Unangenehme Wahrheiten

Kampfschrift gegen Kulturrelativismus

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Toleranz ist keine milde Geisteshaltung, sondern robustes Eintreten gegen Borniertheit. © picture alliance / zb / Andreas Franke
Von Catherine Newmark · 12.05.2015
Es sei gar nicht möglich, etwas authentisch zu respektieren, was man für irrational und dumm hält, sagt der israelische Psychologe Carlo Strenger. Das sei falsch verstandene Toleranz. Sein Essay "Zivilisierte Verachtung" fordert dazu auf, klare Grenzen zu ziehen.
"Zivilisierte Verachtung" fordert der israelische Psychologe und Ideenhistoriker Carlo Strenger von uns. Und unwillkürlich fragt man sich: Kann eine solch harte Haltung wie Verachtung überhaupt zivilisiert sein? Und warum sollen wir überhaupt verachten? Strengers Antwort ist klar und präzise: Weil wir ohne eindeutige Ansagen darüber, was wir für falsch und unmoralisch halten, auch nicht mehr imstande sind, das hochzuhalten, was wir richtig und gut finden.
Genau in diesen Zustand aber seien wir in den letzten Jahrzehnten hineingerutscht, indem wir im Namen von Kulturrelativismus und politischer Korrektheit uns bemüht hätten, allen Kulturen, gesellschaftlichen Einstellungen und religiöse Haltungen den gleichen Respekt entgegen zu bringen.
Strenger zufolge beruht bereits dieses Bemühen auf einer Täuschung: Es sei gar nicht möglich, etwas authentisch zu respektieren, was man für irrational und dumm hält. Überdies, und das ist eine unbestreitbare Gegenwartsdiagnose: Ein solcher Respekt beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Orthodoxe Rabbiner verachten offen Nichtjuden, christliche Fundamentalisten zünden Abtreibungskliniken an, islamistische Extremisten verüben mitten in Europa tödliche Anschläge – und zugleich sind alle diese Gruppen furchtbar empfindlich, wenn man ihren Glauben kritisiert und ihre religiösen Gefühle verletzt.
In der klassischen Tradition der Aufklärung
Die kleine Kampfschrift gegen Kulturrelativismus und für universelle freiheitliche Werte trägt den Untertitel "Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit". Aber anders als man im ersten Augenblick vermuten könnte, ist Strenger keineswegs ein rechtspopulistischer Polterer, vielmehr gehört der aus der Schweiz stammende Psychologe zu den profiliertesten linksliberalen Stimmen in Israel.
Und sein Essay macht auch nicht etwa nur eine Schere zwischen westlich-freiheitlichen Gesellschaften und deren Bedrohung durch den Rest – etwa den Islamismus – auf, sondern richtet sich auch gegen die Unvernunft in unseren Gesellschaften selber: Wenn Politiker sich auf ihr Bauchgefühl berufen oder wenn jeder Stammtisch glaubt, besser über den Klimawandel (oder den Mythos desselben) Bescheid zu wissen als die Klimaforscher, dann sieht Strenger darin einen außer Rand und Band geratenen Relativismus, der selbst harte Fakten angreift.
Sein beherzter Appell für ein nach klaren sachlichen Kriterien verfahrendes Grenzziehen zwischen sinnvollen und absurden Meinungen steht in der klassischen Tradition von Aufklärern wie Voltaire, der ebenfalls in der Toleranz keine milde Geisteshaltung und kein "anything goes" sah, sondern vielmehr eine äußerst robuste Tugend, mit der sich intelligente Bürger gegen Borniertheit und Intoleranz zur Wehr setzen sollten.
Er ist gerade deshalb überzeugend, weil er nicht einseitig polemisch vorgeht. Und mit großer Plausibilität darlegt, dass man das Aussprechen unangenehmer Wahrheiten nicht dem rechten politischen Rand überlassen dürfe, dessen Verteidigung des "Abendlandes" mit genauso diffusen Ängsten und Vorurteilen behaftet ist wie die religiöse und soziale Unvernunft, die uns bedroht. Von innen wie von außen.

Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
104 Seiten, 10 Euro

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