Ukraine-Konflikt

"Sanktionen gegen Russland sind kontraproduktiv"

Russische Separatisten im Norden von Donezk
Russische Separatisten im Norden von Donezk © AFP/BULENT KILIC
Gespräch mit Johannes Voggenhuber  · 02.08.2014
Der ehemalige EU-Abgeordnete und österreichische Grünen-Politiker Johannes Voggenhuber kritisiert die gegen Russland beschlossenen Sanktionen. Bereits in der Vergangenheit habe sich Europa im Ukraine-Konflikt Fehler zuzuschreiben.
Deutschlandradio Kultur: Johannes Voggenhuber ist der ehemalige österreichische Europaabgeordnete der Grünen. Herr Voggenhuber, ich freue mich sehr, dass Sie heute Gast im Tacheles sind.
Johannes Voggenhuber: Vielen Dank.
Deutschlandradio Kultur: Herr Voggenhuber, Sie waren 15 Jahre, zwischen 1995 und 2009, Mitglied des Europäischen Parlaments. Sie haben sich als überzeugter Europäer gezeigt. Sie haben aber auch oft gewettert gegen das Regieren Europas. Sie sprachen von Kurfürsten, die da irgendwie unterwegs sind. Und diese Woche beschließt die Europäische Union harte Sanktionen gegen Russland. Sie zeigt große Geschlossenheit. Europa spricht mit einer Stimme. Ist da ein kleines Wunder geschehen?
Voggenhuber: Also, was geschieht, ist so etwas wie ein Zeitenbruch. Ob jetzt, gerade was die Geschlossenheit betrifft, da ein Wunder passiert ist, mag ich sehr bezweifeln. Es gibt eine Stimmung, die mich persönlich hundert Jahre zurück versetzt. Wir feiern ja nicht umsonst den 100-jährigen Tag der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien und alles, was danach folgte. Und ich bin nicht so sicher, dass die handelnden und beteiligten Akteure sich so sicher sind über die Dynamiken, die sie da auslösen.
"Keine gemeinsame Telefonnummer - außer der von Frau Merkel"
Es gab auch eine lange Verzögerung in dieser Frage der Sanktionen, der Geschlossenheit Europas. Sie schien mir doch sehr von den USA gefordert, um nicht zu sagen diktiert. Aber es ist schon auch ein wenig ernüchternd zu sehen, dass man in dieser Situation, in einer Frage von Krieg und Frieden nicht einmal imstande ist, die Hohe Beauftragte für Außenpolitik neu zu besetzen, sondern sich einmal ganz ruhig bis Herbst Zeit lässt. – Nein, Europa hat keine gemeinsame Telefonnummer außer der von Frau Merkel.
Deutschlandradio Kultur: Aber man muss schon festhalten, dass 28 Botschafter sich geeinigt haben, ohne dass es groß gerumpelt hat. Und die einzelnen Länder müssen natürlich auch ökonomische Einbußen in Kauf nehmen. Also, das Primat der Politik hat gegriffen. Das kann man doch auch ein wenig positiv bewerten.
Voggenhuber: Na ja, das kann positiv bewerten, was die Handlungsfähigkeit betrifft. Allerdings muss man dann auch so wahrhaftig sein, um festzustellen, dass das keineswegs eine europäische gemeinsame Außenpolitik ist. Weder das Europäische Parlament noch die Kommission waren darin einbezogen. Ich würde es auch besser finden, wenn Parlamente und nicht Botschafter zu solchen Beschlüssen kämen und solche Beschlüsse vorbereiten würden und das auch breiter öffentlich diskutiert würde.
Ich sehe sehr wohl eine massive Propagandawelle in Europa. Die Vorgeschichte des Konflikts wird ausgeblendet. Die geht zurück bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Es gibt den westlichen Anteil daran, die massive Einmischung in die Westukraine, das geopolitische Kalkül der USA, dem hier Europa durchaus in dem Nachkriegsvasallentum folgt.
Es gibt ein böses Wort, das, glaube ich, in Deutschland aufgebracht wurde. Das sind die "Putin-Versteher", ein besonders hässlicher und demagogischer und diffamierender Ausdruck, weil es ja ganz und gar nicht um Putin geht, sondern um die Interessen Russlands.
"Die legitimen Interessen Russlands sehen"
Da würde es uns gut anstehen, auch ein Verständnis dafür zu haben. Es bestreitet niemand, dass es hier zu Völkerrechtsverletzungen kommt, aber man muss auch ein wenig die legitimen Interessen Russlands in dieser Frage sehen. Dann würde man vielleicht nicht so hellauf begeistert nach den neuen Sanktionen und noch mehr Sanktionen und noch mehr Sanktionen rufen, sondern vielleicht nach Verhandlungen, mehr Verhandlungen und besseren Verhandlungen.
