Ukraine

Stadt zwischen Angst und Hoffnung

Die Potemkin-Treppe in Odessa
Die Potemkin-Treppe in Odessa © Joachim Baumann
Von Joachim Baumann · 25.05.2014
Es war hier stets friedlich, bunt und multikulturell, doch jetzt leben die Menschen in Odessa in Angst. Zuletzt kamen 48 Ukrainer bei einem Brand qualvoll zu Tode. Joachim Baumann, der mehrere Jahre in Odessa gelebt hat, berichtet aus einer zerrissenen Stadt.
Es ist spät geworden, wieder mal. Die Klimaanlage im Hotelzimmer funktioniert nicht, nur der Lüfter wirbelt die Schwüle durcheinander. Odessa. Seit einer Woche bin ich in meiner zweiten Heimat. Das Meer, die Menschen, die Freunde – alles ist vertraut. Einerseits. Andererseits bin ich hier, weil am 2. Mai in Odessa etwas Unfassbares geschah: 48 Ukrainer wurden von anderen Ukrainern ermordet. Seither bekomme ich ängstliche, manchmal fassungslose Emails und Anrufe von meinen Freunden. Ich will mit eigenen Augen sehen, was aus meinem Odessa geworden ist.
Nur wenige Ausländer fliegen zurzeit nach Odessa, das Flugzeug ist halb leer. Vor dem Flughafen wartet mein Freund Slavik auf mich. Keine mysteriösen Typen, ob nun prorussisch oder proukrainisch, die ich aus Fernsehbildern kenne und die in meinem Kopf herumschwirren. Slavik: geschlitzte Jeans, helles T-Shirt - ich erkenne ihn von weitem.
Das alte Studentenwohnheim von Joachim Baumann, Redakteur vom Deutschlandradio Kultur
Das alte Studentenwohnheim von Joachim Baumann, Redakteur vom Deutschlandradio Kultur, in Odessa© Joachim Baumann
Drei Jahre haben wir während unseres Studiums an der hiesigen Uni ein Zimmer im Wohnheim geteilt, zusammen mit einem weiteren Ukrainer und einem Russen. Lang, lang ist's her... Seit einem halben Jahr mailen wir uns regelmäßig, manchmal auch mehrmals am Tag. Slavik hat Probleme mit seiner Firma – eine Näherei für Berufsbekleidung. Die Aufträge sind wegen der Ukraine-Krise fast auf Null zurückgegangen. Er ist grauer geworden.
Sonntag. Wir besuchen unser altes Wohnheim im Zentrum Odessas – nur zehn Minuten von meinem Hotel entfernt. Neue schicke Hausfassaden, dann wieder heruntergekommene Wänden, tiefe Löcher im Asphalt.
"Wenn ich heute hier reinkomme, ehrlich, sehr viel hat sich nicht geändert, ein paar Möbel, ein neuer Anstrich. Die Studenten sehen anders aus als früher, sind moderner gekleidet. Ist ja auch schon fast 40 Jahre her. Ein wenig Nostalgie kann ich nicht leugnen. Wir waren, glaub ich, anders. Ich komme immer sehr gern in die Stadt, klar, hier war meine Jugend, die beste Zeit meines Lebens war hier in Odessa."
Das unbeschwerte Odessa gibt es für Slavik nicht mehr. Vielleicht wird es wiederkommen. Slavik wünscht es sich sehr.
"Ich möchte, dass die Wahlen friedlich verlaufen und unser Land irgendwann zu Europa gehört und ganz besonders wünsche ich das für Odessa. Ich hoffe, dass es keine Kämpfe gibt, niemand erschossen wird. Was am Haus der Gewerkschaften zu sehen ist, der Schmerz, es ist schrecklich."
