Unbefangenheit statt Angst

Von Udo Pollmer · 07.10.2012
Neurodermitis und Allergien bei Kindern sind die Angstgegner vieler Eltern. Es mangelt nicht an Ratschlägen, oft in der Form einer Allergie mindernden Kost für Mutter und Kind. Die Ergebnisse einer Schweizer Langzeitstudie legen aber etwas anderes nahe.
Wer es wagt, sich im Fernsehen oder im Internet über Neurodermitis oder Allergien bei Kindern zu informieren, kommt bald vom Regen in die Traufe. Viele der Empfehlungen laufen auf eine Wohnung hinaus, die zum Hochsicherheitstrakt wird und auf eine Kost aus Wasser und Tapetenkleister. Besonders wichtig sei es von Anfang an möglichst wenig Kontakt mit Allergenen wie Milch, Eier, Schokolade, Umweltgifte, Staub, Haustiere usw. zu haben. Bereits während der Schwangerschaft werden Spezialdiäten empfohlen und den Säuglingen vorsorglich widerliche hypoallergene Getränke verabfolgt.

Die Ergebnisse einer Langzeitstudie, unter Federführung der Uni Zürich, strafen das Gewerbe der Angstmacher lügen. Ausgewertet wurden dafür die Daten von gut 1000 Kindern aus fünf ländlichen Regionen Europas, darunter auch aus Deutschland. Etwa die Hälfte der Kinder kam von Bauernhöfen, die anderen lebten zwar auf dem Land, hatten aber mit Landwirtschaft nichts zu tun.

Ergebnis: Wer seinen Kindern bereits im ersten Lebensjahr möglichst viele Speisen anbietet, beugt der Neurodermatitis vor. Ich zitiere: "Für jedes zusätzlich eingeführte Nahrungsmittel im ersten Lebensjahr wurde eine Reduktion von 25 Prozent für das Risiko einer Entwicklung von atopischer Dermatitis festgestellt." Ob man die 25 Prozent nun wörtlich nehmen will oder nicht, auf jeden Fall ist es umso vorteilhafter, je mehr Speisen gegessen werden.

Auch der populäre Tipp, mit der Beikost möglichst lang zu zögern, fiel dieser Studie zum Opfer. Offenbar ist genau das Gegenteil richtig. Im Klartext: Je unbefangener die Eltern mit Fragen der Ernährung umgehen, je mehr sie den populären Ratschlägen misstrauen, desto gesünder sind ihre Kinder. Ach übrigens: Selbst der Staub in der Wohnung hat sein Gutes. Er senkte das Risiko für Asthma – aber leider nicht für Neurodermitis. Man kann nicht alles haben.

Erstaunlich war, dass sich kein Unterschied nachweisen ließ zwischen selbst Gekochtem aus dem eigenen Garten und Lebensmitteln aus dem Supermarkt. Allerdings dürfte es da eine Ausnahme geben. Immer wieder fällt in Studien der Verdacht auf ein Kunstprodukt: Die Margarine. Je mehr Margarine, namentlich Halbfett, desto höher das Risiko von allergischen Reaktionen. Doch die meisten Forscher wollen das einfach nicht wahrhaben. Sollte es an den Zuschüssen liegen, mit denen die Margarinewirtschaft die Cholesterinforschung in der Spur hält? Man beißt nicht die Hand, die einen füttert.

Die beste vorbeugende Wirkung hatte der Konsum von Rohmilch – direkt aus dem Stall. Aber bitte nicht unbedingt nachmachen. Denn das, was die Kinder von Landwirten fit hält, ist für manch ein behütetes Stadtpflänzchen schon zu viel des Guten. Aber irgendwas ist an den Viechern dran: Wenn die Mutter während der Schwangerschaft Kontakt zu Nutzvieh hatte, sank bei ihrem Nachwuchs das Risiko für Neurodermitis. Der Effekt wurde mit jeder weiteren Tierart besser. Hier gelten vor allem Bakterien aus dem Fell der Kühe als Schutzfaktoren. Das würde auch den Rohmilcheffekt erklären.

Vielleicht wäre es doch vernünftiger, wieder mehr Stallungen in der Nähe menschlicher Siedlungen zu bauen, mit Nutztieren, die Fleisch, Eier und Milch liefern, und Ställe, die die Kinder - so wie früher auch - ohne Schutzkleidung betreten können. Auch wenn die Studien nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss sind, die Ergebnisse kommen nicht überraschend. Schließlich hat der Mensch eine Evolution mit seinem Vieh, mit dem er immer zusammengelebt hat.

Erst seit wenigen Generationen ist die Landwirtschaft so produktiv, dass die meisten Bürger nicht mehr wie früher auf den Feldern und in den Ställen arbeiten müssen, sondern in Städten wohnen und sich statt am Misthaufen am Schreibtisch herumtreiben. Vielleicht fehlen dem Immunsystem einfach nur die gewohnten Herausforderungen. Und uns allen ein unbefangenes Verhältnis zur Landwirtschaft. Mahlzeit!

Literatur:
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