Ukraine

"Von Anfang an in sich gespalten"

Manfred Hildermeier im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 04.03.2014
Die Krim sei "sehr russisch" aber nicht "urrussisch", sagt Manfred Hildermeier. Dass Russlands Präsident Wladimir Putin sich noch zurückziehen werde, könne er sich schwer vorstellen, so der Historiker.
Klaus Pokatzky: Russland hat nun also die ukrainische Halbinsel Krim unter seine Kontrolle gebracht. Das melden die Agenturen. Mit Russlands Präsident Wladimir Putin telefonieren US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel und mahnen ihn zur Zurückhaltung. Der nächste G8-Gipfel im Juni in Sotschi könnte gekippt werden. Die Aktienmärkte stehen kurz vor dem Kollaps, auch und gerade in Russland. Spinnt der, der Putin? Oder ist die Krim vielleicht eher eine russische als eine ukrainische Halbinsel? Am Telefon begrüße ich nun Manfred Hildermeier, Professor für osteuropäische Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen, der nicht nur über die russische Geschichte intensiv wissenschaftlich geforscht hat, sondern auch über die sowjetische. Guten Tag, Herr Hildermeier!
Manfred Hildermeier: Guten Tag.
Pokatzky: Herr Hildermeier, wie russisch ist die Krim?
Hildermeier: Ich würde sagen, sie ist sehr russisch, allerdings auch nicht urrussisch. Die Ureinwohner seit dem späten Mittelalter nach unserer Zeitrechnung waren die Tataren. Allerdings ist es, schwer zu sagen. Davor gab es sehr viele andere Ureinwohner. Bekanntlich ist die Krim ja schon in der Antike bekannt gewesen, bei Herodot gilt als das berühmte Drama, die "Iphigenie auf Tauris", geschrieben, Tauris ist der alte antike Name. Seitdem ist die Krim für den Handel immer relativ wichtig gewesen. Bevor die Krimtataren dort hinkamen, im 14., 15. Jahrhundert, gehörte die Krim oder fand sich ein wichtiger Handelsort auf der Krim namens Kaffa, der als Genueser Kolonie galt. Kurz, da könnte man viele Ureinwohner nennen. Aber seit dem 18., 19. Jahrhundert, 18., ist die Krim russisch.
Pokatzky: Ja, aber könnte ich denn jetzt überhaupt die völlig naive Frage stellen: Wem gehört die Krim heute, von der Legitimität, der historischen Legitimität her?
Hildermeier: Bis 1954 war die Krim russisch und gehörte sie zu Russland so wie das neue russische Gebiet am Nordrand des Schwarzen Meeres auch. Zur Ukraine ist sie, zur Republik Ukraine, damals noch sozialistischen Sowjetrepublik, ist sie erst 1954 gekommen. Als Chruschtschow meinte, der Ukraine die Krim als Morgengabe sozusagen schenken zu müssen. Der Anlass war das 300-jährige Jubiläum eines Vertrages von 1654, in dem die ukrainischen Kosaken sich dem russischen Zaren in Moskau unterstellt haben. Das ist meine Interpretation, ich glaube, das ist die Mehrheitsinterpretation. Ukrainische Historiker der postsowjetischen Zeit sehen das zum Teil anders.
Pokatzky: Nun hätten die Politiker 1954 in der Sowjetunion sich garantiert nicht träumen lassen, dass es 60 Jahre später keine Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken mehr gibt. Und damals war das ja sicherlich nicht von der enormen Bedeutung wie heute, wo völkerrechtlich die Krim hingehört oder nicht.
Hildermeier: Das hatte überhaupt keine Bedeutung, ganz klar, deswegen hat er das auch gemacht.
Pokatzky: Zum Aufstieg Russlands, wenn wir jetzt noch weiter in die Geschichte gehen, gehörte ja der Kampf gegen das Osmanische Reich, also vereinfacht gesagt der Vorläuferstaat der heutigen Türkei. Und da spielte ja die Krim spätestens seit Katharina II. eine enorm wichtige symbolische Rolle. Wie wichtig ist da die Krim für die heutige Identität Russlands?
"Die Reste des mongolischen Jochs abgeschüttelt"
Hildermeier: Das lässt sich relativ schwer sagen. Aber sie war wichtig in den letzten Jahrhunderten seit dieser Zeit, die Sie eben erwähnt haben. Weniger, weil die Krim sozusagen zunehmende strategische Bedeutung erhielt mit Blick auf die Meerengen und die Herrschaft über das Schwarze Meer, als mit Blick auf die eigene Vergangenheit. Da kam beides zusammen. Mit der Eroberung der Krim hat man sozusagen noch einmal die allerletzten Reste des mongolischen Jochs abgeschüttelt. Also noch einmal das Mongolenreich besiegt, das ja, zur Erinnerung gesagt, 1240 das erste Reich auf russisch-slawischem Boden, das Kiewer Reich, erobert hatte. Diese sogenannte Goldene Horde ist dann nach und nach zerfallen in kleinere Staaten. Und geblieben ist die Krim, die zu einer Art von Vasallen des aufsteigenden Osmanischen Reichs wurde, ein Vasall sozusagen auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres. Und in dieser Form ist dieses Tatarenkanat dann endgültig unter Katharina in den 1780er-Jahren erobert worden. Da kam beides zusammen. Diese Vergangenheit, also noch einmal, der Sieg über die Tataren/Mongolen und beginnende strategische Überlegungen mit Blick auf die Meerengen.
