Umgang mit Angehörigen von Opfern

"Traurigkeit ist ein angeborenes Gefühl - wie Freude"

Schweigeminute vor dem Le Carillon in Paris, drei Tage nach den Terroranschlägen vom 13.11.2015
Schweigeminute vor dem Le Carillon in Paris © dpa / Thomas Padilla
Mechthild Schroeter-Rupieper im Gespräch mit Philipp Gessler · 22.11.2015
Der Tod eines Angehörigen ist immer schlimm, wenn bei Terroranschlägen Menschen ums Leben kommen, gelten allerdings spezielle Umstände. Familientrauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper spricht über Wege und Rituale des Abschiednehmens. Sie warnt davor, Menschen die Fähigkeit der Traurigkeit wegzunehmen.
Philipp Gessler: Was vor rund zehn Tagen in Paris passiert ist, steckt uns allen noch in den Gliedern. Es ist schon schlimm genug, dies nur über Fernsehbilder mitzubekommen. Wie schrecklich muss es sein, bei solchen Anschlägen Angehörige zu verlieren? Mit Mechthild Schroeter-Rupieper habe ich über Trauer gesprochen. Die Erzieherin und Kindergartenleiterin hat seit 1998 eine Praxis für Familientrauerbegleitung. Viele Jahre Erfahrung hat sie in dieser harten Arbeit und schon einige Bücher in Sachen Trauerarbeit geschrieben. Meine erste Frage an die Gelsenkirchenerin war, was das Besondere an der Trauer der Angehörigen von Attentatsopfern ist: Trauen sie anders?
Mechthild Schroeter-Rupieper: Im Anfang trauern die häufig anders, weil die in einen Schockzustand geraten und begreifen erst nach und nach, was da passiert ist. Also ein Attentat oder ein Sterben an Krebs ist sicherlich ein Unterschied, weil ich mich bei dem einen vielleicht darauf vorbereiten kann und das andere kommt gewalttätig einfach daher, das schlägt im wahrsten Sinne wie eine Bombe einfach ein, auch in mein Privatleben, in mein Gefühlsleben, in den Alltag.
Gessler: Haben Sie denn schon mal solche Angehörige von Attentatsopfern als Klienten, kann man sagen, gehabt?
Schroeter-Rupieper: Wir erleben das in der Trauerbegleitung schon immer wieder. Ein Attentat ist ja auch der Absturz der Germanwings gewesen, so kann man das sicherlich nennen, da haben wir das erlebt. Genauso aber auch bei Gewalttaten, wenn ein Elternteil oder ein Kind umgebracht wird innerhalb einer Familie.
"Die Trauer nach einer Gewalttat macht auch wütend"
Gessler: Wie war das selbst, als Sie das gehört haben, in Paris, was da passiert ist – haben Sie auch in gewisser Weise getrauert?
Schroeter-Rupieper: Ich bin erschrocken gewesen, und es macht so ein bisschen fassungslos. Man verliert tatsächlich diese Fassung, und diese normale Welt, diese Vorstellung, die man von der normalen Welt hat, die bricht einfach zusammen. Die Gewalt, die plötzlich an öffentlichen Orten da ist, die da ist, wo es hell ist, wo Menschen sind, wo das Fernsehen ist, wo die Polizei da ist, Orte, wo man sich eigentlich sicher fühlt, werden auf einmal dadurch unsicher gemacht. Trauer habe ich für mich selber nicht verspürt, aber sicherlich Mitgefühl.
Gessler: Nun ist ja der gewaltsame Tod durch Unglücke, durch Attentate, durch Morde, vielleicht auch durch Suizide schwer zu tragen, das ist klar. Ist er vielleicht besonders schwer zu tragen, weil dahinter Gewalt steht?
Schroeter-Rupieper: Die Trauer nach einer Gewalttat ist schmerzhaft und die macht auch gleichzeitig wütend, und die Wut, die verdrängt dann manchmal auch wieder das Trauern. Es kommen ganz viele Fragen rein, was wäre wenn gewesen, hätte man was verhindern können, wieso hat jemand nicht drauf geachtet, vielleicht suche ich jemanden, den ich schuldig machen kann, vielleicht fühle ich mich selber schuldig. Also ganz viele solche Aspekte spielen da einfach mit rein und erschweren sicherlich die Trauer.
Dieser Schockzustand, der gleichzeitig eine psychische Hilfe ist, damit ich nicht direkt darunter zusammenbreche unter dem Begreifen, was da geschehen ist, lässt nach und nach nach, und ich begreife Stück für Stück für Stück, was das eigentlich für eine Bedeutung für mein Leben, für meinen Alltag hat, und ich begreife manchmal vielleicht auch erst Stück für Stück diese Dimension, die diese Gewalttat mit sich bringt.
"Wo bin ich gewesen, um mein Kind zu schützen?"
Gessler: Nun sagt man ja immer, der Tod der eigenen Kinder, das ist das Schlimmste, was man zu ertragen hat. Würden Sie dem zustimmen?
