UN-Diplomat: Entwicklungshilfen sind keine Almosen

Moderation: Jörg Degenhardt · 20.09.2010
"Ein Investment in die gemeinsame Zukunft", nennt der österreichische Diplomat Thomas Stelzer die Einhaltung der sogenannten Millenniumsziele der UNO anlässlich des derzeit tagenden Gipfels in New York.
Jörg Degenhardt: Große Ziele sind eine gute Sache, nur wenn sie meilenweit verfehlt werden, dann kann es schnell auch Spott geben. Es ist jetzt zehn Jahre her: Im September 2000 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die sogenannten Millenniumsziele verabschiedet, acht an der Zahl, alles wichtige Anliegen: Bekämpfung von Hunger und extremer Armut, von Übertragungskrankheiten wie Aids, Malaria, mehr ökologische Gerechtigkeit und so weiter. Was aber ist bisher erreicht worden? Darüber wird von heute an auf einem Gipfel in New York Zwischenbilanz gezogen. Wir haben das bereits getan. Ich habe mit Thomas Stelzer gesprochen, der Österreicher ist beigeordneter UN-Generalsekretär für Politikkoordination bei den Vereinten Nationen. Und weil wir mit einer guten Nachricht beginnen wollten, habe ich ihn zunächst gefragt: Welches Ziel hat die besten Chancen, tatsächlich bis 2015 umgesetzt zu werden?

Thomas Stelzer: Zwei Ziele haben sehr gute Chancen, umgesetzt zu werden. Das Ziel Nummer eins: Die Halbierung der absoluten Armut, das heißt der Menschen, die mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen müssen, und das Ziel: Zugang zu sauberem Trinkwasser. Das sind zwei Ziele, bei denen wir gute Chancen haben auf Umsetzung.

Degenhardt: Auf der anderen Seite: Bei welcher Millenniumsvorgabe gibt es noch die größten Probleme?

Stelzer: Das ist nicht so einheitlich zu sagen, weil das Bild sehr differenziert ist global. Das Ziel, das uns die größten Probleme macht, ist die Müttersterblichkeit, das ist ein Ziel, bei dem wir an und für sich erwartet hatten, schnell Fortschritte zu erreichen, aber hier sind die Ergebnisse wirklich sehr traurig, eigentlich alarmierend und katastrophal.

Degenhardt: Auch der Bundeskanzlerin geht das alles viel zu langsam, hat sie vor ihrer Abreise nach New York gesagt. Woran liegt das aus Ihrer Sicht, Herr Stelzer? Waren die Ziele vielleicht eine Nummer zu groß?

Stelzer: Die Ziele waren nicht zu groß, aber Sie wissen, wenn man 192 Staaten zusammenführen muss, auf einen Nenner bringen muss, da gibt es natürlich immer Verzögerungen. Diese Ziele waren der Beitrag der Vereinten Nationen zur Entwicklungszusammenarbeitsdebatte, Einführung von sozialen Mindeststandards in der Entwicklungsdebatte. Das war schon sehr gut.

Degenhardt: Haben Sie denn das Gefühl, dass wirklich alle mitziehen? Ich habe die Bundeskanzlerin erwähnt, der das alles, wie gesagt, zu lange dauert. Wie sehen Sie zum Beispiel den Beitrag Deutschlands zur Erreichung der Millenniumsziele?

Stelzer: Also die Staaten der Welt haben sich einige Ziele gesetzt, nämlich 0,7 Prozent des Bruttonationalproduktes für die Entwicklungshilfe aufzubringen. Bis jetzt sind nur fünf Staaten global auf dem Weg, alle anderen hinken nach. Bei dem Ziel, bis 2010 bei 0,5 Prozent zu sein, auch da hinken alle hinten nach ...

Degenhardt: Also auch die Deutschen?

Stelzer: Auch Deutschland hinkt da hinten nach, wie fast alle Staaten. Hier müssten wir uns wirklich zusammennehmen und das, was wir versprochen haben, umzusetzen. Es geht ja nicht darum, neue finanzielle Mittel aufzubringen, es geht darum, diese Mittel in die Kasse zu bringen, die schon zugesagt sind, damit wir uns darauf verlassen können, und damit die Staaten diese finanziellen Mittel für ihre nationalen Entwicklungsstrategien zur Verfügung haben.

Degenhardt: Wie hat sich denn eigentlich die Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Erfüllung der Ziele ausgewirkt, zum Beispiel, was die Bekämpfung von Hunger und extremer Armut angeht?

