Unser Fleischkonsum ist nicht zu rechtfertigen

Von Hilal Sezgin · 13.11.2012
Bei der Messe "euroTier 2012" in Hannover werden neue Methoden für Zucht, Fütterung, Haltung und Gesundheit von Tieren vorgestellt. Das Tierwohl hat die Agrarindustrie aber nicht im Blick, meint Hilal Sezgin. Kein Wunder: Den Bedarf der Konsumenten könnten sie sonst nicht decken.
Manchmal weiß man gar nicht: Meinen die das jetzt noch ernst, oder ist das schon Realsatire? Die Welten liegen so weit auseinander ... Da verspricht der eine Wellness, der andere sieht: Albtraum! In meiner Welt zum Beispiel denkt man bei Wellness an Dampfbäder, erhitzte Steine auf dem Rücken, dazu Yin-und-Yang-Musik.

Schweinezüchter hingegen meinen mit Wellness etwas ganz Anderes. Weil aber in verschiedenen Welten verschiedene Sprachen gesprochen werden, muss man zunächst einmal übersetzen: "Abferkeln" heißt: Ferkel zur Welt bringen. Der "Abferkelstall" ist der Stall, in dem Ferkel die ersten Lebenswochen an der Mutter saugen.

Allerdings kann sich ihre Mutter weder bei der Geburt nach ihnen umdrehen noch ihnen ein Ferkelnest bauen, wie es ihr der Instinkt eingibt. Genau genommen kann sie überhaupt nichts als fressen, scheißen und liegen; denn eine säugende Sau wird so fixiert, dass nicht einmal eine Drehung um die eigene Achse möglich ist.

Im Abferkelstall sind "Ferkelschutzkörbe" Standard; und so ein "Ferkelschutzkorb" ist nicht etwas Feines und Gemütliches für die Ferkel, sondern ein Metallgitter, das ihre Mutter bewegungsunfähig macht und sie daran hindert, sich versehentlich auf ihre Ferkel zu legen.

Das kann Leben retten! "Leben retten" heißt in der Sprache der Schweinezüchter, dass die Ferkel vor der Mutter geschützt werden, damit sie schnell wachsen und wohlbehalten geschlachtet werden können.

Die heutige Landwirtschaft ist voller Euphemismen. Eigentlich sollte man bei dieser Tierhaltung auch gar nicht mehr von Landwirtschaft sprechen, sondern von Agrarindustrie. Es ist eine Industrie, die Leben zurechtstutzt, bis es in die Fabriken passt. Ich nenne sie daher: eine Frankenstein-Industrie. Denn in den Labors verschiedener Firmen mischen Veterinärmediziner und Biologen die Gene, bis es kracht. Zum Beispiel will man immer mehr Ferkel; die Wurfgröße ließ sich von etwa einem Dutzend auf bis zu zwanzig Ferkel raufzüchten.

Problem: So eine Sau hat aber nur 14 Zitzen! Auch das lässt sich ändern: Es gibt inzwischen Züchtungen mit 16 Zitzen. Nächstes Problem: Mit endlos vielen Ferkel klappt die Milchversorgung nicht. Ferkelzahl also doch wieder runterzüchten?

Kleiner Sprung zur Hühnerhaltung: Jeder kennt die Bilder von fast federlosen, lädierten Hühnern; die frustrierten, aggressiven, eingesperrten Vögel rupfen einander die Federn aus - ein Problem. Und die Lösung: Man erwägt, blinde Hühner zu züchten. Blinde Hühner können ja die Federn der anderen nicht sehen, ergo nicht ausrupfen. Andere Idee: nackte Hühner. Da ist von vornherein nichts zum Rupfen! Ja, so pfiffig ist die Frankenstein-Wissenschaft.

Und wir Konsumenten finanzieren sie kräftig mit. Wir sprechen gern von Massentierhaltung, als sei das ein zwar bedauerliches, aber vermeidbares Übel. Es ist nicht vermeidbar. Nicht, wenn wir darauf bestehen, in Deutschland jedes Jahr 60 Millionen Schweine und 700 Millionen Hühner zu schlachten und zu essen. 700 Millionen - kann sich jemand diese Menge vorstellen? Wenn die glücklich und frei leben sollen - WO sollen die denn leben?

Und alles, was wir an Verbesserungen diskutieren - das ist doch nur Kosmetik. Wir feilschen um Zentimeter, um Spaltenbreiten, um Luftvolumen und Ammoniakhöchstwerte ...

Auf der Messe Eurotier werden sogar Abferkelboxen vorgestellt, wo der Kopf der Sau draußen im Freien liegt, weil Ferkel es warm brauchen, Sauen es aber gerne kühl haben. Ist eine Sau mit solch einer Klimabox etwa ein zufriedenes Schwein? Sind Sauen keine Säugetiermütter, die ihre Kinder auch einmal SEHEN, sie reinigen, sie zärtlich ablecken wollen?

Nein, unser heutiger Fleischkonsum ist einfach nicht zu rechtfertigen, denn wir nehmen den Tieren gleich zwei Mal das Leben. Einmal, indem wir sie schlachten, und dann: weil sie schon vor dem Tod nur dahinvegetieren. Das ist nicht Wellness. Das ist auch nicht "artgerecht". Das ist nicht mal Leben.

Hilal Sezgin, geboren 1970, studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete danach mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Jetzt lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Sie schreibt u.a. für DIE ZEIT sowie als Kolumnistin für die Meinungsseite der taz, das Feuilleton der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung. In Buchform erschienen zuletzt ihr Bericht "Landleben. Von einer, die raus zog" (DuMont Buchverlag 2011) sowie der Sammelband "Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu".
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Hilal Sezgin© privat
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