Umstrittenes EKD-Papier

"Unser Problem ist nicht ein Zuwenig an Freiheit"

Gebet, Beten, Kirche, Glauben
Ist die Rechtfertigung der Kern der evangelischen Theologie? © dpa / picture alliance / Armin Weigel
Martin Laube im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 06.07.2014
In ihrer Schrift "Rechtfertigung und Freiheit" erinnert die EKD an den Kern der reformatorischen Theologie. An dem Papier hat sich zuletzt eine Menge Kritik entzündet. Worum es dabei geht, erklärt der Theologe Martin Laube.
Kirsten Dietrich: Die Kirchen streiten um die Rechtfertigung. Vor 500 Jahren entflammte dieses Thema die Gemüter und führte letztlich zur Trennung der Christenheit in katholische Kirche und evangelische Kirchen. Heute ist erst mal bemerkenswert, dass überhaupt gestritten wird. Denn Rechtfertigung ist heute so etwas wie das unbekannte Herzstück des protestantischen Glaubens. Den Begriff kennt man, man weiß, dass er irgendwie evangelisch ist, aber was damit genau gemeint ist, können nur noch Theologieprofessoren und ganz überzeugte Christen aus dem Stand sagen.
Das will die evangelische Kirche ändern, und deshalb hat sie vor einem guten Monat eine Schrift vorgestellt, in der neu ins Bewusstsein gerückt werden soll, was das eigentlich heute bedeuten kann, die Rechtfertigung des sündigen Menschen allein durch Gottes Gnade. "Rechtfertigung und Freiheit" heißt das Papier und an ihm entzündet sich jetzt Kritik aus theologisch-konservativen Kreisen, von Kirchengeschichtlern, vor allem aber aus der katholischen Kirche.
Ich habe deshalb vor der Sendung mit Martin Laube gesprochen, er ist Professor für systematische Theologie an der Universität Göttingen. Ich habe mit ihm über die Kritik an der Schrift gesprochen, aber zuerst einmal über deren ganz optimistische Grundannahme, dass nämlich der sperrige Begriff Rechtfertigung auch den Menschen heute noch etwas zu sagen hat.
Martin Laube: Das ist die Intention dieses Textes anlässlich des bevorstehenden Reformationsjubiläums, gleichsam den Kern reformatorischer Theologie zu bestimmen, zusammenzufassen, das normative Zentrum, glaube ich, wie es heißt, herauszuheben. Und das wird im Gedanken der Rechtfertigung gesehen in der Weise, dass Rechtfertigung und Freiheit – wie im Titel – miteinander verknüpft werden. Also den Akzent weniger jetzt zu legen auf die niederdrückende Dimension der Sünde oder den Hintergrund des strafenden, richtenden Gottes, sondern deutlich zu machen, dass dieser Rechtfertigungsgedanke eine Freiheitsdimension impliziert, die auch für das heutige Lebensverständnis, welches von Freiheit geprägt ist, welches die Freiheit zu ihrem Leitwert erhoben hat, etwas zu sagen hat.
Damit verbindet sich dann auch, wenn ich das vielleicht noch anmerken darf, das Interesse deutlich zu machen, dass auch dieser neuzeitliche Freiheitsgedanke zwar nicht linear abgeleitet werden kann aus der christlichen Rechtfertigungs- oder Befreiungsbotschaft, aber doch in einem spannungsverwickelten, komplementären Verhältnis steht.
Dietrich: Also dass die Kirche nicht nur was zum Thema "Wie werde ich vor Gott irgendwie gerecht" zu sagen, sondern auch was dazu, wie der Mensch überhaupt heute sich als freier Mensch, als freies Individuum verhalten kann?
Laube: Ja, und dass die Gottesbeziehung gleichsam die Wurzel für ein neues Weltverhältnis darstellt. Also eine gestaltende, freisetzende, den Menschen ermutigende, auf die Füße setzende Kraft entfaltet, das ist, glaube ich, der Hintergrund.
Das Interesse an der Heilsgewissheit
Dietrich: Nun merkt man dem Papier ja auch an und Sie haben jetzt auch schon Begriffe verwendet, die zeigen, dass das gar nicht so leicht ist in der heutigen Zeit, von Rechtfertigung, von diesem ganzen Konzept zu reden. Also, der Mensch versteht sich als Sünder vor Gott, der Mensch braucht Gnade, das sind ja alles Begriffe, die Schrift "Rechtfertigung und Freiheit" nennt das einmal eine Zumutung richtig, also, Gnade ist auch eine wirkliche Zumutung. Gerade für den Menschen heute, der vielleicht sich gerne mal sagen lässt, okay, du musst nicht alles selber machen, aber du kannst auch gar nicht, das Entscheidende kannst du auch gar nicht selber schaffen. Das hört heute niemand so richtig gerne!
