Unbildung als Folge der Kapitalisierung des Geistes

Vorgestellt von Reinhard Kreissl · 29.10.2006
Liessmann ist ein umtriebiger Professor für Philosophie an der Universität in Wien und als österreichischer Lokalmatador des populären öffentlichen Denkens in der Alpenrepublik selbst kein Unbekannter. Mit seinem Essay über die Theorie der Unbildung stellt er sich in die Tradition einer zeitdiagnostischen Kulturkritik, die in diesem Lande Großmeister wie Karl Kraus hervorgebracht hat.
Mit dem Thema "Wissensgesellschaft" nimmt er sich eines Phänomens an, das ein mehr als geeignetes Objekt für entsprechende ironisch-polemische Fingerübungen darstellt. Auf 174 Seiten, gegliedert in neun Kapitel, dekliniert er die Folgen seiner ebenso trivialen wie traurigen und richtigen Einsicht:

"Nicht Halbbildung ist das Problem unserer Epoche, sondern die Abwesenheit jeder normativen Idee von Bildung, an der sich so etwas wie Halbbildung noch ablesen ließe. .... Unbildung heute ist weder ein individuelles Versagen noch Resultat einer verfehlten Bildungspolitik: Sie ist unser aller Schicksal, weil sie die notwendige Konsequenz der Kapitalisierung des Geistes ist."
Umgeben von ausgewählten Säulenheiligen des bürgerlichen Bildungsideals, Humboldt, Schelling, Nietzsche und Adorno werden immer wieder in den Zeugenstand gerufen, probt er die Fallhöhe eines der europäischen Aufklärung verpflichteten Denkens. Wie klingt es, wenn ein Bildungsideal auf dem harten Boden der Realität aufschlägt und in tausend Stücke zerspringt?

Alles ist schrecklich, aber dank Liessmanns Sprachironie lässt sich das Grauen vergnüglich betrachten. Der Text nimmt zunächst einen langen Anlauf. Am Beispiel der populären Quizshows, in denen man durch richtige Antworten auf mehr oder weniger dumme Fragen viel Geld gewinnen kann, zeigt Liessman, welche kulturellen Formen die so genannte Wissensgesellschaft hervorbringt. Zusammenhangslose Informationen aus völlig heterogenen Bereichen werden hier als Wissen abgefragt und weil wir schon dabei sind, räumt Liessman auch gleich mit der Variante für die lesenden Klassen auf. Dietrich Schwanitz und andere, die mit ihren Kompendien zum Kanon des notwendigen Wissens auflagenstarke Erfolge feierten, werden als Beleg für Verfall und Untergang der Bildung vorgeführt.

Es folgt die Abrechnung mit neuen Lernphilosophien, die in diversen Bildungsreformen fröhliche Urständ feierten. Die Phrasen vom lebenslangen Lernen oder vom Lernen des Lernens bekommen ihr Fett weg und der dahinter stehende Unsinn wird auf den polemischen Punkt gebracht.

"Die Forderung nach dem Lernen des Lernens ähnelt dem Vorschlag, ohne Zutaten zu kochen. Der Begriff des Lernens setzt ein Etwas immer schon voraus. Dieses Etwas aber ist gegenwärtig keiner Idee von Bildung mehr verhaftet, sondern wird als permanente Leerstelle offen gehalten für die rasch wechselnden Anforderungen der Märkte, Moden und Maschinen. Angeregt durch ein Memorandum der Europäischen Kommission zum lebenslangen Lernen, das mit der an DDR-Zeiten erinnernden Parole ‚Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen’ überschrieben ist, wird an der Universität Wien in einem hochdotierten Projekt untersucht, wie das lebenslange Lernen (LLL) am besten schon in der Volksschule gelernt werden kann. Das Projekt hört auf das sinnige Kürzel TALK, was ‚Trainingsprogramm zum Aufbau von LehrerInnen-Kompetenz zur Förderung von Bildungsmotivation und Lebenslangem Lernen’ bedeutet."

