"Uns sind die Ideen ausgegangen"

Günther Ginzel im Gespräch mit Kathrin Heise · 12.03.2012
Wie der Publizist und Historiker Günther Ginzel sagt, hat die "Woche der Brüderlichkeit" in den vergangenen 20 Jahren den Kontakt zur mittleren und jungen Generation verloren. Einmal im Jahr auf den christlich-jüdischen Dialog aufmerksam zu machen, sei zu wenig.
Kathrin Heise: "In Verantwortung für den anderen", so lautet das Motto der diesjährigen "Woche der Brüderlichkeit", die heute beginnt. Seit 60 Jahren findet im März diese Woche des christlich-jüdischen Dialogs statt. Organisiert werden die Veranstaltungen von den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit beziehungsweise vom Dachverband Deutscher Koordinierungsrat. 1952: Ganz unter dem Eindruck des Holocausts stellte man ganz zaghaft beispielsweise die Frage, was die Religion, das Christentum, dazu beigetragen hat, Antisemitismus entstehen zu lassen. Es galt eben, die andere Religion, die Gemeinsamkeiten zu entdecken. Eine solche Veranstaltung hat heutzutage mit dem Problem zu kämpfen, dass sich die junge Generation kaum noch für einen religiösen Dialog interessiert. Der Journalist und Historiker Günther Ginzel engagiert sich in zahlreichen Gremien und Organisationen für christlich-jüdisches Zusammentreffen, und er war jahrelang Mitglied im für die Woche der Brüderlichkeit verantwortlichen Bundesvorstand des Deutschen Koordinierungsrates. Ich grüße Sie, Herr Ginzel!

Günther Ginzel: Guten Morgen!

Heise: Ist die Woche der Brüderlichkeit noch geeignet, junge Leute in den religiösen Dialog zu führen?

Ginzel: Junge Leute – nein. Es ist eine Veranstaltung, die einmal im Jahr überhaupt auf den Dialog aufmerksam macht, auch durch den Preisträger, auch aufgrund der moralisch gewachsenen Zusammenarbeit mit den Fernsehanstalten. Es gibt von daher eine gewisse Aufmerksamkeit, es ist ein Sich-Selbst-Feiern, es ist vor allem auch die Möglichkeit, noch einmal die politische Prominenz, manchmal auch die kirchliche Prominenz zu vereinen. Das alles, finde ich, ist legitim, es ist eben nur nicht zukunftsträchtig, und es wirbt nicht unter Jüngeren und übrigens auch nicht unter der mittleren Generation. Wir haben beide Generationen in den letzten 20 Jahren verloren.

Heise: Es ist legitim. Ist es dann also genug, was sich die Woche der Brüderlichkeit quasi zum Ziel setzt, oder hat man das andere Ziel, mit der mittleren und jüngeren Generation in Kontakt zu kommen, gar nicht aus den Augen verloren, bloß bisher noch nicht den Weg wieder gefunden?

Ginzel: Ich denke mir, das ist eine Mischung. Wir müssen ja sehen, dass in den meisten, oder sagen wir in vielen Gesellschaften diejenigen in den Vorständen sitzen, die das auch schon vor 30 Jahren getan haben. Der Dialog hat ja unendlich viel Positives bewirkt. Sie haben das ja schon angedeutet: Das war am Anfang das christliche Entsetzen über die Tatsache, dass Auschwitz nur möglich war vor dem Hintergrund eines eineinhalb Jahrtausende währenden christlichen Antisemitismus‘ und Judenhasses, worauf sich die Nationalsozialisten auch immer berufen haben. Es war das Erschrecken auch derer, die gegen die Nazis waren, über ihr Schweigen, über das Ausbleiben von Solidarität mit den Verfolgten, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Und ein Letztes: Es war das Erschrecken, in welchem Ausmaß der Nationalsozialismus besonders im evangelischen Bereich, aber auch in entscheidenden Berufsgruppen wie Lehrer, Mediziner, Juristen begrüßt und mitgetragen wurde. Dass etwa eine Euthanasie, also die Ermordung des ‚lebensunwerten‘ Lebens so lange weiterging, bis nach der Kapitulation, man will es ja nicht glauben. So. Und da gab es jetzt nicht wenige – man sprach dann von den zornigen alten Männern und Frauen – etwa Gollwitzer, Scharf und anderen, die gesagt haben: Jetzt müssen wir Selbstkritik üben, wir müssen in uns gehen, wir müssen überlegen: Was können wir ändern?

