Ungestopfte Löcher und bohrende Fragen

Von Klaus Remme · 07.07.2010
Es ist die Ungewissheit, die an den Nerven der Menschen im Katastrophengebiet am Golf von Mexiko zerrt - die Frage, welche Folgen die Ölpest tatsächlich haben wird. Dazu kommt, dass diejenigen, die Unterstützung leisten wollen, sich ebenso an den Hürden der Bürokratie stoßen wie die, die auf schnelle Hilfe hoffen.
Für den Laien erstaunlich, dass der Pilot trotz vieler Gewitter rundum ein sicheres Loch für die Landung gefunden hat. Die Maschine sitzt vor dem Gate, der Pilot bittet um Geduld. Noch darf die Bodencrew der Blitze wegen nicht arbeiten.

Willkommen in Panama City Beach an der Nordküste Floridas, ein kleiner, nagelneuer Flughafen, erst wenige Wochen in Betrieb. Wer hierhin fliegt, hat die Shorts und Flip-Flops in der Regel schon an. Gedacht als Anlaufpunkt für die Strände im Nordwesten ist er jetzt die direkte Verbindung ins Öl-Krisengebiet. Mit an Bord, in einer der letzten Economy Reihen: US-Senator Bill Nelson.

Er sei zur Zeit jedes Wochenende hier am Golf, das Öl bewege sich langsam gen Osten, jedes Mal sei ein neuer, ein anderer Strand betroffen, sagt Nelson, der als Vertreter Floridas im US-Senat Milliardenschäden für den hiesigen Tourismus befürchten muss. Und das, obwohl Florida in seinen Küstengewässern gar keine Ölbohrungen zulässt. Der Demokrat Nelson ist frustriert. Er hat eine besondere Perspektive. Als ehemaliger Astronaut hat er die Erde als einer von wenigen Politikern vom Weltraum aus gesehen:

"Nach dem Blick vom Fenster des Raumschiffs aus auf diesen zerbrechlich wirkenden Planeten habe ich mir versprochen, besser darauf aufzupassen."

Doch dafür ist es an der Golfküste im Moment zu spät. Seit Wochen fließt das Öl, zunächst in die ökologisch so wertvollen Marschlandschaften Louisianas, wo Krabben- und Austernfischer vor dem Ruin stehen, jetzt an die Strände von Mississippi, Alabama und Florida. Der Präsident, die Senatoren und Abgeordneten sind in diesem Drama weitgehend machtlose Figuren. Und die Menschen vor Ort haben immer weniger Verständnis für die Politik. Die meisten fühlen sich im Stich gelassen, von BP sowieso, aber auch von Washington. "Wir ersticken in Bürokratie, während unsere Küste vor die Hunde geht", das ist der Vorwurf. Und es sind nicht die Berufsnörgler, es sind Menschen wie Wayne Harris, eine Art Landrat in Okaloosa County in Florida.

Ein konservativer Landstrich: Hier regieren Tourismus, Religion und das Militär mit der Eglin Air Force Base, dem größten US-Luftwaffenstützpunkt im ganzen Land. "Wenige Tage nach dem Unglück haben wir uns zusammengesetzt, haben geplant", erzählt Harris, selbst Soldat im Ruhestand. "Das Öl war da noch weit weg, niemand sprach von Florida. Wir wollten einen Plan, für alle Fälle. So sind wir eben: Alle waren mit am Tisch", so Harris. Hausbesitzer, Hoteliers, Fischer, die Leute von der AirForce. Demokratie zum Anfassen sei das gewesen. Wenig später stand der Plan zum Schutz der Choctawhatchee Bucht, über 300 km2 groß, ökologisch besonders wertvoll, mit nur einer Öffnung zum Golf. East Pass, 500 Meter breit, diese 500 Meter gilt es abzuriegeln. "Ich war so naiv", sagt Harris im Rückblick. "Ich dachte, die jubeln, wenn die unseren Plan sehen, dachte, das wird zum Vorbild für andere. "

Und dann folgt die Nacherzählung eines Horror-Trips durch staatliche Instanzen. Erst hieß es, neun Millionen Dollar, viel zu teuer, dann zu kompliziert, es kamen Beschwerden auf Ebene des Bundesstaats, später dann aus Washington. Umweltbehörde, Küstenwache, alle hatten irgendetwas auszusetzen:

"Nur ein Beispiel", sagt Harris, "wir wollten Auffangnetze im Boden der Bucht verankern, denn die Strömung war zu stark. Das wurde verboten vom Army Corps of Engineers, eine weiteren Baubehörde, aus Angst, wir könnten da unten Pflanzen beschädigen. Idiotisch, wenn das Öl kommt, ist ohnehin alles tot ", meint Harris. "Immer ging es hin und her. Doch man hatte ja früh angefangen, erinnert er, man habe relativ ruhig reagiert, den Plan immer wieder revidiert."