Slavik sitzen die Ereignisse vom 2. Mai in den Knochen, als 48 Menschen im Haus der Gewerkschaften jämmerlich zu Tode kamen. Waren die pro-ukrainischen oder die pro-russischen Bürgerwehren die Täter? Die Morde sind bisher nicht aufgeklärt, die Spekulationen und Gerüchte blühen. Unfassbar, dass dies geschehen ist in einer Stadt, die immer friedlich, bunt und multikulturell war. Jetzt soll gewählt werden, aber Slavik sieht keine Demokraten, egal auf welcher Seite.
Was meinst du, wer wird Präsident?
"Keine Ahnung, aber ich beneide ihn nicht."
"Es kamen Menschen aus allen Ländern hierher"
Beim Flanieren durch die Deribassovskaja-Straße plärrt es in den vielen Restaurants und Cafés aus den Lautsprechern. Beleibte Herren protzen mit ihren Goldketten oder der attraktiven weiblichen Begleitung, natürlich blutjung. Mütter lassen ihre Kleinen auf Pferden reiten. Im angrenzenden Stadtpark spielt ein 20-Mann-Orchester in einem offenen Pavillon, ältere Paare tanzen neben dem Brunnen.
Odessa wie immer – war da was?
Auf der Potjomkin-Treppe, einem architektonischen Meisterwerk aus 192 Stufen, treffe ich den Journalisten Jevgeni Golubovski, klein, leicht untersetzt. Seine 77 Jahre sehe ich ihm an, sein Geist ist hell wach. Er kennt Odessa wie kein anderer und bezeichnet die Stadt als dritte Hauptstadt des Zarenreichs - nach Moskau und St. Peterburg.
"Es kamen Menschen aus allen Ländern hierher, das südliche Flair, die Handelsmöglichkeiten und nicht zuletzt verschenkte Katharina II. Grund und Boden, um ihn zu bebauen. Steuern mussten nicht bezahlt werden. Odessa erblühte. Es zog Künstler hierher, Wissenschaftler, Bauarbeiter - Menschen aus über hundert Nationen lebten hier und sprachen russisch. Erst später verbreitete sich das Ukrainische. In Odessa versteht man schon lange beide Sprachen."
Fußgängerzone von Odessa
Straßencafés und Flaneure - so haben Odessa viele kennengelernt, bevor der Konflikt ausbrach.© Joachim Baumann
Gesprochen wird aber vorwiegend russisch, das war zu meiner Studienzeit so und ist heute noch so, fast. Denn nach dem Zerfall der Sowjetunion schuf die neue Ukraine auch Gesetze zur Sprache: Ukrainisch als Amtssprache, in Bildungseinrichtungen. Ein großes Konfliktpotential, über Jahre. Dennoch:
"Obwohl die Bevölkerung multinational war und noch immer ist, verstand man sich untereinander und deshalb ist es so unvorstellbar, dass gerade in Odessa Zusammenstöße auf nationaler Ebene vorkommen."
Aber am 2.Mai 2014 ist es geschehen. Golubowski wirkt genauso fassungslos wie Slavik, wenn er darüber spricht. 48 Bürger Odessas wurden erschossen, sie sind verbrannt, haben sich zu Tode gestürzt. Sicher ist nur: Die meisten starben durch ein schnell wirkendes Gas. Wer hat so ein Gas? Die Gerüchteküche kennt viele Schuldige.
Wir steigen in die Straßenbahn und fahren an den Ort des Grauens. Mir ist mulmig. Im Internet habe ich gelesen, dass heute wieder eine prorussische Demonstration stattfinden soll. Die Organisatoren rechnen mit mehreren Tausend Teilnehmern, Zusammenstöße sind nicht auszuschließen.
Vor dem Gewerkschaftshaus bekomme ich eine Gänsehaut: Ein zu großen Teilen abgebranntes, mehrstöckiges Gebäude, eingeschlagene Fenster, Einschusslöcher. Der Geruch von kaltem Rauch dringt in die Nase. Fotografien und die Namen von Ermordeten, verwelkte Blumen, ein leerer Molotowcocktail in einem Aschehaufen.
