Ultraorthodoxe Aussteigerin

Für ihre Familie ist sie jetzt tot

Ultra-orthodoxe Juden auf einem Friedhof auf dem Ölberg in Jerusalem, im Hintergrund der Felsendom.
Ultraorthodoxe Juden in Jerusalem: Aus der Szene auszusteigen, kann schwierig sein. © imago / upi-Foto
Von Sigrid Brinkmann · 28.02.2016
Über ihren Ausstieg aus der ultraorthodoxen jüdischen Szene in New York hat Deborah Feldman ein Buch geschrieben, das in den USA eine Millionenauflage erreichte. Am Montag erscheint es auf Deutsch.
Die Sonnenallee in Neukölln war Deborah Feldmans erste Berliner Adresse, inzwischen wohnt sie mit ihrem Sohn in Kreuzberg. Das erste Mal brachten sie Recherchen für ein neues Buch nach Berlin – schließlich fand sie ein Zuhause.
"Klar war es wirklich schön, als ich nach Berlin angekommen bin, dass ich so anonym hier war. In New York kannte mich schon jeder. Eine Zeitlang war ich in allen Zeitungen. Und dann wusste ich auch nicht, hey, ist der auf meiner Seite oder nicht, was passiert jetzt? Werde ich angeschrien oder angezuckert, do you say this?"
Mitglieder der Satmarer Gemeinde in Brooklyn überzogen Deborah Feldman nach der Veröffentlichung von "Unorthodox" mit Hassbriefen. Ihre Angehörigen erklärten sie für gestorben. In ihrem autobiographischen Text schildert sie, wie heranwachsende Mädchen systematisch von der Welt abgeschottet werden. Ein hellblauer Rock galt bereits als Provokation. Kam Deborah damit zur Schule, wurde sie nach Hause geschickt. Aber auch außerhalb ihres Stadtviertels sind die Mädchen an ihrer biederen, dunklen Kleidung für jedermann als ultraorthodoxe Jüdinnen zu erkennen.
"In Manhattan, egal ob ich meinen hellblauen oder dunkelblauen Rock angezogen hatte, war ich offensichtlich ein chassidisches Mädchen. Die Leute in Manhattan kennen die Chassiden. Die sehen die oft im Diamond District, in der 47th Street. Sie kommen alle morgens früh gleichzeitig an, sie machen da ihre Arbeitstage und gehen zurück, sie sind bekannt. Die Leute haben mich ziemlich kalt behandelt, und ich konnte nie mit jemandem von draußen nah werden. Meine Art, mich zu kleiden, hat das unmöglich gemacht."
Deborah Feldman hat früh Fragen gestellt und vor allem gegen den verordneten Mangel an Bildung aufbegehrt. Unerträglich war es, für das Tragen eines drei Zentimeter zu kurzen Rocks gemaßregelt zu werden, während die Misshandlung von Kindern, pädophiler Missbrauch, ja selbst Mord in der Gemeinde offensiv mit Schweigen bedeckt wurden.
"Du fühlst, dass du als Mensch verschwindest, dass die Lüge größer wird als du."
Von der Ehe mit einem jungen Mann aus einer Satmar-Gemeinde in Monsey, upstate New York, versprach Deborah Feldman sich ein kleines bisschen Freiheit. In Monsey leben Satmarer neben anderen ultraorthodoxen Gemeinschaften. Die soziale Kontrolle funktioniert aber weniger lückenlos. Heimlich immatrikulierte sich Deborah Feldman als Studentin an einem College und besuchte Literaturseminare, während ihr Sohn im Kindergarten spielte. Je mehr sie dem streng regulierten ultraorthodoxen Alltag innerlich entwuchs, desto heftiger fürchtete sie, den Sohn - wie bei Chassiden üblich - im Alter von drei Jahren in eine Jeschiwa schicken zu müssen.
"Ich hatte kein Datum, und ich dachte auch, dass ich nie die kishkes, that’s yiddish for guts, balls, ich würde nie die kishkes haben, ein Datum zu wählen. Aber dann bin ich eines Abends mit meinem Auto sehr schnell auf der Autobahn gefahren und einer meiner Vorderreifen ist geplatzt, und mein Auto hat sich dreimal überschlagen und dann bin ich raus gekrochen und habe gedacht: Na ja, das wäre schon eigentlich eine sehr gute Gelegenheit für Gott gewesen, mich umzubringen und wenn er das nicht gemacht hat, dann nutze ich einfach meine Gelegenheit, mich zu befreien!"

Sie reichte die Scheidung ein und begann mit der Arbeit

Deborah Feldman mietete für sich und den kleinen Sohn die erste eigene Wohnung, reichte die Scheidung ein und begann mit der Arbeit an ihrer von allen Sentimentalitäten gereinigten Entwicklungsgeschichte. Heute ist sie glücklich, dass ihr neunjähriger Sohn sich ungezwungen in Berlin bewegen kann, jüdische und nichtjüdische Freunde hat. Deborah Feldman ist mit der jiddischen Sprache aufgewachsen. Englisch zu sprechen war in ihrer Gemeinde verpönt. Während sie sich nach ihrer Ankunft in Berlin bemühte, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen, habe sie ihr Jiddisch verloren. Sie singt es nur noch.
Dieses traurige Lied von einem im Wald gefundenen Kind, dessen Mutter in Auschwitz ermordet wurde, hat Deborah Feldman häufig in der Schule und in Sommercamps gesungen.
"Holocaust war für uns Essen und Schlafen und Atmen."
Mitten in Europa, in Berlin, fühlt sie sich dem Leben ihrer in Ungarn geborenen Großeltern nahe. Bei ihnen wuchs sie auf, weil ihre Eltern nicht imstande waren, sie aufzuziehen. Der Großvater strebte ein Leben lang nach "menucha ha-nefesh": Seelenruhe, innere Gleichmut. Für die Enkelin gehört Unruhe zum Menschsein. In einem Kreuzberger Café erzählt Deborah Feldman von der Lebensleistung der geliebten Großeltern und davon, dass sie sich in Berlin eine eigene Zukunft schaffen möchte.
"Meine Großeltern waren andere Menschen vor dem Krieg, die waren Europäer, die waren ausgebildet, aufgeklärt, die hatten schon ein europäisches Leben. Dann ist der Holocaust passiert, sie hatten keine Heimat mehr. Die sind nach Amerika gekommen, und haben gedacht, wir gehen nie wieder zurück. Es ist gebrannte Erde. Da kann nichts mehr wachsen, haben sie mir erklärt. Es ist völlig zerstört, ruiniert und keine jüdische Gemeinde kann da mehr blühen - haben sie geglaubt. Das ist aber ein Sieg für Hitler, oder? Und - naja, ich kann hier schon blühen."

Deborah Feldman: Unorthodox
Aus dem amerikanischen Englisch von Christian Ruzicska
Secession Verlag, Zürich 2016
270 Seiten, 20 Euro