Umgang mit dem Holocaust

"Ein Teil unserer Identität"

Zwei Freunde besuchen die Jüdische Schule in Hamburg.
Kinder stellen viele Fragen über die Vergangenheit, die sich die Eltern nicht zu fragen getraut haben. © picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt
Von Julia Smilga · 22.01.2016
Der Holocaust prägt die Angehörigen derer, die ihn überlebt haben. Und auch die Nachfahren der Täter suchen nach Antworten zur Vergangenheit ihrer Familien. Wir haben uns mit der dritten Generation nach der Shoah befasst.
"Ich erinnere mich noch gut daran, als ich das erste Mal damit konfrontiert wurde. Nachdem ich als Kind meinen Eltern schon alle 'Warums' gestellt habe, musste mein Opa herhalten."
Joelle Lewitan liest aus ihrem Artikel "Sind Traumata vererblich?". Den Beitrag verfasste sie für das Magazin "Jung, jüdisch, bayerisch". In diesem Medienprojekt der Janusz Korczak-Akademie in München sollten die jüdischen Jugendlichen darüber schreiben, was sie aktuell bewegt. Die 16- jährige Joelle entschied sich für das Thema "Holocaust in der dritten Generation".
"Opa, warum warst du Schneider?"
"Na, weil ich das gelernt habe."
"Warum?"
"Weil ich nichts anderes lernen konnte."
"Warum?"
"Maidelach, was fragst du so viel. Weil das damals nicht ging."
"Warum?"
"Es ist Krieg gewesen."
"Seitdem ist dieses Thema auf dem Tisch. Oma und Opa erzählen oder schweigen darüber, was manchmal gleich viel sagt. Wir erwischen Mama und Papa bei einer brutalen Kriegsdokumentation, die wir heimlich mit ansehen und nach der wir Alpträume kriegen. Es ist Teil unseres Lebens, Teil unserer Identität."
Tiefe Spuren aus der Vergangenheit
Dass ihre Großeltern den Holocaust in einem Versteck in Polen überlebt haben, weiß Joelle seit frühster Kindheit. Sie ist die dritte Generation nach der Shoah. Joell wurde in München geboren, sie geht aufs Gymnasium und führt ein typisches Teenagerleben. Der Holocaust ist trotzdem Dauerthema in ihrer Familie:

"Einerseits ist es sehr nah, weil es meinen Großeltern passiert ist. Aber andererseits ist es sehr weit weg für mich, weil ich das Glück habe, den Antisemitismus so noch nie erlebt zu haben. Und mir einfach nicht vorstellen kann, dass mir so etwas passiert oder generell uns Juden so etwas passiert."
Sie selbst gehe mit dem Thema sehr ambivalent um, erklärt Joelle. Zu Hause ist es ihr oft zu viel. In der Schule, bei Freunden hingegen :
"Wenn ich mal einen unangebrachten Witz höre, dann reagiere ich extrem allergisch darauf, weil ich es für absolut notwendig halte , Leute davon abzuhalten, über dieses Thema ein Witz zu machen. ich schätze, es ist auch nicht normal. Es ist lustig, weil ich das sehe an meinen Eltern... ich glaube, dass es sich immer fortsetzt, bei ihren Eltern reagieren sie immer allergisch darauf oder wenn jemand Außenstehender etwas darüber sagt, reagieren sie auch allergisch darauf. Und genau so geht es weiter bei mir."
Wird der Holocaust an die dritte Generation weitervererbt? Ja - sagt Joells Vater, der Psychologe Louis Lewitan. Er weiß aus eigener Forschung: auch in der dritten Generation nach der Shoah finden sich tiefe Spuren aus der Vergangenheit.
"Es gibt eine Transmission, also eine Weitergabe psychischer Konflikte an die nächste Generation. Man stelle sich vor, eine Mutter, die das KZ überlebt hat. Eine solche Person kann nicht unbeschwert leben. Sie hat das Problem, dass sie aus ihrem kulturellen Kreis herausgerissen wurde, dass sie Menschen verloren hat, Besitz - und nun soll diese Person jenseits der Geschichte offen sein für ihr Kind, welches wenige Jahre nach der Shoah auf die Welt kommt? Und die Kinder, die nun heut zu Tage erwachsen sind, und selber Kinder haben, sind natürlich betroffen, beeinflusst und geben ihre inneren Konflikte an die Kinder weiter."
Traum von einer Gesellschaft ohne Nationen
Das trifft aber nicht nur auf die Nachkommen der jüdischen Opfer zu, sondern auch auf die Nachkommen deutscher Täter und Mitläufer – sagt Psychologe Jürgen Müller-Hohagen, Leiter des "Dachau Institut Psychologie und Pädagogik". Sowohl in jüdischen als auch in deutschen Familien herrschte jahrelang Schweigen. Die Überlebenden schwiegen, weil das Geschehene unfassbar war. Die andere Seite wollte sich durch das Schweigen schützen, und zwar davor:
"...von den eigenen Kindern, kritische Fragen zu bekommen. Dass man verhindern wollte, dass überhaupt nur der Finger darauf gelegt werden konnte, in den Familien und auch außerhalb – und dass auch gelogen wurde. Und das hat dann auch die Familienbeziehungen durchzogen, das durchzieht sich auch über Generationen hinweg bis heute."
Max Henneke stimmt dem zu. Der 19 jährige Münchner interessiert sich für das Thema "Vergangenheitsbewältigung" und verpasst keine Veranstaltung dazu. Wir treffen ihn bei der Podiumsdiskussion "Die dritte Generation nach der Shoah" im Münchner Gasteig im vergangenen November. Max setzt sich schon lange kritisch mit der Vergangenheit seiner Großeltern auseinander:
"Mein Opa – also war Soldat, er habe anscheinend nie einen Schuss getätigt, ob das so stimmt, bezweifle ich - ich glaube, das hat er einfach schlichtweg verdrängt. Und meine Oma hat viel von dem Krieg mitbekommen, hat sich dann als Deutsche als Opfer gefühlt - so von wegen 'die Amerikaner machen uns die Stadt kaputt. Sie hat nichts mitbekommen, dass die Juden deportiert worden sind' - was Schwachsinn ist, weil ich überzeugt davon bin, dass 95 Prozent aller Deutschen davon wussten."
Aktive Verdrängung der Großeltern
Egal, wie Max nachfragt – die Großeltern mauern. Wenn sie reden, dann halten sie sich fest an der einst festgelegten geschönten Fassung ihrer Erlebnisse:
"Es ist von beiden so, dass sie es sich überlegt haben, wie damit um zugehen und auch für uns zu erzählen, weil uns interessiert ja das Thema auch , aber selber nie in die Täterrolle gerutscht sind. Und sie haben immer versucht, das Thema zu vermeiden. Es hat nicht in dem Sinne ein Aufklärung gegeben."
Max und Joelle sind sich in vielem ähnlich. Für beide liegt der Holocaust sehr lange zurück, beide finden, dass Deutschland seine Geschichte gründlich aufgearbeitet hat. Trotzdem schauen sowohl Joelle als auch Max mit wachsender Sorge auf den jüngsten Aufschwung der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland.
"Aktuell, so was wie Pegida - ist das, was mich sehr stört. Jeder Nationalismus stört mich sehr, ich habe ein Problem damit. Ich würde sagen, dass ich von einer Gesellschaft träume, in der es keine Nationen mehr gibt."
Auch Joelle hat ihre Träume. Sie möchte das Gedenken an den Holocaust für die Zukunft weiterentwickeln. Für ihren Artikel im Magazin "Jung jüdisch bayerisch" hat Joelle dafür eine mathematische Formel entwickelt. Sie lautet:
"Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, - geteilt durch Erinnerung und Gedenken, - mal nach vorne schauen."
"Ich denke es ist einerseits wichtig, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, dazu muss man zuerst wissen, wie man zu dem Thema steht, wie die anderen dazu stehen. Und dann ist es natürlich wichtig zu gedenken an das. was passiert ist . Aber andererseits auch nach vorne schauen. Das ist so der wichtige zweite Teil, dass man auch nach vorne schaut."
Mehr zum Thema