Liessmanns Buch ist voll solcher Belege für die These, dass die Realität der Bildungspolitik von der Satire kaum eingeholt werden kann und das ist zugleich auch der Schwachpunkt dieses Projekts. Ein bisschen ist der Autor in der Position des politischen Kabarettisten, der im Angesicht der real existierenden Politikerfiguren kaum mehr einen kabarettistischen Mehrwert auf die Bühne bringen kann.

Liessmann zeigt, dass die Rede von der Wissensgesellschaft Unsinn ist. Er zerlegt die Rhetorik der Evaluationshysterie und Reformhektik, verweist auf die problematischen Folgen der sprachlichen Dominanz des Englischen, kritisiert das neuerdings wieder aufblühende Gerede von Eliten und verkneift sich auch nicht den beißenden Hinweis, dass Widerstand gegen die schleichende, nein rasende Zerstörung einer halbwegs funktionierenden Humboldt’schen Universität von den Angehörigen dieser Institution kaum zu erwarten ist.

"Die Tragödie, die sich angesichts der Ideologisierung und Politisierung der Universitäten im vergangenen Jahrhundert ereignete, wiederholt sich gegenwärtig angesichts ihrer Ökonomisierung: aber als Farce. Die großen Worte, die die Durchsetzung des europäischen Hochschulraums begleiten, können über diese Farce nicht hinwegtrösten."

Die Zustände und Ereignisse an den Universitäten sind dann auch das eigentliche Thema, auf das Liessmanns Text zusteuert. Insbesondere die Rolle der Geisteswissenschaften bereitet ihm Sorgen und macht ihm Ärger. Hier kann er als Betroffener aus dem Vollen schöpfen. Bei aller Berechtigung der Klagen – der Grat ist schmal, auf dem sich Liessmann bewegt. Immer lauert der Vorwurf, dass hier der Fuchs spricht, dem die Trauben zu hoch hängen. Die Geisteswissenschaften gehören sicherlich nicht zu den Gewinnern der Universitätsreform – wenn es denn überhaupt welche gibt. Man gewinnt als teilnehmender Beobachter der nationalen, wie der europäischen Forschungs- und Bildungspolitik schnell den Eindruck, dass hier ein ganzes System universitärer Lehre und Forschung von rücksichtslosen Bürokraten gegen die Wand gefahren wird. Was aber aus den Trümmern entsteht, ist, da muss man auch Globalkritiker wie Liessmann zur Hegel’schen Räson rufen, eine offene Frage.

Am Ende ist man vielleicht nicht klüger, aber der heilige Zorn des Autors ist ansteckend. Wenn sich dann die Wut über den Wahnsinn der so genannten Wissensgesellschaft wieder gelegt hat, bleibt aber doch ein Unbehagen. Das Bildungsideal, das hier als normative Hintergrundsfolie dient, war gebunden an die Existenz seiner bürgerlichen Trägerschicht, einer sozialen Formation des 19. Jahrhunderts, der im Übrigen auch die vehementen Gesellschaftskritiker des 20. Jahrhunderts noch angehörten. Die Idee des autonomen bürgerlichen Individuums und die ihm zugehörige Idee von Freiheit und Befreiung sind als Haltung bewahrenswürdig, welche Praxis, welche Form und Institutionalisierung dazu passt – auf diese Frage gibt Liessmann keine Antwort. Aber bei der literarischen Produktivität dieses Typs von Kritiker kann man getrost auf die Fortsetzung der Überlegungen warten. Bis dahin sei die Lektüre von Liessmanns Büchlein all jenen empfohlen, die sich gegen den herrschenden Zeitgeist ihren berechtigten Ärger über denselben bewahren wollen.

Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung
Die Irrtümer der Wissensgesellschaft
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006
Konrad Paul Liessmann: "Theorie der Unbildung" (Coverausschnitt)
Konrad Paul Liessmann: "Theorie der Unbildung" (Coverausschnitt)© Paul Zsolnay Verlag