Deutschlandradio Kultur: Aber, Herr Voggenhuber, man kann doch das eine tun, ohne das andere zu lassen. Zumindest nach dem Abschuss dieses Flugzeuges, eines Passagierflugzeuges, was hätte denn die europäische Gemeinschaft tun sollen? Einfach weiterhin sagen, ja, dumm gelaufen, wir müssen wieder reden?
Voggenhuber: Wissen Sie, wenn ich am 28. Juni, dem Jahrestag des Ersten Weltkrieges, ein Spiegeltitel-Cover sehe mit "Stoppt Putin", hinterlegt mit Bildern der Opfer von einem Flugzeug, das er nicht abgeschossen hat, zu dem es keinerlei Beweise gibt ...
Deutschlandradio Kultur: Bis heute nicht, aber ...
Voggenhuber: ... bis heute nicht, dann muss ich sagen: Wenn ich jemanden als Massenmörder auf ein Titelblatt setze, ...
Deutschlandradio Kultur: Das ist Ihre Interpretation. "Stoppt Putin" heißt nicht, Putin ist ein Massenmörder.
Voggenhuber: ... die Opfer des Flugzeugs sind klar oder die Botschaft ist klar.
Also, es könnte genauso die Ukrainische Armee gewesen sein. Warum veröffentlichen die Amerikaner ihre seit drei Wochen versprochenen Beweise nicht? Warum wurde die Maschine angewiesen, die Höhe zu wechseln, um praktisch an die Grenze des gesperrten Luftraums zu fliegen, ihre Luftroute ins Landesinnere zu verlegen? Alles ist unaufgeklärt.
"CIA und das FBI massiv vertreten in der Westukraine"
Jetzt sage ich einmal, in dem Fall als militärischer Laie wie wir alle: Es wird auf der Welt in keinem Krisengebiet eine Rakete abgeschossen, ohne dass die Amerikaner wissen, wer sie abgeschossen hat. Also bitte, her mit den Beweisen, bevor wir Sanktionen, Ächtungen und Feindbilder aufbauen und bevor wir in einen Kalten Krieg tauchen, der langsam an Temperatur zunimmt.
Deutschlandradio Kultur: Aber nochmal zur Klarstellung: Dass Wladimir Putin, der russische Präsident, in der Ostukraine mitmischt, dass er seine Finger mit im Spiel hat, dass Waffen aus russischen Beständen in der Ukraine zum Einsatz kommen, das würden Sie doch nicht bestreiten?
Voggenhuber: Nein. Das scheint mir klar zu sein, auch wenn, was den Umfang betrifft, das Ausmaß betrifft, auch keine Beweise vorliegen. Aber ich würde doch einmal auch dann nüchtern feststellen, dass die CIA und das FBI massiv vertreten sind in der Westukraine, dass man Russland mit Sanktionen bedroht, weil es nicht eingreift, das ist überhaupt einzigartig, wegen Nichteingreifens in einem Gebiet, während – ja, es ist völlig unklar, welche Macht Putin über diese westukrainischen....
Deutschlandradio Kultur: Aber wenn Sie zum Beispiel schauen, diese OSZE -Beobachter, die gefangen genommen wurden und dann wieder frei kamen, es ist doch ziemlich naheliegend, dass der russische Präsident ein Machtwort gesprochen hat. Und plötzlich geht was.
Voggenhuber: Ja. Und wo honoriert man das? Nein, man honoriert es nicht. Und die Westukraine, in der tobt ein Bürgerkrieg, der für eine geopolitische Auseinandersetzung USA-Russland steht, eine Auseinandersetzung, die eine lange Vorgeschichte hat. Ich will jetzt nicht in den Streit des Versprechens Deutschlands zur Wiedervereinigung, die Nato nicht zu erweitern, eingehen. Dass sie eine unkluge, übereilte Strategie war, das sagt heute der ehemalige Verteidigungsminister der USA. Das sagt heute ein Henry Kissinger. Das sagt heute ein Gerhard Schröder. Das sagt heute ein Herr Eppler, das sagt heute ein Helmut Schmidt.
Also, ich glaube nicht, dass das alles Putin-Versteher sind, sondern dass sie uns warnen davor, in einen Konflikt hineinzuschlittern, dessen Dynamiken wir nicht verstehen und der im Übrigen gar nicht im Interesse Europas liegt. Wo ist denn die europäische Nachbarschaftspolitik? Wo ist denn die europäische gemeinsame Außenpolitik?
