"Ultraorthodoxe müssten ein Pflichtgefühl spüren, ihr Land zu beschützen"

Uri Regev im Gespräch mit Ayala Goldmann · 13.07.2012
In Israel werden jährlich 60.000 ultraorthodoxe Juden nicht zum Wehrdienst eingezogen. Das könnte sich nun ändern: Der Oberste Gerichtshof hat diese Praxis für illegal erklärt. Auch Rabbiner Uri Regev meint: Die Ausnahmeregel "gefährdet die Sicherheit Israels".
Ayala Goldmann: Im Streit um eine allgemeine Wehrpflicht hat Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu eine Kehrtwende vollzogen. Auch er will nun, dass ultraorthodoxe Juden zum Wehrdienst herangezogen werden. Bisher sind die Ultraorthodoxen - sie selbst nennen sich "Haredim", die Gottesfürchtigen - zusammen mit Angehörigen der arabischen Minderheit vom Militärdienst ausgenommen. Die meisten Israelis empfinden es als ungerecht, dass die Ultraorthodoxen keinen Dienst an der Waffe leisten, während ihre eigenen Kinder ihr Leben bei gefährlichen Einsätzen riskieren müssen.

Was aber würde es für die israelische Armee bedeuten, wenn in großen Zahlen ultraorthodoxe Juden rekrutiert würden? Keine Frauen mehr als Sportlehrerinnen und "kascher le-mehadrin", ultra-koscheres Essen in den Kasernen? Darüber habe ich vor Beginn der Sendung mit Uri Regev gesprochen, er ist Rabbiner der Reformbewegung in Jerusalem und Präsident der Nichtregierungsorganisation "Hiddush", "Erneuerung für Religionsfreiheit und -gleichheit in Israel".

Herr Rabbiner Regev, sind auch Sie der Meinung, dass Ultraorthodoxe in der israelischen Armee Wehrdienst leisten sollten, so wie alle anderen Israelis? Ist das eine Frage der Gerechtigkeit?

Rabbiner Uri Regev: Heute ist klar, dass sich nicht nur die Frage der Gerechtigkeit stellt, sondern es geht auch um das Bedürfnis des Staates Israel nach Sicherheit. 1948 hat Ben Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, 400 ultraorthodoxe Tora-Studenten vom Militärdienst freigestellt. Das war noch zu ertragen. Aber heute sprechen wir von 60.000 jungen Männern, das sind 14 Prozent eines Jahrgangs, die nicht zur Armee eingezogen werden. Und wir wissen, dass diese Zahl in Zukunft noch wachsen wird, weil die ultraorthodoxe Bevölkerung sehr schnell wächst. Und das wird zu einer Gefahr für den Staat, wenn sie keinen Militärdienst leistet.

Goldmann: Können Sie aber nachvollziehen, wenn ein frommer Jude sagt, Tora und Talmud zu lernen ist mir viel wichtiger als der Dienst an der Waffe? Sollen diese Menschen nicht weiterhin das Recht haben, den Wehrdienst zu verweigern - aus Gewissensgründen?

Regev: Gerade ultraorthodoxe Juden müssten ein Pflichtgefühl spüren, ihr Land zu beschützen. Damals, als die Juden aus Ägypten auszogen und ins Land Israel einzogen, haben alle Wehrdienst geleistet. Und auch heute ist Kriegsdienst ein Gebot - in einer Zeit, in der Israel bereits mehrere Jahrzehnte gezwungen ist, sich selbst und seine Sicherheit zu verteidigen.

Wir von der Organisation "Hiddush" sind damit einverstanden - und ich glaube, auch die Mehrheit der Israelis sieht das so -, dass eine begrenzte Zahl junger Männer eine Befreiung vom Militärdienst bekommen und Talmud und Tora studieren soll. Wir schlagen 1500 pro Jahr vor. Aber es ist unmöglich, dass es bei 60.000 bleibt - das gefährdet die Sicherheit des Staates Israel.