Stelzer: Bis jetzt: In absoluten Zahlen ist das, was die Staaten beitragen, gestiegen, aber natürlich: Die Wirtschaftskrise hat schon Auswirkungen, weil die Staaten aufgrund ihrer Autoritätspolitik, aufgrund der Schuldenbekämpfung immer weniger in der Lage sind, diese Beiträge ihren eigenen Wählern glaubhaft zu machen. Hier liegt es einfach, dass wir – und da wird uns der Gipfel vielleicht helfen –, dass wir alle übereinkommen, dass Investment in Entwicklungszusammenarbeit keine Almosen sind, nichts ist, das wir freiwillig machen, sondern ein Investment in die gemeinsame Zukunft, damit wir diese großen Scheren zwischen extremer Armut und steigendem Reichtum endlich überwinden können.

Degenhardt: Was passiert eigentlich oder was befürchten Sie, Herr Stelzer, wenn die Millenniumsziele bis 2015 nicht erreicht werden? Werden dann Nord- und Südkonflikte wieder zunehmen?

Stelzer: In den Staaten, wo die Entwicklung nachhinkt, die sind einfach verletzlicher, die sind instabiler, dort sind die staatlichen Strukturen schwächer. Diese Staaten sind Unruhen, innerstaatlichen Konflikten mehr ausgeliefert. In absoluten Zahlen ist es ganz klar: Heute sind ... eine Milliarde Menschen auf dieser Welt gehen am Abend schlafen, ohne genug gegessen zu haben. Viele davon, ... die UNO füttert heute jeden Tag über 120 Millionen Menschen weltweit, Menschen, die sterben, wenn sie von der UNO nicht Nahrungsmittel bekommen. Das ist natürlich eine Schande. Gleichzeitig: Wenn wir andere Ziele nicht erfüllen, Müttersterblichkeit, in Sub-Saharan Africa gebären heute mehr als die Hälfte der Frauen ohne irgendeine Hilfe. Diese Ziele sind leicht zu erreichen, wenn wir uns zusammennehmen, genauso wie die Überwindung der großen Seuchen. Wir haben einen großen Fortschritt gemacht, HIV-Infizierten Medikamente zur Verfügung zu stellen. Erstmals sind wir jetzt allerdings in der Situation, dass wir nicht mehr genug Geld aufbringen, um das fortzuführen, das heißt, Menschen in Afrika bekommen den Eindruck, dass es dem Norden einfach nicht wichtig genug ist, sie am Leben zu erhalten, indem wir ihnen die Medikamente zur Verfügung stellen. Das sind Alarmzeichen. Hier muss man sich einen Stoß geben und hier muss die Internationale Gemeinschaft zusammenkommen und wirklich einen positiven Schritt setzen.

Degenhardt: Hier muss man sich einen Stoß geben, sagen Sie. Auf dem Gipfel in New York wird es aber jetzt wahrscheinlich natürlich wieder erneute Absichtserklärungen geben, es wird Schuldzuweisungen geben für das, was noch nicht erreicht wurde und wer dafür verantwortlich ist. Rechnen Sie denn vielleicht auch mit mehr, mit einem Durchbruch?

Stelzer: Einen Durchbruch wird es hier nicht geben. Wir erwarten natürlich viele Erklärungen, aber Interpretationen, Umsetzungsmöglichkeiten, neue Ideen, neue Initiativen. Ob das dann umgesetzt wird, hängt von den Politikern ab, aber auch von der Zivilgesellschaft. Deswegen ist dieser Gipfel ja nicht nur eine Plattform, wo Regierungen miteinander reden, sondern wir haben auch die Zivilgesellschaft eingeladen, NGOs werden sprechen, UNO-Organisationen werden sprechen, die Privatwirtschaft wird zum Zug kommen und zum reden kommen hier.

Degenhardt: Das heißt, wir können nicht mehr mit dem Finger auf die Politiker zeigen und wir müssen uns auch an die eigene Nase fassen?

Stelzer: Ganz genau so ist ja Demokratie, das ist eine Verantwortung all jener, die einfach Eigentum haben. Es genügt nicht, auf irgendjemanden zu zeigen. Wir müssen uns alle anstrengen. Die Zivilgesellschaft muss den Politikern auch erklären, warum das ein Thema ist, auch ein politisches Thema, damit die Politiker, wenn sie New York verlassen nach dem Gipfel, auch daran denken, dass diese gemeinsamen Ziele wirklich umgesetzt werden müssen.

Degenhardt: Der Weg ist noch lang bis zum Erreichen der Millenniumsziele, heute wird in New York eine Zwischenbilanz gezogen. Wir haben das jetzt schon getan, mit Thomas Stelzer. Er ist beigeordneter UN-Generalsekretär für Politikkoordination bei den Vereinten Nationen.