"Es war ein Schock. Die ersten Tage gingen die Menschen mit gesenkten Köpfen, es waren kaum Autos auf der Straße, drei Tage war Trauer. Aber heute scheint es sich normalisiert zu haben, die Geschäfte sind geöffnet, die Menschen gehen ins Restaurant oder ins Theater. Das beklemmende Gefühl, dass dir jemand mit dem Fuß in den Nacken getreten hat, ist weg, aber es bleibt die Frage: Wer hat getreten?"
Es dauert eine Weile, bis ich die Sprache wiederfinde. Golubowski erklärt mir, was genau vorgefallen ist vor gerade einmal vier Wochen:
"Am 2. Mai gab es ein Fußballspiel zwischen Odessa und Charkow, und natürlich waren viele sogenannte Ultras hier, radikale Fans. Sie trafen sich im Zentrum und wollten sich symbolisch zusammentun, mit ukrainischen Flaggen durch die Stadt ziehen. Aber da gab es in der Nähe noch eine andere Gruppe, die russische Fahnen schwenkte. Beide trafen aufeinander, es gab Schlägereien und plötzlich Schüsse, drei oder vier Menschen starben."
In Odessa grassiert die Korruption
Doch wer geschossen hat – ein Rätsel. Die Miliz – also die Polizei - hatte Befehl, nicht einzugreifen, sie trug an dem Tag auch keine Schusswaffen, sagt Jevgeni Golubowski. Die aufgebrachte Menge zog zum Gewerkschaftshaus, wo prorussische Demonstranten seit Tagen ein Zeltlager hatten.
"Dort wurden vom Mob die Zelte angezündet, die Menschen flüchteten in das Gewerkschaftsgebäude. Es flogen Molotowcocktails und irgendwer, niemand weiß offiziell etwas, zündete im Gebäude ein unbekanntes Gas vom Typ, wie es auch vor mehreren Jahren in dem Moskauer Saal Nord-Ost eingesetzt wurde und viele Tschetschenen und Zuschauer in kürzester Zeit umkamen."
Die Demonstration der Tausenden zieht auf, sie erweist sich als Flop, Gott sei Dank. Ich schätze die Menge auf gut hundert. Viele ältere Demonstranten sind dabei mit selbst gefertigten Plakaten und Losungen wie: "Tod den Faschisten" oder "Stoppt den blutigen Terror gegen die Süd-Ost-Ukraine".
Slavik kommt vorbei, wir treffen uns mit einem alten Freund im Stadtpark. Er ist Physik-Dozent an der Staatlichen Universität und kommt gerade von seiner Vorlesung. Wir sprechen über Korruption, denn das, so meinen die beiden, ist die Wurzel für die Missstände in der Ukraine.
"Korruption beginnt am oberen Ende. Es gibt Vorgesetzte und es gibt Untergebene, die meistens nur ein geringes Einkommen haben. Ein einfacher Feuerwehrmann verdient ungefähr 1600 Griven, also ca. 100 Euro. Das reicht natürlich nicht zum Leben. Was macht er?
Ein einfaches Beispiel: Nehmen wir eine Würstchenbude an der Straße. Es gibt unendlich viele Sicherheitsbestimmungen, Wasser muss vorhanden sein, Abstände eingehalten werden. Vieles ist sinnvoll, vieles nicht. Nun, sagen wir, die Bude ist zwei Quadratmeter kleiner als vorgeschrieben. Der Feuerwehrmann sagt nun zum Besitzer: Das und das und das ist nicht in Ordnung, Du musst Strafe zahlen, alles nach Vorschrift erneuern oder deine Würstchenbude ganz dicht machen.
Aber man kann ja mal nachdenken. Und er schreibt eine Zahl auf ein Stück Papier. Der Wurstverkäufer hat Jahre für seine Bude gespart, von vorn anfangen geht nicht. Also bezahlt er dem Feuerwehrmann das Bestechungsgeld."