Goldmann: Das israelische Verfassungsgericht hat vorgegeben, dass bis zum 1. August ein neues Gesetz über den Wehrdienst für Ultraorthodoxe verabschiedet werden muss. Glauben Sie, das wird geschehen? Hat Benjamin Netanjahu denn ernsthafte Absichten, die Ultraorthodoxen in die Pflicht zu nehmen, oder will er nur seine Regierungskoalition zusammenhalten?

Regev: Er ist in einer schwierigen Situation. Aber das Verfassungsgericht hat eindeutig geurteilt, dass die Diskriminierung und die Massenbefreiung einer Mehrheit der ultraorthodoxen Bevölkerung vom Wehrdienst nicht fortgesetzt werden darf. Und deswegen glaube ich, dass es eine Änderung geben wird. Vielleicht nicht am 1. August, vielleicht wird es einen kleinen Aufschub geben. Aber es wird etwas passieren.

Goldmann: Es gibt ja schon heute einige ultraorthodoxe Juden, die sich zum Wehrdienst einziehen lassen. Können Sie uns etwas darüber erzählen, wie das funktioniert? Gibt es denn spezielle Einheiten, spezielle Programme für die "Haredim"?

Regev: Als erstes gibt es eine kämpfende Einheit, sie heißt "Nezach Jehuda" ("Die Ewigkeit Jehudas") und besteht zum Teil aus Ultraorthodoxen, zum Teil aus religiösen Zionisten, und die meisten dieser Kämpfer sind junge Soldaten. Zweitens gibt es eine Einrichtung namens "Schachar" ("Morgenröte"), und sie ist in mehrere Einheiten der Armee integriert, zum Beispiel bei der Luftwaffe. Dort dienen ältere Tora-Studenten, die meistens schon verheiratet sind und Kinder haben, und sie arbeiten auf technologischen Gebieten. Und dann gibt es noch Ultraorthodoxe, die sich ganz allgemein in die Armee einziehen lassen, aber es gibt keine genauen Statistiken, wer sie sind und was sie machen.

Wenn wir über den Dienst von Ultraorthodoxen in der Armee sprechen, geht es vor allem um die Verstärkung der beiden ersten Kategorien, und der Wehrdienst findet selbstverständlich unter besonderen Bedingungen statt. Die ultraorthodoxen Soldaten haben keine Frauen als Befehlshaber, und ihr Essen ist streng koscher, nach ultraorthodoxen Standards. Das ist der Preis, den die Armee bereit ist zu zahlen. Und das ist der Kompromiss, zu dem auch die Öffentlichkeit bereit ist, um sicherzustellen, dass die Ultraorthodoxen Wehrdienst leisten und gleichzeitig ihren religiösen Lebensstil beibehalten können.

Goldmann: Würde das dann aber bedeuten, dass die Armee als Ganzes orthodoxer würde? Wird es nicht darauf hinauslaufen, dass die ultraorthodoxen Soldaten versuchen - noch stärker, als es jetzt schon geschieht - Veranstaltungen der Armee zu boykottieren, bei denen Frauen als Sängerinnen oder als Tänzerinnen auftreten?

Regev: Ich denke, es ist klar, dass man hier nicht zu einer perfekten Lösung kommen wird. In den vergangenen Monaten haben in Israel vor allem Frauenrechtsorganisationen ihre Sorge geäußert, dass die Rekrutierung von ultraorthodoxen Juden in großer Zahl negative Folgen für die Gleichberechtigung der Frau in der Armee haben könnte.

Andererseits ist aber klar, dass die Ultraorthodoxen in spezielle Einheiten eingezogen werden. In ihren Einheiten wird es keine Frauen als Sportlehrerinnen und keine Sängerinnen geben. Aber in den allgemeinen Einheiten der israelischen Armee ist die Gleichberechtigung der Frau ein verpflichtendes und heiliges Prinzip. Und heute achtet die Armee sehr darauf - mehr noch als vor einigen Monaten.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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