Ukrainekrise, Finanzkrise, Flüchtlingskrise

Die Europäische Union hat sich erledigt

Graffiti in Athen
Von der Finanz- bis zur Flüchtlingspolitik - die Europäische Union ist in den meisten Punkten zerstriten. © dpa/picture-alliance/ Orestis Panagiotou
Von Hans von Trotha · 14.10.2015
Bundeskanzlerin Angela Merkel hält an ihrer Flüchtlingspolitik fest, andere Regierungschefs schütteln den Kopf - mal verblüfft, mal verärgert. Ein europäische Idee fehlt. Es sei an der Zeit, die ambitionierten politischen Träume einzumotten, meint Hans von Trotha.
Europa als politische Einheit hat sich erledigt, im Wortsinn: Europa ist nicht nur irgendwie am Ende, es hat sich selbst erledigt.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Europa war die beste Idee des kriegsgeschundenen 20. Jahrhunderts. Ohne ein im Handel geeintes Europa gäbe es hier sehr schnell wieder Krieg. Der Handel funktioniert, Gott sei Dank. Aber die politische Einheit Europas ist ferner denn je. Ja, seit diesem Sommer wissen wir: Sie ist reine Fiktion.
Am Anfang war die Hoffnung
Dabei gab es Hoffnung. Die EU hat die deutsche Einheit nicht gewollt aber gestemmt, eine nicht geringe Leistung. Sie hat geholfen, die Nato-Ost-Erweiterung zu bewerkstelligen, ohne Russland zu vergrätzen, diplomatisch womöglich der noch größere Erfolg. Aber die eigene Ost-Erweiterung hat die sogenannte Europäische Union als politische Idee nicht überlebt. Wir ahnen das schon lange. Aber jetzt liegt es blank.
Wo waren die europäischen Diplomaten, als es darum ging, die Ukraine zu befrieden und trotzdem im Dialog mit Moskau zu bleiben? Sie haben all ihre administratorische Energie und politische Kreativität auf die interne Organisation verwandt: darauf, teure Kompromisse auszukämpfen, wie mit einer der unbedeutendsten Teilvolkswirtschaften umzugehen sei.
Aber aus Unwissenheit über die Ukraine und weil das mit den Währungen so delikat ist, haben wir uns auf die Zungen gebissen, in der Hoffnung das unwürdige Schauspiel würde irgendwann ein Ende haben. Ja, womöglich würde sich irgendeiner in der sogenannten Europäischen Union sogar daran erinnern, dass diese Idee, als man sie noch für eine Institution hielt, den Friedensnobelpreis bekommen hat.
Was aber dann geschah, hätte sich noch vor einem Jahr nicht einmal ein Radio Titanic auszudenken getraut. Schlagzeilen wie diese: "Schengen außer Kraft gesetzt"; "Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Österreich wieder eingeführt"; "EU-Außengrenze wird mit Zäunen gesichert"; "Zugverkehr zwischen Dänemark und Deutschland eingestellt"; "Im Beisein des Kabinetts und zahlreicher Pressevertreter werden 19 (in Worten: Neunzehn) Flüchtlinge von Italien nach Schweden geflogen"; "Seehofer erwägt Verfassungsklage gegen Merkel"...
Die Fluchtbewegungen waren absehbar
Und das alles nur, weil in der Welt geschah, was viele längst vorausgesehen hatten, zumal es die logische Konsequenz internationalen Handelns und vor allem Nichthandelns war – es bewegten sich Menschen in Not von akuten Krisenherden weg Richtung Europa. Wohin auch sonst?
Lassen wir Seehofer mal weg, für den gibt es in Brüssel den "Ausschuss der Regionen", und wir können ihm nächstes Jahr die Rente mit 67 anbieten. Aber im Ernst: Wenn etwas für einen Raum, der von sich behauptet, gemeinsame Werte und gemeinsame Außengrenzen zu haben, eine Gemeinschaftsaufgabe ist, dann die Aufnahme, die anständige Behandlung, die gerechte Verteilung, die rasche Überprüfung und dann bei denen, die bleiben können, die nachhaltige Integration von Opfern einer humanitären Notlage.
Ein Verbund von Staaten, der in guten Zeiten keine Struktur zustande bringt, in der man dieser naheliegenden, ja selbstverständlichen, keineswegs überraschenden und im saturierten Europa problemlos zu leistenden Gemeinschaftsaufgabe zivilisiert, einvernehmlich und effektiv begegnet, und der, dies nebenbei, auch keine charismatischen Persönlichkeiten hervorbringt, die Kraft ihrer Autorität über das Fehlen einer solchen Struktur hinweghelfen könnten, - ein solcher Verbund von Staaten ist nicht nur keine ernst zu nehmende Institution, er ist keine Institution.
Beschämendes Ergebnis der EU-Politik
Die politische Union ist in Europa offenbar nicht möglich. Wir haben es ein paar Jahrzehnte lang probiert. Das Ergebnis ist, höflich ausgedrückt: beschämend. Schafft die politischen Europaverwaltungen ab, steckt das viele Geld in die innereuropäische Handelsförderung – dabei können gut integrierte Flüchtlinge übrigens sehr nützlich sein. Wie gesagt: Kein Krieg in Europa - das ist viel. Mehr scheint auf Dauer in diesem Verbund allerdings nicht drin zu sein. Das ist bitter.
Jetzt fehlt einer, der in dieser Sache den Schäuble gibt und sagt: "´s isch over." Damit wir uns etwas anderes überlegen können.
Hans von Trotha, geboren 1965, Dr. phil, Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte. Nach ersten publizistischen Arbeiten für den Rundfunk und verschiedene Printmedien übernahm er für zehn Jahre die Leitung eines Verlags, bevor er sich als Publizist, Kurator und Berater für Kulturinstitutionen selbständig machte. Er ist Spezialist für europäische Kulturgeschichte, insbesondere für die Geschichte der Gartenkunst. Publikationen (Auswahl): Der Englische Garten. Eine Reise durch seine Geschichte, Verlag Klaus Wagenbach; Das Lexikon der überschätzten Dinge, Fischer Taschenbuch; GARTEN KUNST. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, Quadriga Verlag; Czernin oder Wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen (Roman), Nicolai Verlag.
Hans von Trotha, Journalist und Buchautor
Hans von Trotha, Journalist und Buchautor© Carsten Kempf
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