Ulrich Zieger

Ein deutscher Dichter in Montpellier

Menschen sitzen vor zahlreichen Cafés und Bars in der Altstadt von Montpellier.
Die Altstadt von Montpellier: Der Nostalgiker Zieger bedauert, dass wenig so bleibt, wie es einmal war © imago / viennaslide
Von Peter Urban-Halle · 04.05.2015
"Durchzug eines Regenbandes" heißt das neue Buch von Ulrich Zieger, dem Einzelgänger unter den deutschen Literaten. Peter Urban-Halle hat mit Zieger einen Spaziergang durch dessen Wahlheimat Montpellier unternommen.
Ulrich Zieger, der Einzelgänger, der fern von der deutschen Literaturszene seit langem in Südfrankreich lebt, hat einen neuen Roman mit dem sonderbaren Titel "Durchzug eines Regenbandes" vorgelegt. Zieger wurde 1961 in mittelsächsischen Döbeln geboren, die Kindheit verbrachte er nicht weit davon in Waldheim, wo bis heute nicht nur Florena zusammengerührt wird, die mitteldeutsche Nivea-Version, sondern sich auch ein berühmtes Zuchthaus befindet.
Seine Jugend verbrachte Zieger dann in Magdeburg, wo er eine Lehre als Chemiegraph machte, ein Beruf aus dem Druckgewerbe, den es heute gar nicht mehr gibt. 1981 ging er nach Ost-Berlin und schloss sich der Kunstszene des Prenzlauer Bergs an, unter anderem war er Mitglied der unabhängigen Theatergruppe "Zinnober". Im Frühsommer 1989, vor dem Fall der Mauer, lernte er auf einer Gastspielreise des Theaters in Heidelberg eine Französin kennen und ging mit ihr nach Montpellier in Südfrankreich.
Nirgendwo in Frankreich sind die Immobilien teurer als in Montpellier
Von Paris aus gesehen ist Montpellier Provinz. Dabei hat es eine tausendjährige Geschichte, es ist die Hauptstadt des Languedoc, es hat eine berühmte Universität mit einer legendären Fakultät für Medizin – und mit die teuersten Immobilienpreise in Frankreich.
Aber im Vergleich zu Berlin, wo der junge, damals 28-jährige Ulrich Zieger herkam, passierte da unten ja relativ wenig. In Berlin wurde 1989 gerade Weltgeschichte geschrieben. Aber irgendwie hat man den Eindruck, dass dieser Autor ganz gerne vor sich hin prokelt und sich wenig um die großen Bewegungen und gesellschaftlichen Ereignisse kümmert.
Menschenscheu darf er freilich nicht sein, Montpellier ist eine sehr lebendige, farbige und junge Stadt. Und 1989 zog er in ein Haus ausgerechnet in der Rue de l'Aiguillerie, Ecke Rue des Ecoles laïques, also mitten hinein in die wimmelnde und lärmende Altstadt.
Das sich alles verändert hat, ist für Zieger nur schwer erträglich
Dieses Viertel ist für Zieger voller Erinnerungen. Da oben hinter dem Fenster im ersten Stock schrieb er vor 20 Jahren seinen Roman "Der Kasten", dessen erster Satz lautet: "Die Stille in meinem Garten ist jetzt vollkommen." Es ist eine Art innerer Totenstille, die er skurrilerweise beim gleichzeitigen Lärm der Straße draußen beschrieb: Bei seinem Tabakhändler gegenüber lief pausenlos das Gedudel von "Popkorn", kaum hatte der zugemacht, ertönte abends vom Griechen das Zorbas-Thema. Aber beide gibt es nicht mehr, in den letzten 26 Jahren hat sich hier so einiges verändert. Das ist für den Nostalgiker Zieger schwer erträglich:
"Du hast ja diese Markthalle gesehen. Allein nur das, die ist jetzt nur noch halb so groß. Da haben sie einen Virgin Megastore reingedonnert, den gibt's mittlerweile aber auch nicht mehr. Aber früher war da jeden Tag Markt! Und rundum, der Platz, wo wir eben gesessen haben, war Markt bis mittags um eins. Das war riesig groß, ist alles weg. Aber bis Mitte der 90er Jahre hat's das noch gegeben. Und da waren eben in so einer Straße wie der hier – na gut, den gab's schon lange, das ist ein Friseur, der hat sich gehalten, daneben das war ein Käsehändler, daneben war so ein Elektrobedarf, da hab ich meinen Kindern ihre ersten Taschenlampen gekauft, und das ist alles weg!"
