Unbefangener Blick aus großer Entfernung

Von Ulrike Gondorf · 04.12.2010
Der ganze "Faust" an einem Abend, in einer Aufführung, die kaum länger als drei Stunden dauern soll? Das macht neugierig. Und vielleicht muss man einen unbefangenen Blick aus großer Entfernung auf dieses einschüchternde Gipfelwerk werfen, um einen Weg zu finden, auf dem man eine so überschaubare Reise zu Goethe zurücklegen kann.
Der türkische Regisseur Mahir Günsiray hat bei seiner ersten Inszenierung an einem deutschen Theater dieses Wagnis unternommen. Das Schauspielhaus Bochum hatte ihn dazu eingeladen. Unter dem Spielplanmotto BOROPA hat man sich dort vorgenommen, Stoffe des europäischen Kernrepertoires von Künstlern beleuchten zu lassen, die an der Peripherie Europas arbeiten und den Blick von außen auf die Klassiker richten. Mahir Günsiray hat dabei nicht "den" Faust gefunden, aber "einen" Faust, der einem natürlich nur ausgewählte, aber durchaus fesselnde Interpretationsansätze liefert.

Günsiray, der selbst Schauspieler ist, leitet in Istanbul seit vielen Jahren ein Theaterkollektiv der freien Szene, in dem er gemeinsam mit dem Ensemble in improvisatorischer Arbeit seine Aufführungen entwickelt. Oft genügen dabei – wie er im Bochumer Programmheft erläutert – wenige Sätze eines Texts, um gemeinsam eine Situation, eine Szene zu finden. Dieses Verfahren fiel offensichtlich auf fruchtbaren Boden beim Bochumer Ensemble.

Entstanden ist eine Spielfassung - keine Textfassung, die so viele Zeilen in drei Stunden hineinpresst wie nur irgend unterzubringen sind. Der Abend hat Luft für Assoziationen, Raum für Bilder. Denn er konzentriert sich konsequent auf eine Struktur, die zentral ist für Goethes "Faust": den Dualismus, das Walten komplementärer Prinzipien, die wir gewohnt sind in Faust und Mephisto verkörpert zu sehen. Hier geht Günsiray einen Schritt weiter. Faust ist der einzelne, Mephisto sind die anderen, die Gegenspieler, die er begreifen, lieben, beherrschen will, die ihn locken, verführen, zurückstoßen, schuldig werden lassen. Sie alle sind die Partner der Teufelswette, in die hier neun Hände einschlagen.

In der Mephisto-Welt beginnt der Abend, in einer seltsamen Szenerie. Um einen rot herausgeleuchteten Kreis auf der leeren Bühne hängen Kostüme und Requisiten, die Gestalten, die ihn bevölkern, sind abgerissen, verloren, tragen Überreste von Kostümen, die vielleicht einmal prunkvoll waren: Halskrausen, Pelzmäntel, glitzernde Trikots und bunte Tüllröckchen. Und wenn sie sich, mit Versen aus "Auerbachs Keller", "ganz kannibalisch wohl" sein lassen und sich um einen Kübel Suppe versammeln, sieht man, dass sie alle behindert und beschädigt sind: bucklig, hinkend, bandagiert. Ist es ein Zirkus, ein Theaterfundus, ein Nachtasyl, oder ein Irrenhaus, das Faust betritt durch eine schwere Tür im Bühnenhintergrund? Für den bebrillten Intellektuellen im grauen Mantel, der - "habe nun, ach" - selbstmitleidig seine Sinnkrise in Szene setzt, wird es die Hexenküche sein, in der er einen Selbstversuch startet.

Er, der ja auch von Goethe auf die Reise hinab, "zu den Müttern" geschickt wird, findet an diesem unteren, äußersten Rand sozialer Erfahrung zu Schichten seiner Persönlichkeit, die ihm bislang verborgen waren. In der Spiegelung mit den Mephistos, die ihm in immer neuen Gestalten entgegentreten, durchlebt er die Gretchentragödie, den Sinnenrausch und die Ernüchterung mit Helena, die größenwahnsinnigen Entwürfe des Kolonisators, der sich sein eigenes Grab gräbt und dabei von neuen Kontinenten träumt. Am Ende wird er die große Tür wieder hinter sich zuschlagen – und uns darüber rätseln lassen, was die Erfahrungen dieser Traumreise mit ihm gemacht haben. Himmel und Hölle, Verdammnis und Erlösung gibt es nicht in dieser radikal menschlich-diesseitigen Faustinszenierung von Mahir Günsiray.

Dass die Episoden niemals zu blutleeren Experimenten vertrocknen, sondern emotionale Kraft, Ernsthaftigkeit (und auch Humor), existentielle Bedeutung behalten, ist dem großartigen Ensemble zu danken. Das Spiel, das Spielerische bleibt immer präsent und gibt dem Abend eine wunderbare Leichtigkeit und Offenheit, aber es wird keine Sekunde lang zur unverbindlichen Spielerei. Andreas Grothgar ist ein lichterloh brennender Faust, besessen auf der Suche nach den Extremen des Gedankens, des Gefühls, des Willens. Ihm gegenüber steht ein konzentriertes, phantasievoll agierendes Ensemble, in dem nun keiner mehr eine kleine, sondern jeder eine abendfüllende Aufgabe hat. Dass dann doch die Gretchentragödie mit der sehr berührenden Therese Dörr auch in dieser Inszenierung den stärksten Eindruck hinterlässt, geht auf Goethes Konto. Und seine Verse hat man selten so messerscharf gedacht und gut gesprochen gehört wie in dieser Inszenierung eines Gasts aus einem anderen Sprachraum.

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