Ungewaschen, ausgetrocknet, ausgemergelt

30.10.2008
In Deutschland sind rund zwei Millionen Menschen pflegebedürftig. Doch nicht selten müssen die Betroffenen unter menschenunwürdigen Umständen leben. Die Altenpflegerin Brigitte Heinisch deckt in ihrem Buch "Satt und sauber?" die Missstände in Heimen auf und liefert eine fundierte Kritik am deutschen Pflegesystem.
Die alte Frau liegt apathisch in ihrem Bett. Wenn man sie anspricht, reagiert sie kaum. Ernährt werden muss sie über eine Magensonde - ein Mensch in diesem Zustand lebt gewöhnlich nicht mehr lange. Doch das Glück ist an ihrer Seite: Sie findet Aufnahme in einer betreuten Wohngemeinschaft für demenzkranke Menschen. Hier haben Pflegerinnen und Pfleger noch Zeit, sich der alten Frau zu widmen, sie zu fördern, ihr zuzuhören. Nach nur einem Jahr sitzt sie morgens mit am Tisch, isst eigenständig, manchmal lacht sie sogar.

So kann es aussehen, wenn Pflege gelingt - die betreute Wohngemeinschaft ist der neue Arbeitsplatz von Brigitte Heinisch, jener streitbaren Altenpflegerin, die sich vor einigen Jahren entschloss, dem Schweigen über die Missstände in Altersheimen ein Ende zu machen, vor die Gerichte zu ziehen, die Öffentlichkeit zu suchen. Sie saß vor Fernsehkameras und in Talkrunden, erhielt Preise für Zivilcourage. Nun ist im Rowohlt Verlag ihr autobiografischer Report "Satt und sauber?" erschienen. Was Brigitte Heinisch erzählt, lässt einem die Haare zu Berge stehen: Da ist der ehemalige Unternehmensleiter, der das Pflegeteam im Heim allmorgendlich mit nassen Hosen begrüßt, nicht selten hat er das ganze Bad mit seinen Ausscheidungen verziert. Drei Minuten bleiben für seine Versorgung. Stöhnend liegt die Brustkrebspatientin im Endstadium ihrer Krankheit im Bett. Schmerzmittel erhält sie nicht - die sind ausgegangen, um Ersatz kümmert sich niemand. Die achtzig Kilo schwere Frau M. ist so schwer in den Waschraum zu bugsieren, dass die überarbeiteten Pflegerinnen - aus Personalmangel und wider alle Vorschriften allein im Raum - irgendwann auf jegliches Duschen und Baden verzichten. Eine andere "Pflegekundin", so der Jargon der Heimbetreiber, leidet unter Schluckbeschwerden. Sie magert auf 35 Kilogramm ab, weil niemand die Zeit findet, ihr Essen zu geben.

Altenpflege ist grundsätzlich ein schwieriger Beruf, räumt die Autorin an vielen Stellen ihres Buches ein, das mit Hilfe des einfühlsam und klar formulierenden Biografen Andreas Schug entstand. Dass Demenzkranke aus Verwirrung aggressiv werden können, Schlaganfallpatienten den Verlust ihrer Bewegungsfreiheit betrauern und depressiv werden, Hochbetagte die Hoffnung auf jugendlich-beschwingte Zeiten verlieren, ist niemandes Schuld. Ausgetrocknete, abgemagerte, ungewaschene, wundgelegene, festgebundene Alte aber sind es. Immer wieder wird Brigitte Heinisch bei der Pflegeleitung der Heime, in denen sie arbeitet, vorstellig, fordert die Aufstockung des Personals, macht auf eklatante Verletzungen geltender Vorschriften aufmerksam, organisiert den gemeinsamen Protest völlig überarbeiteter Pflegerinnen und Pfleger. Im Gegenzug wird noch mehr Personal gestrichen, Brigitte Heinisch wird gemobbt, der Verletzung von Arbeitnehmerpflichten bezichtigt und schließlich entlassen. Für ihre Sensibilität zahlt sie mit Burnout-Symptomen und Depressionen. Unterstützt von einem Solidaritätskreis finden sie schließlich die Kraft, gegen ihre Entlassung vor Gericht zu ziehen. Teils kann sie sich durchsetzen, teils erlebt sie neue Rückschläge, als eine Richterin ihr das Recht abspricht, per Flugblatt gegen ihren Arbeitgeber zu protestieren. Inzwischen hat Brigitte Heinisch gegen Vivantes - Berlins größten Betreiber von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen - Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erhoben.

Mit ihrem Bericht will Brigitte Heinisch aufrütteln, und so lebt das Buch von den vielen persönlich erlebten Vorfällen und Schicksalen. Doch immer wieder stellt die Autorin auch politische Bezüge her und bettet ihre Beobachtungen in eine grundsätzliche und fundierte Kritik am Pflegesystem ein. Der Anhang liefert dazu eine Auswahl von Aufrufen und Grundsatztexten zur Verbesserung der Pflegesituation, ergänzt durch Kontaktadressen zu engagierten Verbänden. Für Brigitte Heinisch ist klar: Die Verwahrlosung der Pflegeheime resultiert aus den unverantwortlichen Privatisierungen im Gesundheitswesen. Während die Altenpfleger schwer leidende Menschen in hoffnungslos unterbesetzten Schichten im Dreiminutentakt abfertigen sollen, halten die Unternehmensleiter Vorträge über "Pflegeeinrichtungen als Profit-Center" - und streichen die nächsten Stellen.

Rezensiert von Susanne Billig

Brigitte Heinisch: Satt und sauber? Eine Altenpflegerin kämpft gegen die Pflegenotstand
Unter Mitarbeit von Andreas Schug geschrieben
Rowohlt Verlag, Oktober 2008
224 Seiten, 12,00 Euro