Unten der einfache Bürger mit der Würstchenbude, darüber Behörden, die Polizei, die hier Miliz heißt, Krankenhäuser, Gerichte, Verwaltung, untere Staatsebene, obere Staatebene, bis ganz oben in Kiew.
Eine Pyramide! Es erscheint mir auf einmal sehr einleuchtend. Ein System von Korruption in allen Bereichen überspannt die ganze Ukraine, und je höher jemand in der Korruptionspyramide ist, desto mehr Geld kann er zusammenraffen. Slavik nennt Zahlen.
"Nach den offiziellen Daten hat Janukovich innerhalb seiner Amtszeit als Präsident 100 Milliarden Dollar außer Landes geschafft, wovon 36 Milliarden in Russland liegen. Und diese Gelder müssen die Leute ja irgendwie durch Bestechung eingetrieben haben. Doch irgendwann sind die da oben durchgeknallt, wollten mehr und mehr. Das ist zu viel, sagte das Volk und ging auf den Maidan."
Der Maidan war Ende November noch mit großer Hoffnung verknüpft. Nachdem der damalige Premierminister Asarow das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht unterzeichnete, gingen empörte Kiewer Studenten als erste auf den Maidan. Im Februar aber waren die Demonstranten bereits gekauft, das glauben meine beiden Freunde. Jetzt dürfen sie wählen, einen Präsidenten und gleichzeitig einen Bürgermeister für Odessa. Keinen einzigen Kandidaten halten sie für glaubwürdig.
"Die Miliz hat schon längst den Kontakt zum Volk verloren"
Zlata Gontscharova wohnt in einer Nebenstraße im Zentrum von Odessa. Während ich am Hauseingang auf sie warte, betrachte ich die marode Fassade. Von außen sieht das Gebäude aus wie viele andere auch, die Wände sind aus Kalksandstein. Die Stadt wurde ja praktisch unterhöhlt, um damals die Häuser zu bauen. So entstanden die berühmten Katakomben von Odessa, ein gigantisches Netz von unterirdischen Gängen.
Die ukrainische Künstlerin Zlata Goncharove
Die ukrainische Künstlerin Zlata Goncharove© Joachim Baumann
Zlata öffnet die schwere, verrostete Eisentür zum Hinterhof. Ein mechanisches Schloss mit Zahlencode soll unerwünschte Gäste abhalten. Zlata ist Malerin, Grafikerin und hat es mit "body painting" zu internationalem Ansehen gebracht. Schnell kommen wir zu ihrer neuesten Arbeit für eine Ausstellung im Odessaer Hafen.
"In jedem Jahr findet hier ein Wettbewerb statt, diesmal unter dem Motto: 'Die Freiheit des Wortes'. Die Installationen und Performances sollen unabhängig von politischen Einflüssen sein, obwohl das Thema der Ausstellung sehr provokativ ist."
Fische will sie verwenden, eine bemalte Frau namens "kalte Vera" - Symbolfigur aus russischen Stummfilmen – will sie zeigen, mit der Zahl zwei will sie jonglieren – alles in schwarz-weiß.
"Die Zahl steht für das Datum 2. Mai, Odessa vor diesem Tag und danach. Ein Tag, der die Stadt in zwei völlig gegensätzliche Lager gespalten hat. Vor dem 2.Mai war Odessa eine blühende, helle und humorvolle Stadt, danach ist alles irgendwie schwarz-weiß. Wir wissen bisher immer noch nicht, wer hinter all dem steht, niemand wird zur Verantwortung gezogen, alle sind stumm und sprachlos wie Fische, wir alle befinden uns in einem fürchterlichen Stummfilm. Die Wahrheit kennt keine Wahrheit."
