu machen. Und dafür gibt es heute hunderttausende von Gruppen, die an diesen speziellen Problemen arbeiten. Und denen möchte ich sagen, ihr seid auf dem richtigen Weg. Und wenn jemand kommt, ein Wissenschaftler, und sagt "Es gibt keine Alternativen, weil es starre Gesetze sind", dann sage ich: Schickt sie zum Teufel, die haben ihre eigene Wissenschaft nicht verstanden.

Hettinger: Klingt nach einem Appell an das Verantwortungsbewusstsein, aber auch die Möglichkeiten des Einzelnen. Nun hat man ja in unserer Zeit eher das gegenteilige Gefühl, dass diejenigen, die aktiv ins Räderwerk eingreifen, eingreifen können, immer ferner, immer abstrakter, immer weniger greifbar werden.

Dürr: Das ist richtig und das liegt einfach daran, was sind denn die Leistungsträger heute? Dass sind diejenigen, die wissen, wo diese Lawinenfelder sind, in die man nur reinlaufen muss und dann löst man Lawinen aus und dann geht eine Riesenlawine den Berg runter und dann sagt man, "Doll, mit einem Schritt soviel in Bewegung gesetzt, das Bruttosozialprodukt geht hoch", weil das unterscheidet ja gar nicht, ob die Lawine runter geht oder hochgetragen wird, Hauptsache er bewegt sie, ja, das ist doch unsere Ausrichtung. Alle laufen in Lawinenfelder rein, weil sie mit kleinen Tritten etwas auslösen wollen.

Aber es ist genau so: Das Lebendige voran zu bringen, ist genau die Gegenrichtung. Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst. Und der Grund, warum wir hier sind, ist wegen dem wachsendem Wald und nicht mit den fallenden Bäumen, die in unseren Geschichtsbüchern stehen. Das sind diese Heroen, die großartige Dinge gemacht haben, alles zerstört haben, was immer nur abwärts war. Aber die spielen historisch auf lange Sicht keine Rolle. Es ist der wachsende Wald, auf den wir angewiesen sind, und das sind auch hauptsächlich unsere Frauen, die das gemacht haben, die nicht einmal Geschichtsbücher schreiben konnten über ihre Großtaten. Das muss man deutlich machen.

Sich mit dem Lebendigen zu identifizieren heißt, geduldig zu sein. Auf den Berg raufzusteigen ist schon möglich, aber nur in Kooperation mit irgendetwas, mit dem Fels und so fort und es dauert langsam, es gibt keine Schlagzeilen. Wenn ich runterfalle, dann habe ich eine Schlagzeile. Aber das ist genau das, was die Natur sowieso kann. Da braucht sie den Menschen nicht dazu.

Hettinger: Müssen wir unser Leben anders deuten oder müssen wir es anders in die Hand nehmen?

Dürr: Wir müssen es anders deuten, wir müssen insbesondere den jungen Menschen sagen, und wenn man Kinder hat, sieht man, was angelegt ist, da sind enorme kreative Fähigkeiten da. Die wollen etwas Neues machen, etwas Neues austüfteln. Wir müssen das voranbringen, aber dann müssen wir sagen, wenn du dann ein gutes Eigenbewusstsein hast, dass du das auch selbst in den Griff bekommst, dann nutze das nicht aus, dich an den anderen vorbei, sozusagen in die Höhe zu bringen. Das nützt dir gar nichts, sondern siehe es als ein Geschenk, dass du mit dieser Entwicklung der Allgemeinheit den größten Nutzen bringen kannst, dass du etwas kannst, was die anderen nicht können, und darin eigentlich dein Ziel siehst und nicht gegen den Anderen.

Hettinger: Wie beurteilen Sie die gesellschaftliche Wirkweise dieses Potsdamer Manifestes? Ist es ein Alarmruf einer Alarmglocke ähnlich wie es das Russell-Einstein-Manifest vor 50 Jahren war?

Dürr: Nein, es ist kein Alarmruf, sondern der Alarmruf ist ausgestoßen und wir geben euch Handwerkszeug an die Hand, wie man da raus kommt, dass wir eine andere Auffassung von Mensch und Natur brauchen. Und dann werdet ihr sehen, dass wir da raus kommen. Wir haben unendlich viele Möglichkeiten. Es muss uns nur bewusst werden. Aber das bedeutet auch, dass wir in der westlichen Gesellschaft, obwohl wir sie für die freieste halten, auch die schlechtesten Voraussetzungen haben, weil man uns einschüchtert und verängstigt und damit, wenn jemand Angst hat, seine kreative Quelle eben nicht erreichen kann.

Nur wenn man die Angst verliert, hat man die Courage überhaupt etwas Neues zu machen. Aber wir haben ein Verhalten hier, durch die Medien ja auch, dass wir die Leute so einschüchtern, dass sie sagen, Sicherheit ist für uns wichtiger als etwas Neues zu machen. Und das ist meines Erachtens mit ein Grund, warum wir keine Demokratie haben. Eine verängstigte Demokratie bedeutet eigentlich wieder ein Totalitarismus, dass wenige sagen, mach nur, mach nur.

Und deshalb bin ich auch glücklich darüber, dass die jungen Leute jetzt anspringen, weil die sagen, wir haben doch Ideen, wir haben doch Gedanken, wir haben uns noch nicht so verdummen lassen durch dieses ewige Konsumverhalten, kauf das und jenes und das ist das Wichtigste. Jetzt kommen wir endlich an die Sachen hin, für die wir uns eigentlich auch stark genug fühlen.

Hettinger: Professor Hans Peter Dürr war das über das Potsdamer Manifest 2005. Er ist einer der Autoren dieses Papiers: "We have to learn to think in a new way".