Universeller Autounfall

05.02.2012
Wenn es den Urknall gab, was war dann davor? Brian Clegg weiß es auch nicht ganz genau, aber fährt zumindest wunderbar Karussell mit den Gedanken. Er favorisiert eine Art zyklisches Universum: Die Welt entsteht immer wieder neu, dehnt sich aus und stürzt zusammen.
Vor einigen Jahren wollte eine britische Wissenschaftsorganisation von Laien wissen, auf welche Frage sie am liebsten eine Antwort hätten. Ganz vorn lag, was vor dem Urknall gewesen ist. Für Brian Clegg war dies Anlass genug, seine Leser auf eine Reise hinter den Anfang der Zeit zu schicken, so der Untertitel. Doch die reißerische Formulierung ist eher Etikettenschwindel – und das tut dem Buch gut. Denn es geht mehr um die Reise als um den Anfang der Zeit.

Zwei Drittel des Buches sind eine wunderbare historische Darstellung der Kosmologie. Brian Clegg erklärt, wie die Menschheit immer tiefer in das Universum vorgedrungen ist, welche Mühen es gekostet hat, zu erkennen, dass das Weltall schier unendlich groß ist und voller Galaxien und rätselhafter Materie – und wie schwierig es neue Ideen stets hatten. Ein echter Leckerbissen sind die Ausführungen zu den Schöpfungsmythen verschiedener Kulturen und deren Ähnlichkeit mit heutigen Theorien. So hat man in China lange daran geglaubt, das Universum sei aus einem explodierten Ei hervorgegangen – für Brian Clegg ist das eine frühzeitige Urknalltheorie. Gleiches gilt für das biblische "Es werde Licht". Doch stets tauchen dieselben Fragen auf: Warum gab es diesen Anfang? Wer oder was hat ihn ausgelöst? Was war davor?

Diese Fragen – und etliche mehr – kann die Urknalltheorie nicht beantworten. Doch die wenigsten Astronomen nehmen heute diese Probleme wahr. Offenbar haben viele längst vergessen, dass es sich um eine Theorie handelt, dass der Kosmos vor knapp 14 Milliarden Jahren entstanden ist – und nicht um eine Tatsache. Das gilt auch für die so populäre Stringtheorie, mit der sich manche Ungereimtheiten beim Urknall beseitigen lassen, die aber bislang allein ein mathematisches Konstrukt ist.

Brian Clegg, der zu den profiliertesten englischen Wissenschaftsautoren zählt, hat zwar Naturwissenschaften studiert, ist aber kein Insider des Forschungsbetriebs, der nur die Vorzüge der Theorien sieht, nicht aber ihre vielen Nachteile. Wo uns andere Autoren vorgaukeln, die großen Fragen der Welt seien so gut wie gelöst, zeigt Brian Clegg, dass fast nichts verstanden ist. Sein klarer und gut verständlicher Text ohne allzu viele Fachausdrücke hebt sich wohltuend von den Büchern vieler prominenter Forscher ab, die für Laien meist völlig ungeeignet sind.

Dass das Universum überhaupt einen Anfang haben soll, behagt dem Autor gar nicht. Er favorisiert eine Art zyklisches Universum: Die Welt entsteht immer wieder neu, dehnt sich aus und stürzt zusammen. Er sympathisiert mit den Forschern, für die sich unser Universum durch die Kollision zweier vierdimensionaler Membranen gebildet hat, die durch einen ewigen Kosmos mit vielen weiteren Dimensionen schweben. Wir sind, so meint Brian Clegg, nicht Folge der Explosion eines kosmischen Eis, sondern eines universellen Autounfalls.

Auf der letzten Seite räumt Brian Clegg ein, dass es auf die Frage, was vor dem Urknall war, wohl niemals eine Antwort geben wird. Dann legt man das Buch zwar mit dem schalen Gefühl beiseite, etwas geleimt worden zu sein – aber dafür sind die Gedanken auf den mehr als 300 Seiten zuvor wunderbar Karussell gefahren.

Besprochen von Dirk Lorenzen

Brian Clegg: Vor dem Urknall. Eine Reise hinter den Anfang der Zeit
Aus dem Englischen von Hubert Mania
Rowohlt Verlag, Hamburg 2012
352 Seiten, 19,95 Euro