Heise: Es geht auch heutzutage, ich meine, der existierende Antisemitismus, darüber müssen wir ja gar nicht lange diskutieren, Fremdenfeindlichkeit, vorhandene Vorurteile – also es gälte ja auch heute noch einiges miteinander zu bearbeiten.

Ginzel: Dringend!

Heise: Aber man hat immer den Eindruck, es geht ja sowieso eigentlich eher um gesellschaftliche, um politische Fragen – vielleicht reicht das ja auch? Oder ist ein religiöser Dialog wirklich noch notwendig?

Ginzel: Nein, das reicht nicht. Im Grunde genommen reicht es auch nicht, das Interesse am religiösen Dialog ist ja nicht mehr so ausgeprägt. Vielleicht erleben wir demnächst eine Renaissance, weil viele ja auf der Suche nach einer neuen Identität sind. Aber die Gesellschaften haben sozusagen den Anschluss verpasst, was ist relevant, etwa gerade unter Jugendlichen. Welche Formen muss man entwickeln, um mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten? Die müssen ja nicht unbedingt Mitglied in einem Verein werden, sondern mit Jugendlichen, das wissen wir auch von anderen Organisationen, die sind zum Engagement bereit, aber das ist projektgebunden. Sie wollen nicht –

Heise: Sie sind auch zum religiösen Austausch bereit, man siehe nur die Kirchentage.

Ginzel: Oh ja! Man sieht auf den Kirchentagen, man sieht die nach wie vor mit größtem Erfolg laufenden Schüleraustauschprogramme zwischen Deutschland und Israel. Was ganz besonders für die neuen Bundesländer wichtig gewesen ist. Da bereitet man sich mit größtem Engagement vor, das heißt, mir fehlt sozusagen der Umschwung in das Politisch-gesellschaftliche. Es reicht nicht, von religiösen Idealen bei frommer Bibelarbeit zu diskutieren und zum fünfhundertsten Mal über Jesus den Juden zu reden, sondern man muss überlegen: Was hat das für Konsequenzen für jetzt? Und das bedeutet: Wir sind in einer Gesellschaft mit Millionen Migranten, mit Menschen, die nicht wissen, wo es lang geht. Wir, als Juden, als Angehörige einer Minderheit, die das gewohnt sind, wir könnten hier mithelfen, den Weg aufzusuchen. Die christlich-jüdischen Gesellschaften könnten ein Sammelbecken sein für all jene, die nach Identität suchen und die nicht mit Nationalismus füllen wollen. Wie weit geht eine Identität als Moslem, als Christ, als Jude, wo hört sie auf, wie weit bin ich Teil einer Gesamtgesellschaft – hier ist viel Werbearbeit zu machen, und vor allen Dingen die Lehrerfortbildung ist auf diesem Sektor mehr oder weniger zusammengebrochen. Das ist verheerend.

Heise: Da weisen Sie, Herr Ginzel, auf etwas hin, jetzt im Zusammenhang mit der Woche der Brüderlichkeit, auf das der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik, neulich hier angesprochen auf die Woche der Brüderlichkeit im Deutschland Radio Kultur, Folgendes sagte:

Brumlik: Ich hoffe natürlich, dass sich das revitalisieren wird. Es steht auf der Tagesordnung, dass hier ein Dialog zwischen drei Religionen, drei monotheistischen Religionen zu führen ist, der sogenannte Trialog zwischen Judentum, Christentum und Islam. Das ist im Grundsatz auch gut und richtig, obwohl die Beziehungen jeweils zwischen zwei dieser Religionen bei Weitem noch nicht genügend aufgearbeitet ist, obwohl es schon 60 Jahre christlich-jüdischen Dialog gibt, sind weiß Gott noch nicht alle Fragen beantwortet. Der jüdisch-muslimische Dialog steckt noch ganz in den Anfängen und der christlich-islamische Dialog ist zum Teil immer noch durch große Fremdheit und Distanz gekennzeichnet.

Heise: Das sagte der Publizist und Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik im Deutschlandradio Kultur. Herr Ginzel, da spricht er Ihnen ja eigentlich aus dem Herzen. Sie sagten auch, diese Weiterung auf einen Trialog sei zeitgemäßer in der Woche der Brüderlichkeit?