Eine Künstlerin im ukrainischen Odessa
Eine Künstlerin im ukrainischen Odessa© Slavik Fomenko
U Verui net verui, eine Wortspielerei. Der Name Vera heißt übersetzt: Wahrheit. Solange Zlata über ihre neue Installation spricht, ist sie ruhig, hat die Bilder vor ihrem inneren Auge. Sie reicht mir Kaffee und wir reden - natürlich über die Lage in Odessa.
"Für mich existiert Odessa nicht mehr, ich glaube nicht, dass Odessa wieder so wird, wie es war, ich fühle, man kann nicht mehr ruhig leben und lachen."
Und wenn sich die Lage nicht verbessert, willst du weg von hier?
"Niemand wird uns irgendwo was anbieten. Ich bin Russin und wenn es richtig schlecht kommt, dann gehe ich eben nach Russland. Wenn es eine Einladung gibt, dann fahre ich in ein anderes zivilisiertes Land, wenn es sein muss auch nach Afrika. Hauptsache, ich kann arbeiten."
Das Motto des Wettbewerbs "Freiheit des Wortes" bringt mich auf die Frage, warum Russisch so eine bedeutende Rolle hier spielt. Damit steche ich in ein Wespennest.
"Nun, das ist ein Moment der intellektuellen Erniedrigung. Ein Mensch, der seine Kultur und seine Sprache hat, muss diese verteidigen. Das verstehen alle, die über ein gewisses Maß an Intelligenz verfügen.
Dazu kommt, die Intelligenz in der Ukraine sprach ausschließlich russisch, das ist ein historischer Fakt. Ukrainisch sprachen die Bauern in den Dörfern und die Arbeiterklasse, also Menschen ohne besondere Bildung. Und jetzt? Sagen wir so, die Menge der Leute, die intellektuell unterbemittelt, aber ziemlich aggressiv ist, die wollen jetzt an die Macht. Das erinnert mich an 1917."
Zlata ist restlos frustriert. Sie will sich nicht einmal einer Gruppe der sogenannten Intelligenzia anschließen, die sich gerade gegründet hat und auf einem zivilisierten Weg versuchen möchte, die Ukraine zu demokratisieren. Sie verabscheut die neu gegründeten Bürgerwehren.
"Die meisten sind doch besoffen. Und wenn Du diesen 15- oder 16-Jährigen fragst, was man ihm bezahlt hat, antwortet er in einem hinterwäldlerischen ukrainischen Akzent: 200 Griven. Doch wer ihn bezahlt, erfährst du nicht."
Bedrückt lehnt sich die Malerin in den durchgesessenen Sessel zurück, wird etwas ruhiger, als ich sie nach der Lage in der Stadt frage.
"Abends in die Stadt zu gehen - unmöglich, weil praktisch niemand da ist. Die Straßen sind leer, bis auf einige ominöse Grüppchen. Doch wer die sind, ist kaum zu erahnen, sind sie prorussisch, proukrainisch oder nur irgendwelche Banditen, die eine Bank überfallen oder einfach nur ein Geschäft ausrauben wollen, um sich was zum Saufen zu besorgen. Völlige Anarchie. Und niemand ist verantwortlich. Die Miliz hat schon längst den Kontakt zum Volk verloren."
Warum hat den Menschen im brennenden Haus niemand geholfen?
Auch in der Ukraine oder gerade hier, funktioniert vieles über Kontakte. So kann ich mich mit einem ehemaligen Offizier der Miliz treffen. Spannend. Ich bin etwas nervös, obwohl unser Gespräch in aller Öffentlichkeit stattfinden soll. In einem kleinen Restaurant im Stadtpark sitzt mir Oberstleutnant Nikolai gegenüber, bis vor zwei Jahren bei der Kriminalpolizei, Abteilung schwere Delikte.
Ein Bulle! 124 kg schwer, mindestens 1,95, 47 Jahre alt. Glatze. Er sieht jünger aus. Ein freundliches Lächeln huscht ab und zu über sein Gesicht, er ist mir sympathisch. Aber man weiß ja nie und Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Ich soll ihn nur fragen! Also, warum haben Sie den Dienst quittiert?