Schroeter-Rupieper: Ich persönlich kann dem nicht zustimmen, aber ich weiß, dass es Menschen gibt, die das für sich so benennen und das für sich auch so fühlen. Ich selber kann aus der Erfahrung nur sagen, ich habe drei Söhne, und dann wäre ja gleichzeitig wieder die Frage, welches dieser drei Kinder wäre vielleicht das Schlimmste. Wenn ich anfange, eine Wertigkeit aufzustellen, und ich lebe eine sehr gute Beziehung und ich wollte auch nicht meinen Mann dafür eintauschen, dass mein Kind nicht stirbt und umgekehrt auch nicht, und ich bin eigentlich sehr froh darum, dass ich sowas nicht entscheiden muss, und ich glaube einfach, dadurch, dass wir unterschiedliche Beziehungen leben, auch unterschiedliche Liebe vorhanden ist, und deswegen diese Wertigkeiten einfach schwierig sind.
Gessler: Aber generell scheint es so zu sein, dass Menschen eher zusammenbrechen am Tod von ihren eigenen Kindern als dem Tod, sagen wir, von den Eltern oder von anderen Angehörigen. Kann das sein?
Schroeter-Rupieper: Ich denke, es zerreißt noch mal anders das Herz, und wir haben uns eine Reihenfolge aufgestellt und wir sagen, man stirbt, wenn man ganz alt ist, wenn man ganz feste krank ist oder durch ein Unglück, und wir berechnen dabei nicht, dass unser Kind auch sterben könnte. Diese Sicherheit, die wir in uns fühlen, die man uns vielleicht auch immer benannt hat – man stirbt erst, wenn man alt wird –, die wird plötzlich auf den Kopf gestellt, und die gefühlte Reihenfolge ist durcheinandergewirbelt. Eltern und auch Erwachsene haben und verspüren grundsätzlich diesen Auftrag und dieses Gefühl in sich, ich möchte auf mein Kind aufpassen, ich bin für mein Kind verantwortlich, ich muss auf mein Kind achten.
Da, wo Eltern sich schon fragen, habe ich auf mein Kind nicht aufgepasst, weil das so oft erkältet ist, da ist natürlich die ganz große Frage da, wo bin ich gewesen, um mein Kind vor der Gewalttat zu schützen, vor dem Unfall zu schützen, vor dieser Krankheit zu schützen, mein Kind hätte nicht sterben dürfen, ich bin dafür verantwortlich. Da mischen sich ganz, ganz viele Gefühle, Erziehungsdinge mit rein. Ich glaube, es ist einfach tatsächlich diese Reihenfolge und dieser Schutzinstinkt, den wir in uns haben.
"Die Religion bietet uns natürlich einen sicheren Ort"
Gessler: Nun sagt man ja immer, man muss Trauer zulassen. Ist nicht in manchen Situationen auch schlicht Verdrängung eine Methode, sodass man vielleicht nach einer Weile dieses Gefühl überhaupt tragen kann oder ist Verdrängung immer schlecht?
Schroeter-Rupieper: Nein, Verdrängung ist natürlich auch eine Fähigkeit, die wir haben müssen, denn wenn wir immer nur und permanent trauern, dann würde uns das vielleicht auch kraftlos, energielos machen. Ich denke, was grundsätzlich gut ist, ist, dass wenn wir die Fähigkeit in uns haben, dass wir emotional sein können, dass wir weinen können, dass wir aber auch wütend sein dürfen und können, dass wir handeln können, dass wir denken können, dass wir reflektieren können, dass wir sachlich sein können, dass wir verdrängen können – ich denke, all diese Dinge sind einfach wichtig für gutes gelingendes Leben, nicht nur Trauerzeiten, aber auch besonders in Trauerzeiten.
Was Trauer tatsächlich braucht, ist ein Ausdruck: Alles, was mich beeindruckt, im Guten und im Schlechten, muss einen Ausdruck finden, sonst platze ich irgendwann, aber tatsächlich kann es gut sein – ich habe heute von einer Familie gehört, wo ganz große Trauer da ist, dass diese Familie sich im Augenblick jeden Abend an den Tisch setzt und die machen ein Gesellschaftsspiel und sagen, das hilft uns, für eine halbe Stunde nicht daran zu denken, weil dieses Gesellschaftsspiel erfordert so viel Konzentration, dass wir gleichzeitig nicht traurig sein können. Da setzen die taktisch was ein, was gesund ist und was gleichzeitig noch ein Gemeinschaftsgefühl in der Familie fördert.
Gessler: Welche Rolle spielt denn eigentlich Religion beim Trauern? Hilft es, wenn man religiös ist? Ist dann die Trauer nicht ganz so hart, weil man vielleicht eine andere Perspektive noch hat?
Schroeter-Rupieper: Ich erlebe Menschen, die gläubig sind und die sich in der Trauer auch getragen fühlen, als Menschen, die sich eher auf das Schicksal einlassen und die vielleicht etwas leichter damit umgehen können. Es gibt auch andere Menschen, die nicht gläubig sind, die auch ihren Weg finden, aber ich denke, die Religion, die bietet uns natürlich auch einen sicheren Ort, an den wir diesen Verstorbenen geben können, und die Religion bietet, wenn Religionsvermittlung gut gelungen ist, dann bietet sie einen Gott, der mich auch in dem Schmerz trägt und einen Gott, der den Toten trägt.