Ginzel: Nicht nur in der Woche der Brüderlichkeit. Das Entscheidende ist ja, dass das eine kontinuierliche Arbeit sein muss. Diese kleinen Flechtdinge, die man zur Woche der Brüderlichkeit machen kann, die halte ich durchaus für legitim, um einfach der Öffentlichkeit zu sagen: Hallo Leute, wir sind überhaupt noch da. Der christlich-jüdische Dialog hat bewiesen, dass das Miteinandersprechen von Menschen Sinn macht. Zwischen den Kindern der Opfer und den Kindern der Täter, wie man das so plakativ ausgedrückt hat, ist ein Gespräch zustande gekommen, das etwas verändert hat, in Gesellschaft, in Erziehung und in den Kirchen. Und das ist ein Beispiel dafür, dass wir das fortsetzen müssen. Wir haben die Luft verloren, uns sind die Ideen ausgegangen, wir haben keinen Kontakt zur muslimischen Basis. Es ist heute ein Gespräch der Funktionäre. Es trifft sich der Zentralrat, es trifft sich der Islamrat, es trifft sich der Minister – aber 80 Prozent aller Beteiligten sind damit nicht involviert. Mit wem reden wir, wenn wir mit dem Islam reden? Wir nehmen die Entwicklung des Pluralismus nicht mehr zur Kenntnis. Dass die jüdische Welt in Deutschland sich dramatisch verändert hat zu den Anfängen – heute ist es wieder eine etablierte Gemeinschaft mit 200.000 Mitgliedern beinahe. Es gibt Pluralismus. Es gibt liberale, konservative, orthodoxe Gruppierungen –

Heise: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Ginzel, ist das alles ja überhaupt gar nicht auf diese eine Woche reduzierbar. Es geht um das ganze Jahr, um jeden Tag, um das tägliche Miteinander. Hat sich die Woche der Brüderlichkeit so ein bisschen überlebt und quasi, ist sie nicht nur nicht mehr zeitgemäß, sondern erreicht auch tatsächlich nur noch die Falschen und ist damit eigentlich überflüssig?

Ginzel: Nein. Sie ist eine sich selbst Mut machende Veranstaltung. Man kommt zusammen und feiert sich. Und ich sage noch einmal: Ich finde es legitim. Es darf sich nicht darin erschöpfen, und das ist ja das ganz große Problem. Wenn anschließend die betagten Vorsitzenden in ihre 60, 70 Gesellschaften zurückfahren, dann nehmen sie nichts mit. Wir haben das gleiche Phänomen, und Sie wissen, dass ich ein Mitorganisator bin von Kirchentagen und Katholikentagen, wir haben das gleiche Phänomen dort auch. Wir erleben enorm viele Jugendliche, hochinteressiert, hochsensibel, fortschrittlich, offen, selbstkritisch, wunderbar. Wir erleben es nicht, dass sie all das mit in ihre Heimatgemeinden nehmen, umsetzen, wenigstens nicht in dem Ausmaß, wie es wünschenswert ist. Und dasselbe Problem haben wir mit der Woche der Brüderlichkeit. Sie müsste nicht mit einer mehr oder weniger tradierten, langweiligen Festveranstaltung einen Prominenten ehren, sondern sie müsste mit einer Fülle von Veranstaltungen koordiniert, auch auf Bundesebene, dann im Endeffekt deutlich machen: Hier ist was Wichtiges, und daran wollen wir jetzt intensiv arbeiten. Und ‚arbeiten‘ bedeutet nicht nur, das sage ich noch einmal, Vorträge organisieren, Netzwerke aufbauen. Nirgendwo ist eine christlich-jüdische Gesellschaft in einem Anti-Rechtsextremismus-Netzwerk. Sie müssten hier die Federführung haben. Wir haben so viele Themenfelder, gerade was jetzt eben den Rechtsextremismus anbelangt, was die Frage nach der Suche nach einer deutschen Identität anbelangt. Was die Frage des Gedenkens anbelangt. Wir tun so, als wären wir immer noch vor 30, 40 Jahren. Wir haben neue Generationen. Gedenken und Erinnerung ist für einen 14-, 16-jährigen heute ein gänzlich anderes Thema als für die 70- und 80-jährigen.

Heise: Die Formen, die Jugend tatsächlich nachhaltig zum religiösen Dialog oder auch Trialog zu bewegen, sind also noch nicht gefunden. Günther Ginzel, Journalist und Historiker, seit Jahren engagiert auf dem Gebiet christlich-jüdischer Zusammenarbeit. Herr Ginzel, vielen Dank für dieses Gespräch!

Ginzel: Danke auch!

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