Können wir uns erinnern, dass Gorbatschow uns unmittelbar in der größten Krise der Sowjetunion, als er die osteuropäischen Vasallenstaaten in Freiheit entlassen hat, friedlich und ohne Krieg, dem Westen die volle, umfassende Zusammenarbeit angeboten hat, auf die er nicht einmal eine Antwort bekam.
"Der auf Druck mit Gegendruck und Verhärtung reagiert"
Deutschlandradio Kultur: Vielleicht sind Fehler in den letzten zehn, zwanzig Jahren gemacht worden mit der Nato-Erweiterung. All diese Fragen sehen ja im Raum. Dennoch: Im Moment haben wir einen akuten Konflikt. Wir haben Probleme in der Ost-Ukraine in großem Umfang.
Nochmal zugespitzt die Frage: Sind diese Sanktionen, die jetzt vom Westen ausgesprochen wurden, auch von den Amerikanern, Ihrer Meinung nach kontraproduktiv? Verschlechtern sie das Klima? Oder können sie möglicherweise doch Druck auf Moskau ausüben zu größerer Kooperation?
Voggenhuber: In diesem Falle sind sie hoch kontraproduktiv, schon allein wegen der viel strapazierten Psychologie dieses autoritären russischen Präsidenten, der ja ganz offenkundig für jeden, der die Lage halbwegs kennt, auf Druck mit Gegendruck und mit Verhärtung reagiert. Also, man kann sich die eigene Stärke demonstrieren, aber wenn der Gegner da nicht erreichbar ist, dann sollte man es doch vielleicht mit anderen Mitteln versuchen.
Deutschlandradio Kultur: Das ist ja spannend. Sie kritisieren dieses eine, aber was wäre denn das Gegengift dazu?
Voggenhuber: Ich glaube, dass man eine Fülle von Versäumnissen auch im Westen einmal zur Kenntnis nehmen muss. Hier gab es über 20 Jahre keinerlei Aufmerksamkeit für die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands. Wir in Europa haben ja nicht gelernt, geopolitisch zu denken.
Es ist ganz erstaunlich, dass man mit großer Allergie auf geopolitische Ambitionen der USA in diesem Raum verweisen kann, dazu alle amerikanischen Dokumente – Reden, Bücher, alles – aufliegt, aber in Europa erschreckt man zu Tode, weil man einfach diese geopolitische Dimension über viele Jahre nach dem Krieg, in der ganzen Nachkriegsgeschichte nicht gelernt hat zu diskutieren.
"Das Gegenteil von europäischer Außenpolitik"
Natürlich existieren diese Interessen nach wie vor. Es gibt einen Brzezinski, der sein Buch "Das große Schachbrett" geschrieben hat, in dem er die amerikanischen Interessen in diesem Raum ganz klar beschrieben hat, in den Himmel gehoben von Bush, in den Himmel gehoben von Außenministerin Albright. Man kann durchaus von einer offiziellen Doktrin der USA sprechen, Russland einzudämmen, es im Süden zu destabilisieren, es im Kaukasus zu destabilisieren und ein Aufkommen einer russischen Regionalmacht zu verhindern. Das hängt auch mit der monopolaren Weltordnung, die von der USA propagiert wird, zusammen. Das wirkt sich auch gegenüber Europa aus.
So, nun: Europa muss von der Wirtschaft bis zur Politik, bis zur Nachbarschaft mit Russland leben. Amerika ist in diesem Falle wirklich sehr weit weg, hat geringe Handelsbeziehungen, hat traditionellerweise keine besondere Sensibilität gegenüber diesem Raum – Europa sehr wohl. Es gibt keine Sicherheit Europas ohne Russland. Und damit erreichen zu wollen, dass man es in die Knie zwingt, das halte ich für absurd.
Es gibt kein Verhandlungsangebot, das diesen Namen verdient. Was Europa betrifft, muss man auch darauf hinweisen bitte, das Weimarer Dreieck also, das diese ganzen Verträge verhandelt hat, das waren die Außenminister von Polen, Frankreich und Deutschland. Das ist das Gegenteil von europäischer Außenpolitik.
Deutschlandradio Kultur: Aber wir sind heute weiter.
Voggenhuber: Das ist keine Außenpolitik. Das ist eine Allianzpolitik.