Pokatzky: Der Sieg für die Tataren, der für die Russen und ihre Identität ja unglaublich wichtig war. Aber wenn wir jetzt über die Tataren reden, dann reden wir ja auch über andere Religionen im Zweifelsfall, und wenn wir über andere Völker auf der Krim reden, reden wir über andere Nationen. Der Turkologe Mieste Hotopp-Riecke hat in der Tageszeitung "taz" gesagt, dass das viel zu einfach ist, wenn wir jetzt sagen, Putin die Krim geben, nach dem Motto, lasst doch den Russen ihre Krim. Er meint, wer das sagt, der akzeptiert, dass eine der ältesten islamischen Nationen Europas verschwinden wird.
"Ich kann eine solche Kontinuität nicht erkennen"
Hildermeier: Na ja, da wäre ich natürlich ein bisschen zurückhaltend. Da wird eine Kontinuität konstruiert, die so auch nicht gegeben war. Herr Hotopp-Riecke spielt wohl an auf die Chasaren, auf das Chasarenreich, das vom 6. bis zum 10. Jahrhundert dort bestand, eine wichtige Scharnierfunktion im beinahe schon eurasischen Handel spielte, also zur Seidenstraße und zum Fernen Osten hin. Dieses Chasarenreich ist im 10. Jahrhundert von dem aufkommenden Kiewer Reich erobert worden und ist dann verschwunden. Ich kann eine solche Kontinuität nicht erkennen. Das könnte man dann auch sozusagen beinahe bis zu den Skythen zurückverfolgen.
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur der Historiker Manfred Hildermeier zu den historischen Hintergründen des Streits um die Krim, und jetzt kommt die Frage, Herr Hildermeier: Wie russisch ist denn die Ukraine?
Hildermeier: Die Ukraine selber ist – ja, ich würde sagen, gleichsam zur Hälfte russisch. Da muss man allerdings hinzufügen, dass die Ukraine bis 1945 ja auch nicht so weit nach Westen reichte. Bekanntlich hat Stalin die Grenzen vorgeschoben. Auch die Ukraine ist davon betroffen gewesen. Der westliche Teil der heutigen Ukraine mit dem Zentrum Lemberg ist historisch Galizien gewesen. Und Galizien war sowohl polnisch, gehörte auch nach den polnischen Teilungen zur österreichisch-ungarischen, habsburgischen Monarchie. Das ist nicht eigentlich die Ukraine. Die beginnt sozusagen östlich davon. Diese Ukraine östlich von Galizien ist historisch-kulturell gleichsam immer etwas zweigeteilt gewesen entlang des Dnjepr. Auch sozialhistorisch sind die Verhältnisse da sehr unterschiedlich gewesen. Der östliche Teil ist im 17. Jahrhundert definitiv vom Moskauer Reich inkorporiert worden, und nach und nach wurde den Kosaken, die dort herrschten, ihre Autonomie genommen. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist dieses Gebiet eine ganz normale Provinz, ein ganz normales Gouvernement gewesen.
Pokatzky: Wenn wir uns das alles jetzt angucken, Herr Hildermeier, also diese Verankerung von Russen, zumindest in bestimmten Regionen der Ukraine. Hätte das alles nicht nach dem Zusammenbruch des Ostblocks besser auch von uns Westlern im Auge behalten werden müssen, dass hier nicht irgendwann möglicherweise unglaubliche politische, ethnische Konflikte aufbrechen könnten?
"Man hätte die Ukraine gar nicht in die Situation bringen sollen"
Hildermeier: Ja, wenn man klug gewesen wäre, vorausschauend gewesen wäre, dann hätte man das eigentlich bedenken können. Es gibt ja die Meinung, die da besagt, man hätte die Ukraine gar nicht in die Situation bringen sollen, sich entscheiden zu müssen. Der Staat, so wie er aus der Hinterlassenschaft der Sowjetunion hervorgegangen ist – es ist ja auch bemerkenswert, dass die Sowjetunion entlang der Republikgrenzen, nicht entlang nationaler Grenzen zerfallen ist. Dieser Staat ist eben von Anfang an in sich gespalten gewesen. Es hat immer eine auch fast ausnahmslos russisch dominierte östliche, nordöstliche Region gegeben und einen stark nach Polen orientierten Westen.
Pokatzky: Aber wäre denn dann jetzt, Herr Hildermeier, wäre die Lösung denn jetzt eine Teilung der Ukraine, oder wie kommen wir aus dieser ganzen Geschichte raus?
Hildermeier: Das kann ich auch nicht beantworten, das wissen nur Propheten. Ich würde sagen, es gibt wirklich nur zwei Möglichkeiten. Entweder eine sehr, sehr deutliche, klare Autonomie sowohl für die Krim als auch für die nordöstlichen Gebiete der Ukraine, also Charkiw bis Donezk. Oder es läuft auf eine Teilung hinaus. Wenn man die territoriale Integrität, so wie sie jetzt besteht, bewahren will, dann geht das wirklich nur über eine ganz ausgeprägte Autonomie. Putin könnte das akzeptieren, aber er ist in seinem Denken, glaube ich, großrussisch, nationalistisch geprägt, dass es ihm jetzt schwerfallen dürfte, sich in dieser Form zurückzuziehen.
Pokatzky: Danke, Manfred Hildermeier für das Gespräch. Ihre beiden Standardwerke zur russischen und zur sowjetischen Geschichte sind im C.H.Beck Verlag erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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