Unbekannte Alltagswelten

08.11.2012
John Jeremiah Sullivan nimmt seine Leser mit an Orte, die diese ohne ihn nicht betreten würden: das Krankenzimmer seines im Koma liegenden Bruders, Notunterkünfte der Opfer des Wirbelsturms Katrina oder ein Nachtclub, der Stars aus einer Reality-Show als Gäste bucht. Er erweist sich dabei als virtuoser Grenzgänger zwischen Essay, Reportage und Erzählung.
Die wochenlange, umfassende Berichterstattung aller Medien zu den US-Wahlen hat es ermöglicht, die Vereinigten Staaten nicht nur aus weltpolitischer Perspektive, sondern auch als vielfältiges und in sich oft widersprüchliches Gemeinwesen wahrzunehmen: Die Lebenswelt von Durchschnittsamerikanern wurde gezeigt, der Alltag in Gegenden, von denen man sonst nichts hört oder sieht. Und genau da schließt "Pulp Head" an, der Reportage-Band des Journalisten John Jeremiah Sullivan. Fünfzehn Texte, entstanden in den Jahren 1999 - 2011, sind darin versammelt und weisen den Autor als virtuosen Grenzgänger zwischen den literarischen Genres Essay, Reportage und Erzählung aus.

Sullivan, 1974 als Sohn eines Sportreporters in Louisville, Kentucky geboren, sucht sich als Schauplätze seiner Berichte tatsächlich ähnlich entlegene Gegenden wie seinen Geburtsort aus. Der Untertitel seines Buches - "Vom Ende Amerikas" - ist entsprechend geographisch und nicht etwa apokalyptisch zu verstehen. Unter anderem geht es um ein Karst-Plateau in Tennessee, in dessen Höhlen prähistorische Malereien entdeckt wurden. Für Sullivan Anlass, über Südstaatenkultur, Grenzen archäologischer Wissenschaft, Religion und die Leidenschaften "einer Riege hochrangiger Höhlenfreaks" nachzudenken.

Religion und Leidenschaft reflektiert der Autor auch anlässlich seines Besuchs beim weltgrößten Festival christlicher Rockmusik im ländlichen Pennsylvania. Er berichtet im Auftrag des Hochglanzmagazins "Gentlemen's Quarterly" davon, wie er seine Reportage als eine Art Roadmovie anlegen will und in kirchlichen Internetforen eine Mitfahrgelegenheit zum "Creation Festival" inseriert. Nachdem man ihm in einem christlichen Chatroom unterstellt, ein Pädophiler zu sein, will er den Auftrag eigentlich zurückgeben, wird aber verdonnert allein zu fahren - in einem von der Redaktion angemieteten Wohnmobil - "eine Windmühle mit Rädern, mein Mausoleum in spe".

Alle Texte Sullivans sind in bekannten Blättern erschienen - GQ, New York Times Magazin, Harper's oder Paris Review - und machten ihn zu einem der bekanntesten Journalisten der USA. John J. Sullivan wird in einem Atemzug genannt mit Norman Mailer, Tom Wolfe, Hunter S. Thompson oder David Foster Wallace genannt, und wie diese ist Sullivan ein Geschichtenerzähler, ein gefinkelter Stilist, der vor allem aus der Ich-Perspektive berichtet, der seine Sicht und Erlebnisse in den Vordergrund stellt, daraus aber allgemeine Erkenntnisse ableitet.

Das gelingt ihm überraschend gut. Auch wenn er im Gestus eines Bloggers viel Autobiographisches einfließen lässt, sind seine Geschichten nie privat - höchstens manchmal zu lang. Der Autor recherchiert sein Thema, macht in konkreten Situationen Erfahrungen und hebt sie im Akt des Schreibens dann leichterhand auf eine aussagekräftige Ebene. Sullivan nimmt den Leser mit in Welten, die dieser ohne ihn nicht betreten würde: das Krankenzimmer seines im Koma liegenden Bruders, Notunterkünfte der Opfer des Wirbelsturms Katrina, ein Nachtclub, der Stars aus einer Reality-Show als Gäste bucht, das eigene Haus als Drehort einer TV-Serie, eine Demonstration von "Tea-Party"-Aktivisten. In allen Geschichten Sullivans erfährt man etwas vom Wahnsinn des ganz normalen, amerikanischen Lebens.

Besprochen von Carsten Hueck

John Jeremiah Sullivan: "Pulphead. Vom Ende Amerikas"
Aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
415 Seiten, 20,00 Euro
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