Umfassende Abwesenheiten

Von Jörn Florian Fuchs · 03.05.2012
Der furiose musikalische Auftakt von "L'Absence" von Sarah Nemtsov ist relativ schnell verbraucht. Die Oper bleibt eine Aneinanderreihung von Splittern. Auch die hervorragenden Sänger konnten die Eröffnung der Münchener Biennale für neues Musiktheater nicht retten.
Zweifellos, die Frau kann was. Zum Beispiel wunderbare Orchester-Interludien mit kräftigen Farben komponieren. Oder krachende Schlagzeuggewitter erzeugen. Oder auch fünf Rabbiner in Kantillationen singen lassen, die jüdische Traditionen mit gegenwärtiger Avantgarde verschalten. Und eindrückliche, zeitweise unruhig umher flatternde Schmerzenskantilenen gibt es auch noch. Sarah Nemtsov ist Jahrgang 1980, streng gläubige Jüdin und zweifache Mutter. Beides, Mutterschaft und die Religion spielen in ihren Werken eine wichtige Rolle. Auch Träume und Tagebucheintragungen dienen als Quelle für Kompositionen. Ist Nemtsovs Musik aber bühnentauglich?

Mit einem Schlag beginnt das Geflecht aus Erinnerungen, Gedanken, Sinnfetzen. Nemtsov nahm als Vorlage für "L'Absence" das "Livre des questions" von Edmond Jabès, jenem aus Kairo stammenden, nach Frankreich emigrierten jüdischen Weltliteraten, dessen Spezialität das Erzählen in Bruchstücken war. Die rudimentäre Handlung im "Buch der Fragen" und der Oper "L'Absence" besteht aus einer Art innerem Monolog der Hauptfigur Sarah, die ihren Geliebten Yukel sucht.

Sarah wird durch eine Tänzerin verdoppelt, am Ende finden beide Figuren zueinander. Yukel wandert bzw. stolpert einsam durch diverse Szenen, der Rabbiner-Chor kommentiert und reflektiert das Geschehen, zwei eigentümliche Frauengestalten, die Nemtsov "Rosen" nennt, spielen auch noch eine - eher undurchsichtige - Rolle, womit wir beim eigentlichen Problem sind.

Das knapp zweistündige Werk ist eine Aneinanderreihung von Splittern, ein Teppich aus Fragmenten, der Stimmung an Stimmung, Zustand an Zustand reiht. Streckenweise berührend, dann wieder quälend langatmig nimmt man diesen "Ideenkasten" zur Kenntnis. Nach einer guten halben Stunde hat sich die vorher unter die Haut gehende Musik mehr oder minder verbraucht und die redundanten, ohrenbetäubenden Crescendi nebst brachialen Tutti-Attacken lassen einen nun ziemlich kalt. Besonders unangenehm sind zahlreiche Überlagerungen der Stimmen durch Orchesterkrach. Eine Begründung für solch rabiaten Umgang mit dem singenden Menschen im Allgemeinen und im Speziellen kann man weder aus dem Inhalt noch aus einer musikalischen Dramaturgie ableiten.

Auf der von Etienne Pluss gestalteten Bühne reiht die deutsch-iranische Regisseurin Jasmin Solfaghari derweil handwerklich solide Fragment an Fragment. Pluss schuf ein begehbares Buch mit Neonstreben und Rahmenteilen, die sich leicht verschieben lassen und immer neue Spielorte ermöglichen. Solfaghari arrangiert darin zum Teil wirkungsvoll das jeweils auftretende Personal, manches gerät wiederum arg banal. Einmal dürfen drei Streicher auf die Bühne kommen und nervöse Töne zum Besten geben - ein typischer Regienotnagel ...

Mit wirklichem Theater hat all dies letztlich wenig zu tun, außerdem kommen einem etliche szenische und musikalische Versatzstücke bekannt vor. Zudem stellt sich generell die Frage, ob die fast nebenbei mitschwingende Holocaust-Thematik samt den Verweisen auf kollektive und individuelle Traumata angemessenen Raum findet. Deutlich gelungener ist das etwa in den Musiktheaterwerken der israelischen Komponistin Chaya Czernowin oder auch in der Celan-Oper des Biennale-Leiters Peter Ruzicka.

"L'Absence" bleibt letztlich ein unentschiedenes, verkopftes Sammelsurium, das auch hervorragende Sänger wie Tehila Nini Goldstein als Sarah, Assaf Levitin als Yukel, Bernhard Landauer als Erzählerfigur und das von Rüdiger Bohn gut einstudierte Bundesjugendorchester nicht retten können.

L'Absence
Oper von Sarah Nemtsov
Libretto nach "Le Livre des Questions" von Edmond Jabès
Regie: Jasmin Solfaghari
Musikalische Leitung: Rüdiger Bohn
Muffathalle München, im Rahmen der 13. Münchener Biennale für neues Musiktheater

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