Unruhen in der Banlieue

Frankreich diskutiert eine "Polizei der Nähe"

Zwei Schülerinnen am Alfred Nobel Gymnasium im Pariser Vorort Clichy Sous Bois. 2009. Zwei Silhouetten vor einem hohen Zaun, im Hintergrund ein runtergekommener Plattenbau.
Zwei Schülerinnen am Alfred Nobel Gymnasium im Pariser Vorort Clichy Sous Bois. © imago /ecomedia / Robert Fishman
Von Jürgen König · 15.02.2017
Es ist ein gefährliche Mischung aus Hoffnungslosigkeit, Ausgrenzung und Wut auf das System, die sich in den Hochhäusern der französischen Vorstädte aufgestaut hat. Weil dort oft die Gewalt eskaliert, wird nun immer häufiger eine "Polizei der Nähe" gefordert.
Am Abend des 6. Mai 2012 hielt der soeben zum Staatspräsidenten gewählte Francois Hollande eine leidenschaftliche Rede.
"Manche haben Zeiten großer Enttäuschung erlebt. Ich bin stolz darauf, fähig gewesen zu sein, ihnen wieder Hoffnung zu geben. An diesem Abend stelle ich mir die Gefühle vor, die so viele jetzt haben – und ich teile sie: die Gefühle des Stolzes, der Würde und der Verantwortung! Der Wechsel, den ich angekündigt habe: er beginnt jetzt!"
Diesen Worten wurde besonders in den Vorstadtghettos von Paris, Lyon oder Marseille sehr aufmerksam zugehört. Denn nachdem Staatspräsident Nicolas Sarkozy zu den dortigen Problemen nicht viel mehr eingefallen war als sie "mit dem Kärcher bereinigen" zu wollen, hatte der Wahlkämpfer Francois Hollande große Versprechungen gemacht. Den muslimischen Einwandererfamilien sollte endlich ermöglicht werden, am gesellschaftlichen Leben Frankreichs teilzuhaben; den frustrierten Jugendlichen ohne Chancen auf Arbeit und Ansehen wollte Hollande neue Perspektiven bieten.

Frust in den Vororten

Tatsächlich brachte er Gesetze zur Stadtentwicklung wie zur Förderung der Chancengleichheit auf den Weg – doch dauerte dies Jahre. Die sechs Milliarden Euro für die Renovierung maroder Stadtviertel wurden für den Zeitraum von 2014 bis -24 eingeplant und zeigen jenseits einzelner Erfolgsprojekte noch keine durchschlagende Wirkung; das Gesetz gegen die "territoriale, soziale und ethnische Apartheid" wurde erst im Dezember 2016 verabschiedet. Von dreitausend versprochenen Lehrerstellen wurden nur eintausend tatsächlich geschaffen; fünftausend zusätzliche Polizisten sollte es geben - aber wann? – das wurde nicht gesagt. Gerade hier wäre Eile geboten, die Polizei und mit ihr die Justiz stehen im Zentrum der Unruhen wie der Debatten: und dass Misstrauen ist groß. Ein Jugendlicher aus Aulnay-sous-Bois im Norden von Paris:
"Wenn uns andere, rivalisierende Banden angreifen – man weiß nie, ob die Polizei einem helfen wird. Wenn ich ein Problem hätte, wenn mir jemand was tut, ich schwör‘s Ihnen, ich würde nie jemanden anzeigen! Nie! Weil ich überhaupt kein Vertrauen habe. Nein, ich würde das alles selber regeln. Ich würde auch nicht die Polizei rufen. Wenn man denen vertraut, mein kleiner Bruder hat das mal gemacht – sie haben ihn niedergeknüppelt!"

Gefährliche Gewaltspirale

Seit Jahren nehmen die Konflikte an Härte zu. Die Polizei würde immer brutaler vorgehen, klagen Einwohner; Polizisten halten dagegen, die Angriffe auf sie seien inzwischen immer öfter lebensbedrohlich, der Drogenhandel sei allgegenwärtig, eine Dauerspannung läge in der Luft.
"Steinwürfe auf die Polizeiwagen, wenn man ankommt, Molotow-Cocktails werden geschmissen; schwere Beleidigungen bei der Ausweiskontrolle - das ist der heutige Alltag von Polizisten in der Öffentlichkeit!"
Ursache der jüngsten Unruhen in den Vorstädten von Paris war die Festnahme eines 22jährigen Mannes Anfang Februar in Aulnay-sous-Bois durch vier Polizisten. Mit Schlagstöcken verletzten sie ihn schwer, alle wurden sofort vom Dienst suspendiert, gegen einen von ihnen wird wegen des Verdachts der Vergewaltigung ermittelt: er soll seinen Schlagstock in den Anus des Festgenommenen gestoßen haben. Der sozialistische Abgeordnete Malek Boutih im Sender BFM:
"Das Image unserer Polizei leidet unter den wenigen einzelnen Polizisten, die wirklich brutal sind, während die große Mehrheit von ihnen geradezu aufopferungsvoll arbeitet. Man muss zur Verantwortung des Einzelnen zurückkehren: wenn man in der Polizei der Republik arbeitet, dann weiß man, dass das kein Beruf wie alle anderen ist. Man ist dann Vertreter einer bestimmten Idee von Frankreich und der Republik- und man muss auf der Höhe dieser Ideen sein."

Neues Image für die Polizei

In der öffentlichen Diskussion über die Rolle der Polizei findet ein Gedanke große Zustimmung: der Staat möge endlich zurückkehren zu einer "Polizei der Nähe". Präsident Sarkozy hatte Tausende Polizistenstellen gestrichen, seither ist die Polizei im Straßenbild kaum noch präsent: das müsse sich ändern, fordert auch Stéphane Troussel, Ratspräsident des Departments Seine-St. Denis:
"Die Idee, wonach die Polizei nur bei Schwierigkeiten zum Schutz Einzelner gerufen wird, die wird der Realität nicht gerecht. Wir müssen zurück zu einer Polizei, die ihr Stadtviertel und seine Einwohner kennt, die weiß um die Rollen, die einzelne Jugendliche spielen, die ein Gefühl für das ganze Stadtviertel hat. Wir brauchen wieder eine ´Polizei der Nähe`."
Alle Präsidentschaftskandidaten haben Polizei- und Justizreformen angekündigt, haben auch versprochen, sich um die Vorstadtghettos zu kümmern. Doch solchen Versprechungen glauben viele Bewohner dieser Hochhausstädte schon lange nicht mehr.
Mehr zum Thema