Laube: Das ist richtig. Und ich würde jetzt auch sagen: In dieser einseitigen Zuspitzung zeigt sich dann auch die Ambivalenz des Versuchs, den Gedanken der Rechtfertigung einfach in die heutige Zeit zu übertragen. Also, es steckt im Rechtfertigungsgedanken, in der Tradition tatsächlich immer das ängstliche Bemühen, auf jeden Fall zu vermeiden, dass der Mensch in Fragen des Heils irgendetwas kann. Der Hintergrund ist gerade das Interesse an der Heilsgewissheit. Es soll eben Gott alleine für das Heil verantwortlich sein, damit dieses Heil nicht abhängig wird von den Launen, von den Beschränkungen, von den Wandlungen innerhalb des Menschlichen. Das hat aber eben dazu geführt, dass die Schattenseite oder die Kehrseite dieses Rechtfertigungsgedankens diese starke These von einer Unfreiheit des Willens, von einem Nichtkönnen des Menschen ist. Und wenn man das einfach dabei belässt, dann ist es in der Tat für die heutige Zeit schwierig.
Dietrich: Nun gab es ja Kritik eher von theologisch-konservativer Seite, dass das sogar fast noch zu wenig rausgestellt ist, dass es also in dieser Schrift jetzt hauptsächlich darum geht, eben diese Rechtfertigung als einen befreienden Zuspruch, als einen Gnadenzuspruch erfahrbar zu machen, dass dieser Aspekt dessen, dass eben auch das Gesetz, wie das dann heißt, gepredigt wird, dass der Mensch also sozusagen erst mal seiner eigenen Sündhaftigkeit überführt werden muss, dass das gar nicht genügend berücksichtigt wird?
Laube: Das ist richtig, ich würde aber den Akzent auf eine andere Dimension richten, etwas anderes für schwierig halten. Wenn wir uns die heutige Zeit angucken – jetzt meine ich unsere Gesellschaft hier in der Bundesrepublik im Westen –, dann glaube ich eben, dass wir wahrnehmen müssen, dass wir nicht in einer Zeit der Emanzipation leben oder der Befreiung, sondern im Zeitalter der Folgen der Emanzipation, der Folgen der Freiheit.
Also zugespitzt formuliert: Unser Problem ist doch nicht ein Zuwenig an Freiheit, sondern ein Zuviel an Freiheit. Wir haben so dermaßen viele Optionen und Möglichkeiten offenstehen, das wir geradezu verzagen gegenüber diesen Optionen, ob sich nicht vielleicht doch noch eine andere, bessere finden ließe, ob nicht doch bei genauerem Überlegen man feststellen muss, man hat die falsche gewählt, dass man gleichsam verwirrt ist angesichts dieser vielen Möglichkeiten.
Und insofern, vor diesem Hintergrund also geradezu eines Überfordertseins mit den vielen Möglichkeiten, die uns offenstehen, die erlösende Dimension des Glaubens vielleicht nicht darin gesucht werden sollte, jetzt da noch mal diese Befreiung zuzusprechen – das wirkt ja so, wie einem Ertrinkenden die Schönheit des Meeres zu erklären –, sondern dafür zu sorgen, dass es auch um etwas Befähigendes gehen muss, um etwas, was Kraft vermittelt, was Zutrauen vermittelt, um mit dieser Freiheit umgehen zu können.
Und dann geht es gerade nicht darum, die Rechtfertigung so zu entfalten, dass man zu Ruhe kommen soll, ablassen soll, dass es ein Entpflichten von einem Müssen ist, sondern dass es genau umgekehrt als eine Bekräftigung verstanden werden muss, als ein In-Kraft-gesetzt-Werden, Auf-die-Füße-gestellt-Werden, ein Befähigt-Werden zum Hantieren-Können mit den Möglichkeiten der Freiheit. Und das ist ein Akzent, der in dieser Schrift, finde ich ... bei der es schade ist, dass er in dieser Schrift etwas in den Hintergrund getreten ist.
