Unausgesprochene Vergangenheit

10.07.2013
Mit "Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf" verarbeitet der Argentinier Patricio Pron seine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Militärdiktatur. Ein junger Mann besucht seinen schwerkranken Vater in Buenos Aires, erinnert sich und macht überraschende Entdeckungen.
Der in Deutschland lebende Icherzähler kehrt in seine argentinische Heimat zurück, weil sein Vater dort schwer erkrankt im Krankenhaus liegt. Langsam und widerwillig macht er sich die einst vertraute Umgebung neuerlich vertraut: das Haus seiner Eltern, die Mutter, Bruder und Schwester.

In Deutschland ist der junge Mann in Medikamentenabhängigkeit geraten: Er kann sich nur wenig merken, man liest mit dem Tunnelblick des Erzählers. Mal sitzt er am Krankenbett seines Vaters und stellt sich Fragen, dann zählt er seitenlang auf, welche Bücher sich im Haushalt seiner Eltern befinden.

Die Geschichte gewinnt an Fahrt, als der Erzähler auf der Suche nach dem Wesen seines Vaters, der offenbar dem Tod entgegengeht und nicht mehr ansprechbar ist, in dessen Büro eine Mappe mit Unterlagen findet. Chronologisch arbeitet er sich von Information zu Information, bis eine Geschichte in der Geschichte entsteht.

Der Vater hatte sich offenbar auf die Spur eines verschwundenen Mitbürgers in der heimatlichen Kleinstadt gesetzt, mit dem er einst gemeinsam zwei Klassen der Grundschule besucht hatte. Alsbald stellt sich heraus, dass der Mann einem grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen ist.

Immer wieder stellt sich der Erzähler die Frage, warum sein Vater so großes Interesse an dem Fall hat, bis er auf das Foto einer jungen Frau stößt und erfährt, dass sie die Schwester des Gesuchten und einst gute Freundin des Vaters war. Sie war zu Zeiten der Militärdiktatur verhaftet worden und danach verschwunden.

Kein Roman der Abrechnung
Das Durchsuchen der Unterlagen wird für den Erzähler zur Reise in eine nicht aufgearbeitete Vergangenheit. Nach und nach stellt er sich den Erfahrungen seiner Kindheit, seinem Land, der Angst unter der Militärdiktatur, in der er aufgewachsen ist und die offenbar mit Ursache für sein Drogenproblem ist.

Er erinnert sich, dass sein Vater in der Früh stets erst allein zum geparkten Auto ging, bevor die Kinder einsteigen durften, um sie vor einer eventuellen Bombe zu schützen. Er erinnert sich daran, dass er als Kind, um einer Entführung vorzubeugen, immer gegen den Verkehr zu laufen hatte. Schließlich entdeckt der Erzähler den Grund des Interesses seines Vaters für den Fall der beiden Verschwundenen: Sein Vater, ebenso wie die Mutter politisch aktiv in einer peronistischen Gruppe namens Guardia de Hierro, Eiserne Garde, hatte das Mädchen einst politisiert und sich danach verantwortlich gefühlt für ihre mutmaßliche Ermordung.

Das Buch ist kein Roman der Abrechnung mit der Militärdiktatur, es ist eine Vater-Sohn-Geschichte. Der Sohn will all dem Unausgesprochenen in der Familie eine Stimme, Worte verleihen. Zwar schreibt er anfangs davon, dass alles auch Irrtum und Täuschung gewesen sein kann, doch bleibt Pron nahezu autobiografisch an der Wahrheit: Beim Stöbern im Internet finden sich die zitierten Artikel über den Verschwundenen, tauchen im Buch beschriebene Fotos auf. Trotz kapitellangen Zitaten und selbst Erlebtem bleibt die Eigenleistung des Autors als schriftstellerischer Rahmen der Geschichte aber bestehen.

Sein Vater hat überlebt und einige Anmerkungen zum Roman gemacht, die sich auf einer Blog-Seite des Autors finden. Doch sind es meist mindere Berichtigungen, die in erster Linie für Leser gedacht sind, die die Familie Pron kennen. Der deutschsprachige Leser hat weniger davon, denn es geschieht auf Spanisch und bezieht die Seitenangaben zudem auf die spanische Ausgabe.

Besprochen von Stefan May

Patricio Pron: Der Geist meiner Väter steigt im Regen auf
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2013
224 Seiten, 18,95 Euro
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