"Ich hab aufgehört, weil ich einfach nicht mehr mich und meine Familie ernähren konnte. Mein Lohn betrug 400 Dollar, aber allein die Abzüge für das Auto und andere Sachen waren so hoch, dass nur noch 150 Dollar übrig blieben."
Aufgebessert hat er sein Einkommen durch Aufträge als Privatdetektiv, was allerdings seitens des Arbeitgebers nicht erlaubt war. Ob er deshalb seinem Vorgesetzten Bestechungsgeld zahlen musste, darüber schweigt Kolja. Als Kriminalist war er in seinem Stadtbezirk für die schweren Jungs zuständig, sagt er. Mord, Diebstahl, Rauschgift. Und Korruption? Die gibt es überall, natürlich, alles wird geklaut. Sogar Diesel.
"Nehmen wir die Strecke in das Industriegebiete nach Nikolájev, da gehen wöchentlich viele Ladungen hin. Und von jeder Ladung wird eine Tonne Diesel von den Mitarbeitern der Bahn gestohlen. Damit die aber in Ruhe gelassen werden, zahlen sie die Hälfe an den örtlichen Chef der Eisenbahn-Miliz. Ich weiß, dass er monatlich 150.000 Dollar erhält. In anderen Gebieten sind es auch mal 300.000 Dollar, monatlich und nur von den Diesel-Diebstählen. Das Gleiche passiert mit Medikamenten, Alkohol, Kognak."
Korruptionsbekämpfung, da stimmt er zu, ist die wichtigste und schwierigste Aufgabe im Land. War am 2. Mai auch Korruption im Spiel? War das Massaker von langer Hand vorbereitet? Wurde die Bürgerwehr auf beiden Seiten gekauft und gesteuert? Das sind die Fragen, die meine Freunde in Odessa nachts nicht schlafen lassen. Warum, will ich wissen, hat die Miliz am 2. Mai den 48 Ermordeten nicht geholfen, warum trug sie ausgerechnet an diesem Tag keine Schusswaffen und konnte den Menschen nicht helfen?
"Weil es den Befehl dazu gab. Ich habe mit Milizionären gesprochen, die dabei waren. Der Befehl dazu, sich nicht einzumischen, kam vom Miliz-Chef des Odessaer Gebiets, Pjotr Luzjuk, der wiederum ist ein Freund des Bruders von Premierminister Jazenjuk in Kiew."
Rote Nelken liegen einem zerstörten Fenster des Gewerkschaftshaus in Odessa
Trauernde vor dem zerstörten Gewerkschaftshaus in Odessa© Deutschlandradio / Sabine Adler
Wer also hat die Eskalation bewusst geschürt und die Menschen ins offene Messer laufen lassen? Es ist unmöglich, in diesen Tagen zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, herauszufinden, was Gerüchte und was Wahrheiten sind. Die Menschen in Odessa haben Angst – vor einem Bürgerkrieg, vor Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn, vor all denjenigen, die nichts anderes im Sinn haben, als das Land auszuplündern.
Der bullige Offizier bricht auf und klopft mir auf die Schulter mit den Worten "Es wird schon ruhig bleiben". Und am Sonntag?, frage ich.
"Da könnte schon was Schlimmes passieren."
Mitternacht ist längst vorbei. Die Klimaanlage im Hotelzimmer funktioniert immer noch nicht, nur der Lüfter wirbelt die Schwüle durcheinander. Heute sind Präsidentschaftswahlen. Und Bürgermeisterwahlen in Odessa. Der zukünftige Präsident kennt den zukünftigen Bürgermeister lange und gut. Davon darf man ausgehen. Denn die wichtigsten Posten – und dazu gehört das Amt in Odessa – hat jeder der Kandidaten in Kiew längst verteilt.