Dietrich: Landet man da nicht aber wieder bei einer Religion, die dem Menschen ganz deutlich Verhalten vorschreibt und ihn damit einengt?
"Es geht nicht darum, etwas vorzuschreiben"
Laube: Nein, weil der Gedanke der Freiheit ja gewahrt werden soll. Es geht nicht darum, hinter die Freiheitsräume zurückzugehen oder das infrage zu stellen, überhaupt nicht. Es geht darum, den Charakter der christlichen Gnade, des Evangeliums so zu verstehen, dass er tatsächlich als Befreiung bekräftigt und in die Lage versetzt, das eigene Leben dann auch führen zu können. Es geht nicht darum, etwas vorzuschreiben oder die Regeln festzulegen, sondern dass dieser Zuspruch nicht einer ist, der in Passivität versetzt, sondern der in Aktivität versetzt, der stark macht zu handeln, der irgendwie einen in die Lage versetzt auch, Perspektiven ergreifen zu können, der insofern genau die tätige, die kräftige Seite betont. Finde ich jedenfalls!
Dietrich: Wenn wir bei den verschiedenen kritischen Aspekten sind, was sagen Sie denn zu der Kritik, dass Rechtfertigung, Gnade, Freiheit, all diese Begriffe zu sehr als Bausteine für eine Theologie in der Gegenwart genutzt werden und der historische Hintergrund gar nicht genügend berücksichtigt wird?
Laube: Diese Anfrage ist sicher berechtigt, aber da muss man jetzt danach fragen, was dieser Text will. Und er will in der Tat, glaube ich, kein kirchengeschichtliches Kompendium sein, sondern er will das Reformationsjubiläum nutzen, um gleichsam den bleibenden Ertrag, die Pointe, den Kern des Reformatorischen zur Geltung zu bringen. Es ist vielleicht unglücklich, das in der Weise zu machen, dass es geradezu als Ausdruck oder konsequenter Niederschlag sozusagen dieser Reformationsepoche gemacht wird, das ist ein Kurzschlussversuch.
Aber das Interesse ist, glaube ich, wirklich deutlich zu machen, was kann das Reformatorische, was kann das Evangelische, was kann das Protestantische heute sein? Und insofern muss man dieses Interesse nehmen, um dann allerdings festzustellen, finde ich, dass da sehr viel Richtiges gesagt worden ist, aber eben manchmal leider auch nur Richtiges.
Dietrich: Jetzt muss man in diesem Horizont auch die Kritik von katholischer Seite aus betrachten, also, Kardinal Walter Kasper, der im Vatikan lange für die Ökumene zuständig war, hat gesagt, der Text sei eine nationalkirchliche, konfessionalistische Eigenbrötlerei, weil er gar nicht erwähnt, dass Katholiken und Protestanten sich über die Rechtfertigungslehre in zentralen Aspekten vor 15 Jahren verständigt haben!
Laube: Dann hätte ich jetzt Herrn Kasper empfohlen, den Text nochmal zu lesen, denn es steht ja deutlich drin, dass es mit der katholischen Kirche eine Einigung in Sachen Rechtfertigung gegeben hat, dass seitdem auch weitere Differenzpunkte bestehen in Fragen des Amtes vor allen Dingen, und insofern man doch auch erkennen muss – das steht jetzt nicht drin, das füge ich hinzu –, dass es eben mit einer dogmatischen Lehreinigung ganz offensichtlich nicht getan ist, sondern dass man ja sehen muss, dass die gelebte Form des Christseins doch stark in ihrer Praxis differiert und dass diese Differenzen doch entscheidend sind. Also, da würde ich jetzt dann doch sagen, das ist etwas aus der Hüfte geschossen.
Im Hintergrund steht vielleicht der Versuch, dann doch auch dieses Ereignis 2017 in eine ökumenische Feier so zu überführen, dass man gelegentlich den Eindruck hat, die Regeln im Hintergrund sollen konfessionell anders gebaut werden.
Dietrich: Ob also 500 Jahre Reformation im Jahr 2017 nun ein Grund zum Feiern sind oder doch eher ein Grund zur Klage über den Beginn der Spaltung der christlichen Kirche in Protestanten und Katholiken? Der Streit darüber wird weitergehen. Über die EKD-Schrift "Rechtfertigung und Freiheit" sprach ich mit Martin Laube, er ist Professor für systematische Theologie an der Universität Göttingen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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