Es hat sich viel verändert, und Frankreich ist seitdem doppelt so teuer geworden. Trotzdem ist Zieger dageblieben. Er ist ja wegen einer Lovestory, wie er es nennt, nach Montpellier gekommen, aus der zwei Söhne hervorgegangen sind. Er hat sich von seiner Frau getrennt, aber er blieb, weil er kein abwesender Vater sein wollte.
Jetzt sind die Kinder volljährig, jetzt könnte er eigentlich wieder an Rückkehr denken. Aber er hat eine neue Beziehung und eine neue Wohnung hinter dem neuen gläsernen Bahnhof Montpelliers. Hier gibt es noch die kleinen Geschäfte: Bäckerei, Epicerie, Kopierladen, eine Versicherungsvertretung, ein Meditationszentrum, kleine Restaurants. Ein ruhiges Viertel, keine Touristen, eher Studenten, Nordafrikaner, kleine Leute, der einzige Lärm tagsüber erschallt vom Pausenhof einer katholischen Privatschule.
Zehn Jahre hat Zieger an dem neuen Buch geschrieben
Zehn Jahre hat der Autor an seinem neuen Buch gearbeitet. Anfangs glaubt man, man brauche elf Jahre, um es auch zu lesen. Zieger hat Jean Genet und den Friedenspreisträger Boualem Sansal übersetzt, stilistisch ist er aber eher von Handke, Adalbert Stifter oder Ambrose Bierce beeinflusst. "Durchzug eines Regenbandes" ist ein surrealistisches, anspielungs- und beziehungsreiches Riesenbuch, das ähnlich wie die "Suche nach der verlorenen Zeit" oder "Ulysses" zur Gattung des Romanmonsters gehört. Ein Buch, das nicht einzuordnen ist, das sich den Moden verweigert, in verschiedenen Zeiten und Gegenden spielt und mit Hochkultur und trivialer Unterhaltung jongliert, mit kaum bekannten Grimmschen Märchen und Kriminalserien. Der Roman hat drei Teile.
"Ich bin ja ursprünglich Maler, und die Idee des Triptychons, aber nicht im Sinne von Altar, sondern wie Bacon, drei Einblicke in Zeit und Raum, das hat mich immer fasziniert, und ich wollte so was schreiben, ohne zu wissen, ob das geht, weil das ja eine absolut malerische Form ist. Das ist ja genannt 'links, Mitte, rechts', und der erste Teil spielt absolut in Südfrankreich, der zweite Teil spielt in der DDR, aber in vollkommen hinterwäldlerischer Provinz, so 1969, da hab ich mich noch mal erinnert, wie das war mit den Beatles und solchen Sachen. Da gab's einen Typen, der rannte rum wie George Harrison [...]. Der hat mich immer fasziniert, und deswegen hab ich versucht, über den noch mal in diese Zeit zu gehen. Und der dritte Teil, das ist dann das Flachland, das ist irgendwo in Niedersachsen, in der Lüneburger Heide [...] Also der Süden ist drin, der Osten und der Norden. Was fehlt, ist sicher der Westen, aber ein Triptychon ist eben nur drei, da kann man nicht alle vier Richtungen ... (lacht)"
Zieger hat auch die Dialoge für den Wenders-Film "In weiter Ferne, so nah" geschrieben. Wenders sollte mit dem Filmen eine Woche später anfangen, das Geld war da, die Anträge für Drehorte waren genehmigt, aber er wusste gar nicht, was er eigentlich drehen sollte, er hatte ein paar Bildideen, aber gar keine Dialoge. Durch einen Dramaturgen beim Deutschen Theater nahm er Kontakt mit Ulrich Zieger in Montpellier auf.
