Ukraine

Wenn Freunde zu Feinden werden

Von Aleksandr Nowikow · 14.04.2015
Die Kämpfe in der Ostukraine haben nachgelassen, die Waffenruhe ist allerdings brüchig. Russen halten Ukrainer plötzlich für Feinde. Der Völkerrechtler Aleksandr Nowikow fragt sich, wie es so weit kommen konnte.
Die Frage ist beinahe eine rhetorische: Ob viele Deutsche den Namen der Ministerpräsidenten ihrer Nachbarländer kennen: zum Beispiel Tschechiens, Belgiens oder Polens? Nicht so viele? Doch in der Ukraine weiß jeder der Rentner, die abends vor den Hauseingängen Neuigkeiten austauschen, wie der deutsche Außenminister heißt.
Für Ukrainer gleicht es einer philologischen Heldentat, die Wortkombination "Frank-Walter Steinmeier" auszusprechen. Aber dabei bleibt es nicht! Genauso wissen sie, was Angela Merkel, Francois Hollande, David Cameron, Barack Obama und seine energievolle Frau Michelle sagen und sogar denken.
Eine positive Einstellung zu Europa
Es ist nicht zu bestreiten: Die Bewohner dieses Landes driften immer mehr Richtung Westen. Etwa 90 Prozent haben eine positive Einstellung zu Europa und zu Polen, Deutschen, Litauern, Franzosen und Engländern. 80 Prozent mögen auch die Amerikaner. Und sie gaben den Meinungsforschern sogar zur Antwort, sie würden Merkel und Obama gerne in der Position des ukrainischen Präsidenten sehen.
Während der Westen früher bloß als eine Gegend galt, wo es alles gab, so wird er jetzt zunehmend als ein Raum wahrgenommen, der mehr Freiheiten und weniger Korruption bietet - und eine gute Ausbildung. Immer mehr Mädchen und Jungen gehen zum Studieren nach Deutschland, England oder ins benachbarte Polen.
Selbst im vorwiegend russischsprachigen Charkiw, der studentischen Hauptstadt der Ukraine, geben sie nicht mehr der Polytechnischen Universität den Vorzug, sondern bereiten sich hartnäckig auf eine Immatrikulation an der Technischen Universität München oder der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen vor.
Das alles ist erstaunlich, aber verständlich, wenn auch anderen Leuten schwer zu erklären. Denn bis zur deutschen Grenze sind es von Charkiw aus fast 2000 Kilometer. Bis zur russischen dagegen nur 30 Kilometer.
Noch zu Zeiten des Russischen Reiches wurden Millionen ukrainische Bauern von den Behörden nach Südsibirien und Fernost verschickt, um dort die Ackerböden zu kultivieren. Zu Zeiten des sowjetischen Imperiums bauten Hunderttausende Ukrainer die Baikal-Amur-Magistrale, hochqualifizierte ukrainische Fachleute arbeiteten und arbeiten bis heute auf allen russischen Gaslagerstätten.
Und umgekehrt: Noch vor kurzem war am Wochenende jedes zweite Auto, das durch ostukrainische Grenzstädte fuhr, eines aus Russland. Russen kauften in Lebensmittelgeschäften und feschen Boutiquen ein, besuchten Restaurants.
Russen halten Ukrainer für Feinde
Das alles hat sich in relativ kurzer Zeit geändert. Putin'sche Propaganda hat geschafft, was zuvor für unmöglich gehalten wurde: Russen halten Ukrainer für Feinde. Vielmehr noch: Fast die Hälfte der Moskauer, der Sankt-Petersburger und noch mehr Einwohner der russischen Provinz wären bereit, in den Krieg zu ziehen.
Und den haben die Ukrainer in den letzten zwölf Monaten kennengelernt. Man muss ihnen nicht erklären, wessen Panzer und Kanonen die östliche Landesgrenze überquert haben, durch wessen Kugel täglich Soldaten und Zivilisten fallen.
Was sich da verändert hat, beschrieb die junge Kiewer Dichterin Anastasia Dmytruk in einem Gedicht:

"Wir werden nie mehr Brüder sein. Wir haben verschiedene Heimaten. Verschiedene Mütter."

Es wurde, vertont von einer bekannten litauischen Band, zum Hit des Maidan, zu einem der beliebtesten Lieder in den Nachbarländern Russlands.
Aleksandr Nowikow, Jahrgang 1982, ist Völkerrechtler und Dozent an der Nationalen Juristischen Akademie "Jaroslaw Mudry" in Charkiw. Sein Forschungsschwerpunkt sind Verfassungsänderungen in den postsozialistischen Staaten, so schrieb er seine Doktorarbeit über den "Rechtlichen Status des Präsidenten von Polen".
Aleksandr Nowikow, ukrainischer Rechtswissenschaftler, Professor an der Nationalen Juristischen Universität "Jaroslaw Mudry" in Charkiw
Aleksandr Nowikow© privat
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