Dann, vor zwei Wochen ein Anruf. Das Öl ist nur noch wenige Kilometer entfernt. Wir mussten handeln, so Harris. Doch bei einer Krisensitzung habe die Küstenwache noch immer gemauert: Harris hatte genug. Er warte nicht länger auf eine Zustimmung, drohte er und wurde auf mögliche rechtliche Konsequenzen bis hin zu einer Haftstrafe hingewiesen. Harris zuckt mit den Achseln, es war mir egal, mir ging es um den Schutz der Bucht. Noch am selben Abend gaben die Behörden nach, sie knickten ein wie ein Kartenhaus. Das Hauptproblem, meint Wayne Harris im Rückblick:

"Der einzige Zweck des Zentralkommandos ist die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Behörden. Doch sie reden nicht miteinander. "

Harris und seine Leute in Okaloosa County sind nicht allein mit ihren Sorgen. Zwei Autostunden westlich, in Alabama, ein weiteres Beispiel für das Bürokratendickicht, das die Arbeit für willige Helfer mit besten Absichten zum Risiko macht. Magnolia Springs. Eine Kleinstadt, viertausend Einwohner. In Jesses Cafe sitzen zwei junge Frauen Anfang 20 vor einem Kaffee und reden über das Öl. Sie arbeiten beide in der Tourismus-Branche und misstrauen allen Medien zutiefst. Ihren Namen wollen sie nicht sagen, aber eines stehe fest, die Medien übertreiben maßlos:

"Da ist zwar eine Menge Öl draußen im Meer, doch wenn hier manchmal etwas ankommt, ist es nicht so schlimm. Sie nehmen die schlimmsten Bilder und erwecken den Eindruck, so sei das ständig. Das stimmt aber nicht. "

Ein paar Hundert Meter weiter steht Jamie Hinton vor einer Karte. Hinton leitet die freiwillige Feuerwehr von Magnolia Springs. Sein Problem:

"Im Osten der Bucht von Mobile, ist eine kleine Öffnung hin zu Weeks Bay", erklärt Hinton. Seit Wochen bemüht er sich, diese Öffnung effektiv gegen das Öl zu schützen. Der Plan steht längst, er ist nicht kompliziert und nicht teuer. Aber: "Wir haben noch immer keinen Ansprechpartner im Zentralkommando oder bei BP. Manchmal helfen Behörden hier in Alabama, aber das ist die Ausnahme. "

Seine Erzählung klingt vertraut. Bürgerversammlung kurz nach dem Unglück. Aus vielen Vorschlägen habe man eine Strategie zum Schutz von Weeks Bay entworfen. Vor allem wollte man eine Ergänzung zu den schwimmenden Sperren, die das Öl selbst bei mässigem Wellengang nicht aufhalten können. Hinton wollte Lastkähne in einer Reihe als Blockade gegen den Wellengang. Doch von oben kam die Order: Keine Alleingänge, alles muss genehmigt werden, wenn nicht, dann ... Es wurde nicht direkt mit Konsequenzen gedroht, aber doch zwischen den Zeilen, so Jamie Hinton:

"Es gibt Landstriche, da bewirken solche Drohungen das Gegenteil. Es sind oft ländliche Gegenden, in denen die Menschen schon immer vor allem auf sich gestellt waren." Hinton sagte seinen Leuten: "Wenn sie mich abholen und ins Gefängnis stecken, macht ohne mich weiter."

Der ganze Wahnsinn dieser einen, kleinen Posse entlang der Golfküsten wird am Schauplatz selbst deutlich. Es sind 15 Minuten mit dem Auto vom Feuerwehrhaus bis zur Mündung der Bucht. Der ganze Streit ging um 150 Meter. Vier Schleppkähne hat Hinton im Alleingang gemietet, drei sind in Position. Kommt das Öl, wird die Bucht zusammen mit Schwimmsperren und dem vierten Kahn abgeriegelt. Rettung nicht nur für die Bucht sondern auch für Zuflüsse aus dem Inland. 150 Meter für den Schutz von insgesamt über 1000 Kilometer Ufer. Überregionale Medien wurden aufmerksam, die Behörden haben inzwischen nachgegeben.