"Und dann hat er mich angerufen und hat mir seine Situation geschildert, dann hat er mir seine Ideen geschickt, das ging ganz schnell, da gibt's so Chronopost und so, dann hab ich mir das angesehen, so zwei, drei Tage und hab gesagt, okay, ich denke, das geht und hab ein bissel was geschrieben und ihm gefaxt, da gab's noch Fax, aber ich musste auf die Post, ich hatte selber kein Faxgerät, und dann hat er gesagt, ja, das gefällt mir, das ist genau das, was ich brauche, jetzt müssen Sie nach Berlin kommen, weil wir Freitag anfangen zu drehen. Und ich hatte Mittwoch die erste Szene gefaxt. Also bin ich nach Berlin geflogen und hab dann monatelang mit ihm immer in so einer leichten Zeitversetzung dieses Szenarium da entworfen und entwickelt; wir wussten auch manchmal nicht mehr, wo wir sind. Und wir hatten irgendwann eine Rohschnittfassung, die dauerte sechs Stunden! Denn der hat alles gedreht, was ich geschrieben habe!"
Die Syntax ist ungeheuer ausgefeilt, das Vokabular ausgesucht
Ursprünglich sollten Teile seines neuen Romans schon vorher veröffentlicht werden, aber daraus wurde nichts, d.h. er war gezwungen weiterzumachen, deshalb wurde das Buch ziemlich lang, fast 700 Seiten. Aber wie beim Film, der von sechs auf zwei Stunden gekürzt werden musste, so wurde sicher auch der Roman gekürzt und vor allem durchgearbeitet. Während Zieger im Gespräch zögernd und tastend die Worte und Sätze sucht, sind sie in der schriftlichen Form gefunden und wie aus einem Guss: So ungeheuer ausgefeilt ist die Syntax und so ausgesucht das Vokabular. Und was immer wieder auffällt und worauf man sich als Leser einlassen muss, sind die ständigen Überraschungseffekte und -momente. So erklärt sich auch der meteorologische Titel seines Romans, "Durchzug eines Regenbandes":
"Das ist eben diese Irritation. Der eine ist Schlagersänger, der hat den ganzen Abend gesungen und schläft am Vormittag, die andern müssen zur Arbeit, und die Kinder gehen in die Schule. Dann fällt da diese Frau aus dem Fenster, und es kommt einer vorbei und fragt: Können Sie mal mitkommen und gucken, was da passiert ist. Solche Momente, wo man eben nicht sagt, hier hat jemand beschlossen, ich will jemand ermorden oder in eine Bank einbrechen, sondern der hat überhaupt nichts damit zu tun und gerät in diese Strömung. Und dieses Moment im Leben, wo man fragt: Wieso kommen Sie denn ausgerechnet zu mir, Sie könnten ja auch zu Herrn Lehmann nebenan gehen – nee, du stellst dich dem und gerätst in ein Ding – das ist eigentlich das Leitmotiv."
Es gibt gleich am Anfang eine Stelle im Buch, die wahrscheinlich jene Kreuzung der Gassen in Montpellier beschreibt, an der Zieger gewohnt hat. Aber vielleicht hat er sich die Stadt ja auch ausgesucht: nach einem der für ihn wichtigsten Texte, nämlich Rimbauds kurzem Prosagedicht "Départ" ("Aufbruch"). Da ist vom "Lärm der Städte" die Rede und vom "Aufbruch zu neuer Liebe und neuem Getümmel". Das könnte Zieger selber auf Montpellier gedichtet haben. Montpellier, die lärmende Stadt, in der es ihn vielleicht auch wegen seiner inneren Stille so lange gehalten hat. Nur weiß man bei ihm nicht, ob diese Stille tröstlich oder bedrohlich ist.

Ulrich Zieger: Durchzug eines Regenbandes
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015
683 Seiten, 26,00 EUR