Unbekannte Helden

Von Mirko Schwanitz · 14.03.2011
Es ist still geworden um die serbische Literatur. Viele Autoren sind in den 90er-Jahren ins Exil gegangen. Doch was denken und fühlen serbische Autoren, die weiterhin im Land leben?
Von der Bushaltestelle am Belgrader Slavija-Platz sind es nur ein paar Schritte hinauf zur Kirche des heiligen Sava, dem größten Gotteshaus der orthodoxen Welt. Nur einen Steinwurf entfernt, steht Serbiens Nationalbibliothek, ein Tempel der Bildung und Kultur. Während dort Priester dem Mythos vom ‘himmlischen Volk’ der Serben jeden Tag neues Leben einhauchen, versucht hier Sreten Ugricic, als Direktor der Bibliothek, diesen Mythos seit Jahren zu zerstören.

Sreten Ugricic: "Manchmal werde ich auch vorgestellt als Astronom. Aber die Astronomie, die ich betreibe, ist eine ironische. Denn wer sich mit einem himmlischen Volk beschäftigt, wird automatisch zum Astronomen. Aus dem Motiv heraus, solcherart auf mein Volk zu blicken, entstand auch mein jüngster Roman 'An den unbekannten Helden'."

Sreten Ugricic befasst sich in seinem pünktlich zur Leipziger Buchmesse auch auf Deutsch erscheinenden Roman mit dem Verhältnis des ‘himmlischen Volkes’ zur Wahrheit. Den Serben, lässt er eine seiner Hauptfiguren sagen, kommt alles Mögliche in den Sinn, nur nicht, dass es vielleicht doch besser wäre, das eigene Verhältnis zur Wahrheit zu ändern. Im Gegensatz zu Ugricic tun sich auch viele serbische Schriftsteller damit bis heute noch immer schwer.

Treffen mit Goran Petrovic. Er hat das Café des Hotels Majestic vorgeschlagen. Schon immer haben sich hier, außer den Künstlern, auch Politiker und Geheimdienstler getroffen. In seinem Buch "Die Villa am Rande der Zeit", das vor kurzem auch im Deutschen Taschenbuch Verlag dtv erschien, dringen Geheimdienstler selbst in die Räume zwischen den Zeilen ein, ermorden dort Oppositionelle. Menschen, die sich dem Wahnsinn des 19. und 20. Jahrhunderts durch Lesen entziehen wollten, fanden nicht einmal in der Literatur einen sicheren Zufluchtsort.

Goran Petrovic: "Ich betrachte die Literatur als eine Art Kontinent, als eine Art Cyberraum, der lange vor dem Internetcyberspace entdeckt wurde. Die Geschichte basiert auf der einfachen Metapher, dass sich die Leser innerhalb dieses Cyberraums der Literatur wirklich begegnen, in der Wirklichkeit aber einander nicht erkennen."

Nein, Goran Petrovic glaubt nicht daran, dass Literatur eine Gesellschaft verändern kann. Dennoch müsse sie sich immer an ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit messen lassen. Wenn sie den Kontakt zur Realität verliere, verliere sie auch den Anschluss an die literarischen Strömungen der Welt, wird weniger übersetzt. Genau das sei in Serbien passiert, meint auch die Schriftstellerin Jelena Lengold.

Jelena Lengold: "Ich habe den Eindruck, dass vor den Neunzigern viel mehr serbische Autoren übersetzt wurden. Unsere Literatur korrespondierte mit dem Rest der Welt. Und vergessen wir nicht: Jugoslawien war auch ein großer Kulturraum, der zerstückelt wurde. Die Folge ist, dass seine Literaturen isolierter und damit auch schwächer wurden."

In Jelena Lengolds Erzählungen finden sich einige der besten Protagonisten der neueren serbischen Literatur. Ihre Erzählung "Senka", soeben in dem Band "Der Engel und der rote Hund" bei Noack & Block erschienen, weist sie als eine Meisterin des Unausgesprochenen aus. Immer wieder erzählt Jelena Lengold ebenso unaufdringlich wie eindringlich vom Leben der Frauen in Serbien und ihrer Meisterschaft, sich über die Einschränkungen zu erheben, mit denen sie seit den jüngsten Kriegen alltäglich konfrontiert sind.

Abfahrt nach Pancevo. Dort lebt die 1977 geborene Dichterin Dragana Mladenovic. Eine Katharsis, meint sie, komme doch nicht von irgendwoher. Sie ließe sich nur erreichen, wenn man sich mit den Dingen befasst, die geschehen sind, und nicht um sie herumschleicht, wie eine Katze um den heißen Brei.

Dragana Mladenovic: "Ich habe erlebt, wie ein Kriegsverbrecher hier in Pancevo untergebracht wurde, in einer Familie, die ich kannte. Viele Serben reden sich noch immer damit heraus, dass an unserem Volk auch Verbrechen begangen wurden. Ich denke aber, dass es besser wäre, wenn wir uns für unsere Seite, für unsere Verbrechen entschuldigen. Deshalb habe ich mein Buch "Rodbina" geschrieben. Es ist meine Katharsis, meine Art, um Entschuldigung zu bitten."

"Rodbina" ist ein außergewöhnlicher Lyrikband. Dragana Mladenovic formt darin aus einem fiktiven Protokoll, der Sprache auf einer Polizeiwache das Psychogramm einer noch immer gespaltenen Gesellschaft. Da ist der Rentner mit dem Spitznamen der Stumme, weil er bis jetzt zu allem und jedem geschwiegen hat. Der stumme Serbe, der plötzlich zu reden beginnt, weil er nicht auch noch den letzten Anstand verlieren, seine Ängste überwinden will. Und da sind jene, die jeden für krank halten, der einen Kriegsverbrecher auch nur anzeigen will. Brisantere Lyrik hat es in Serbien die letzten 20 Jahre nicht gegeben. Mladenovic markiert damit den Beginn einer neuen, mutigeren Auseinandersetzung der serbischen Literatur mit der jüngsten Vergangenheit.