Alabama und Florida geben in diesen Wochen Millionen für Fernsehspots aus, um Urlauber zu locken und das Image ölverschmutzter Strände zu bekämpfen. Es stimmt ja, dickes schwarzes Öl ist jenseits von Louisiana noch nicht angeschwemmt worden. Es sind vor allem Teerklumpen, die die Flut mal anspült und mal nicht. Doch ein Blick auf den Strand von Orange Beach, Alabama zeigt das ganze Ausmaß des Schadens.

30 Grad im Schatten, blauer Himmel. Der weiße Strand - menschenleer. Rote Flaggen bedeuten: Schwimmverbot. Ein dunkler Wellensaum zeugt vom Öl der letzten Tage. In unmittelbarer Nähe des Strands, 20, 30 Meter im Wasser tummeln sich zwei Dutzend Boote. Scheinbar ziellos fahren sie auf und ab und auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass sie Sauggürtel hinter sich herziehen, um Öl aufzufangen. Eine Frau, Anfang sechzig wirkt geradezu trotzig, wie sie im Badeanzug nach einer langen Dusche auf ihre Strandliege zusteuert. Bin wohl die Einzige hier, sagt Gail aus Georgia. Vor vier Wochen ist sie nach Orange Beach gezogen. War sie schon im Wasser?

"Ich traue mich nicht, nachher bekomme ich noch einen Strafzettel", sagt sie. Das Wasser scheint völlig sauber, doch der Öl-Gestank in der Luft ist nicht zu leugnen. "Macht mich auch ein wenig unruhig", sagt Gail, "mal schauen, ob ich am Nachmittag krank werde, glaub' ich eigentlich nicht."

Das Unglück und seine Folgen will sie nicht diskutieren. "Immer noch besser als Georgia", meint sie und wendet sich ab. 70 Meter weiter dann doch noch zwei weitere Urlauberinnen. Melissa und Kate, beide Ende 20, aus Tennessee. Ihr Hotel sei fast leer, bestätigen sie. Dennoch bereuen sie ihre Entscheidung nicht. Überzeugungstäterinnen. Hier Melissa:

"Ich komme jetzt seit zwölf Jahren, ich wusste, sie brauchen uns jetzt hier, viele stornieren, wir hängen aber an diesem Strand. "

Es rieche wie beim Tanken an der Zapfsäule, gibt sie zu. Man gewöhne sich aber daran, sagt sie schnell dazu. Ist sie wütend auf BP oder die Regierung?

"Den Schwarzen Peter herumschieben, hilft jetzt auch nicht. Fehler werden gemacht. Ich hätte mir nur gewünscht, dass jemand über einen Plan B nachgedacht hätte. "

Am Pier starrt eine kleine Gruppe von Urlaubern aufs Wasser. Und Brendy aus Alabama bricht eine Lanze für ihre Heimat. Sie sieht das Mikrofon aus Deutschland: Es gebe keinen Grund, nicht zu kommen, sagt sie, und riechen könne sie auch nichts Ungewöhnliches. Neben ihr ein Mann im grauen, verwaschenen T-Shirt, Stephen sagt, normalerweise würde ich hier mit meinen Booten Touristen am Fallschirm hinter mir herziehen. Über Verluste in Prozent redet er gar nicht mehr. "Ein Boot ist schon verkauft. Der Frühling war ganz okay, jetzt ist mein Geschäft tot", so Stephen.

Eine ganz ähnliche Atmosphäre schräg gegenüber am Perdido Beach Boulevard. Zeke's Landing! Hier konnte man bisher ein Boot oder eine Yacht chartern. Doch es darf niemand mehr rausfahren, es sei denn im Auftrag von BP. Und Hochseeangeln, das geht ohnehin nicht mehr. Auch hier heißt es für Manager Tom Steber Totalverlust.

Nebenan in einer großen Halle ist Platz für 180 Boote. Viele Plätze sind belegt. Sie gehören zumeist Besserverdienenden aus den Großstädten. "Spielzeug für Große", sagt Dave, der hier den Gabelstapler fährt, um die Boote ins Wasser zu lassen. An normalen Sommertagen hat er zwanzig bis dreißig Aufträge. Er schaut auf die Boote entlang der Wände. "Schluss mit lustig", sagt Dave, er hat Angst um seinen Job.

Ein paar Kilometer weiter östlich. Pensacola Beach, eine Touristen-Hochburg in Florida. Fred Simmons macht sich keine Illusionen. Er arbeitet unter anderem als Makler, ihm selbst gehören zwölf große Häuser in bester Lage, die er im Sommer vermietet:

"Strand, fischen, gutes Essen, darum geht es den Urlaubern hier", sagt er. Auch wenn sie hier in Pensacola bisher Glück hatten und die schlimmsten Verschmutzungen ausgeblieben sind. Bei Simmons liegen sieben Immobiliengeschäfte auf Eis, bei den Vermietungen verzeichnet er 35 Prozent Verlust. Er hofft auf Entschädigung durch BP und hat gleichzeitig eine Idee:

"BP ist da bestimmt noch nicht drauf gekommen. Wie wäre es, wenn BP den Urlaubern die Hälfte der Unterbringungskosten erstatten würde? Die Zahl der Übernachtungen würde steigen mit Folgewirkung für die Restaurants und den Einzelhandel."