Letztens ist in einer Familie gesagt worden, und dann wechselt er von der einen Hand Gottes in die andere Hand Gottes, und dann wurde eben gemeint, vom Leben in den Tod rein. Ich erlebe schon Kinder und Erwachsene, die sagen, ohne Glauben, wie sollte ich das schaffen. Oder wenn es für mich keinen Himmel gäbe, dann wüsste ich nicht, wie ich damit klarkommen sollte. Oder Menschen, die einfach sagen, ich kann Leid einfach besser aushalten, weil da noch jemand ist, den ich anschreien kann, den ich anbeten kann, den ich bitten kann und den ich manchmal bei mir spüre.
"Rituale sind Hilfen für Trauernde"
Gessler: Nun leben wir ja in einer Zeit, zumindest hier in Deutschland oder sagen wir in Europa, wo die Säkularisierung immer weitergeht, wo auch die religiösen Trauerrituale immer weniger bekannt sind oder immer weniger gelebt werden. Sehen Sie darin ein Problem?
Schroeter-Rupieper: Ja, Rituale sind Hilfen für Trauernde. Zum Beispiel, wenn wir einen toten Menschen waschen, dann waschen wir den, weil es eine Segensgeste ist. Das Wasser ist eine Segensgeste, weil wir ihm noch mal einen Liebesdienst erweisen, weil wir noch mal begreifen, dass er gestorben ist, und wir können diesen Menschen, der gestorben ist, der vielleicht sogar gewalttätig gestorben ist, ganz viel Liebe noch mal mitgeben. Wenn ich darum nicht weiß, dann verkommt so ein Ritual zum Saubermachen, und genau sowas passiert heute in der Gesellschaft, dass Menschen vor der Beerdigung beim Bestatter ausgezogen werden, abgeduscht werden und der Sinn des Rituals nicht mehr da ist.
Tote Menschen müssen nicht saubergemacht werden, Tote sind ganz oft sauber, und wenn ich diese Bedeutung nicht weiß, kann mir diese Bedeutung des Rituals auch nicht hilfreich sein. Oder dieses Ritual, dass man sagt, wir geben Verstorbenen eine Decke mit, das macht man in Deutschland – tote Menschen brauchen eigentlich keine Decke, weil tote Menschen nicht frieren, aber es tut mir als Trauernden gut, wenn ich eine Decke mitgebe, weil eine Decke Schutz bedeutet,
Wärme bedeutet, die gibt mir noch mal die Möglichkeit, für den Verstorbenen zu sorgen. Das sind hilfreiche Rituale, dass ich später sagen kann, wie schade, dass mein Mann gestorben ist, aber ich habe ihm noch diese Kuscheldecke vom Sofa mitgegeben, wo er immer so gerne drin gesessen hat, und dann kann das hilfreich sein. Wenn ich das aber einfach nur bezahle, weil das auf der Leistungsliste draufsteht, dann ist dieses Ritual wirkungslos.
"Traurigkeit ist ein angeborenes Gefühl - genauso wie Freude"
Gessler: Nun ist es ja oft dahergesagt, unsere Gesellschaft würde den Tod verdrängen. Ich habe, ehrlich gesagt, in den letzten Jahren nicht den Eindruck, dass der Tod unbedingt verdrängt wird. Er scheint wieder präsenter zu sein als in den vergangen Jahrzehnten. Ist das richtig?
Schroeter-Rupieper: Ich glaube, es kommt immer darauf an, in welchen Bereichen ich mich aufhalte. Wenn ich im hospizlichen Bereich bin, dann merke ich, dass die Hospizarbeit immer bekannter wird, dass Hospize immer mehr gefragt werden, die Palliativarbeit bekommt eine größere Bedeutung. Ich erlebe das in der Trauer schon so, dass immer wieder gesagt wird, Kopf hoch, das wird schon wieder, das sind Sprüche, die haben eine Wahrheit in sich, aber es wird ganz oft einfach damit verbundenen, indem man sagt, sei doch nicht so traurig, und ich denke, das, was trauernde Menschen brauchen, ist zu sagen, das glaube ich dir, dass du traurig bist, du darfst traurig sein und ich halte deine Traurigkeit aus.
Traurigkeit ist ein angeborenes Gefühl, genauso wie Freude ein angeborenes Gefühl ist, und wir machen Menschen eigentlich krank und kaputt, wenn wir denen die Fähigkeit der Traurigkeit wegnehmen. Trauer kann ich nur bewältigen unter anderem durch traurig sein. Trauer geht nicht weg, indem ich den Kopf hoch mache, die Zähne zusammenbeiße, dreißig Jahre abwarte. Freude wird einfach auch mehr, indem ich mich auf Freude einlasse, meine Freude verkünde, in die Luft springe, und genau das braucht Trauer an der anderen Seite auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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