BP hat dazugelernt. In Fernsehspots zeigt sich jetzt nicht mehr Konzernchef Tony Hayward, der durch verbale Ausrutscher innerhalb weniger Wochen zur Hassfigur geworden ist, sondern ein Mitarbeiter aus der Region, hier geboren und aufgewachsen, wie Daryl Willis in dem Werbespot für BP's Entschädigungspraxis betont. BP ist stolz, in wenigen Wochen zehntausenden von Antragstellern insgesamt über 100 Millionen Dollar Entschädigung gezahlt zu haben. Doch kaum ein Aspekt des Krisenmanagements ist so umstritten wie die versprochene schnelle Schadensbegleichung. Es gibt positive Berichte, wie den von Angelika Unzens, einer Deutschen, die in Pensacola Beach ein Souvenir-Geschäft betreibt.

Aber die Klagen dominieren. Geschädigte können inzwischen in über 30 Büros vorsprechen. "Keine Feuerwaffen" steht vor der Tür des BP-Büros in Foley, Alabama und nachträglich wurde angefügt: "auch keine Messer". Journalisten werden höflich aber bestimmt aufgefordert, das Büro zu verlassen. Vor der Tür erklärt BP-Sprecherin Ashely Babb, das Procedere:

"Wir bitten um eine Terminabsprache im Vorfeld. Je mehr Unterlagen die Betroffenen mitbringen, desto besser. Geht alles glatt, bekommen sie innerhalb von vier Tagen einen Scheck."
Doch oft geht eben nicht alles glatt. Stephen, der Mann mit dem Parasailing Geschäft von Orange Beach hat seine eigenen Erfahrungen:

"Sie ändern andauernd die Regeln, was morgens gilt, ist nachmittags schon nicht mehr sicher, hoffentlich sind das Anfangsfehler."

Hier ein Koch aus Destin, Florida. Er ist schon zum zweiten Mal gekommen:

"Warum muss ich hier Unterlagen von vor zwei Jahren bringen, ist das etwa vor zwei Jahren passiert? Ein Jahr sollte reichen", beschwert er sich, und seine Kollegin ist auch zurückgekommen. Ihr Scheck wurde auf einen falschen Namen ausgestellt.

Tony Martin ist Mitinhaber von Harbor Dock in Destin. Seine Angestellten säubern Fisch. Er beliefert 70 Prozent der Restaurants im Umkreis von gut 150 Kilometern. Bis vor kurzem hauptsächlich Fisch aus dem Golf. Jahresumsatz 6 Millionen Dollar: "Bisher hatten wir einen Anteil von 25 bis 30 Prozent Importware, jetzt sind es 85 Prozent."

Martin hat noch gar keinen Antrag auf Entschädigung gestellt, vielleicht will er sich sogar allein durchschlagen. Er verteidigt BP und verweist auf mögliche Trittbrettfahrer, die die Lage ausnutzen wollen. Er sei froh, wenn BP Unterlagen und Beweise verlange.

Nicht nur direkt Betroffene beschweren sich, auch Kommunalpolitiker, denen dieses Unglück und die fehlenden Touristen Steuereinbussen bescheren. Buck Lee leitet die Verwaltung von Santa Rosa Island Authority, einem Teil von Pensacola Beach. Mit den jährlichen Einnahmen von ungefähr drei Millionen Dollar hält er zum Beispiel die Strände und Straßen sauber, bezahlt das Personal für die Strandaufsicht. Er macht keinen Hehl aus seinem Misstrauen gegenüber BP:

"Sie versprechen viel und halten wenig", ist Lee überzeugt. "Ich habe die Nummer der Hotline gewählt. Immer besetzt. Wie soll man da durchkommen? Ich bin sicher, dass sie mir aufgrund meines Amtes helfen würde, aber was ist mit all den anderen?"

Lee hinterfragt schon den Grundansatz der Regierungspolitik, dass derjenige, der für den Unfall verantwortlich ist, selbst auch die Folgen beseitigt:

"Stellen Sie sich vor, man würde El Kaida bitten, die Trümmer des 11. September wegzuräumen, das würde wohl auch wenig Erfolg versprechen", zieht Buck Lee seine Parallele.
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