Deutschlandradio Kultur: Aber in den letzten Monaten war doch deutlich, dass in feiner Abstimmung, wenn es um Gespräche ging in Moskau oder in Kiew, egal, ob das Fabius war oder ob das der polnische Außenminister war, es immer in Abstimmung mit den anderen Mitgliedern der Europäischen Union stattgefunden hat. Es gab zumindest überhaupt kein Störfeuer aus anderen Ländern – weder aus Spanien, noch aus Italien, noch aus Lettland irgendwo.
"Das ist doch zutiefst absurd"
Voggenhuber: Ja. Lassen Sie mich Ihnen etwas zu bedenken geben, um ein klein wenig ein anderes Licht auf die Sache zu werfen.
Wir verfolgen genau diesen Vorgang, den Sie jetzt hier beschwören und von dem Sie glauben, dass die Geschlossenheit inhaltlich bestimmt ist – auch in der Wirtschafts- und Finanzkrise.
Es gibt sehr heftige Auseinandersetzungen über die Frage der Austeritätspolitik. Es gibt sehr heftige Auseinandersetzungen über die Solidarität in Europa – bis hin zur Frage einer gemeinsamen Schuldenverwaltung, Eurobonds und was es da alles gibt.. Es gibt ja eine zweite Krise, die einen zweiten Wendepunkt Europas darstellt. Und auch darin hat Deutschland eine führende Rolle übernommen, die gar nicht reflektiert wurde, wo wir in der ersten Phase genauso wie in diesem Konflikt festgestellt haben, dass es sehr divergierende Absichten gibt, aber wo es heute eine an das 19. Jahrhundert gemahnende hegemoniale Achsenbildung gibt, wo einzelne Staaten die Führung Europas übernehmen.
Mit dem Versprechen Deutschlands in der Wiedervereinigung, sich in ein politisch geeintes Europas einzubetten, hat das nichts mehr zu tun. Und auch in dieser Frage ist offenkundig zu sehen, dass die Geschlossenheit durch Führung entsteht und nicht durch europäische Demokratie.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir ganz kurz bei Russland, weil das im Moment die drängende Frage ist, und dem Umgang mit Moskau, mit Putin und der Befriedigung dieses Konfliktes in der Ukraine.
Wie kann man Ihrer Meinung nach, wenn man nicht mit Sanktionen arbeitet, Herrn Putin dazu bewegen, dass es ohne Gesichtsverlust möglicherweise zu einer Befriedung in dieser Region kommt? Oder muss man einfach sagen, das wird militärisch ausgetragen?
Voggenhuber: Militärisch kann es nicht ausgetragen werden. Und ich denke, da sind sich alle Seiten noch klar darüber. Ich hoffe, dass das anhält.
Die andere Seite ist: Man wirft Europa und vor allem einzelnen Ländern vor, die Sanktionen deshalb so lang verzögert zu haben, weil sie wirtschaftlich selbst betroffen sind, und macht daraus so eine Art Moral. Aber es ist doch absurd, Strafmaßnahmen zu ergreifen, die einen selber mehr strafen als den anderen oder auch strafen. Das ist doch zutiefst absurd in einer fragilsten wirtschaftlichen Situation mit einer Finanzmarktkrise, die jederzeit wieder ausbrechen kann.
Deutschlandradio Kultur: Aber man kann ja auch sagen: Wenn europäische Länder sich einigen, dass sie keine Waffenlieferungen mehr leisten an Länder, die möglicherweise diese Waffen einsetzen – in Teilen, wir lassen mal diese französische Flotte raus, aber dass man zumindest einen Richtungswechsel vorgibt, dann könnte man doch auch sagen, auch Sie, als ehemaliger Grüner, vielleicht auch als Pazifist, das könnte zu einer Befriedung führen, weil eben tatsächlich manche Hightech-Produkte, die in Waffen reingebaut werden, nicht mehr zum Einsatz kommen.
"Sehr aggressive Eindämmungspolitik Russlands"
Voggenhuber: Also, Russland ist eine Atommacht, da sollten wir uns bitte klar werden, und zwar Kleinstatomwaffen wie große. Putin hat die russische Armee in den letzten zehn Jahren hoch modernisiert. Also, da zu glauben, dass man in diesen Konflikten mit Waffenembargos mehr tut als ein Symbol... Gut, was die Waffenembargos betrifft, da haben wir keinen großen Konflikt. Das soll geschehen. Das ist überhaupt keine Frage. Das ist auch ein starkes Symbol.
Aber der Konflikt selbst, dass ein gespaltenes Land, das eine sehr, sehr junge Nation ist, zerrissen wird in dem Kampf, in welche Einflusssphäre es gehört, dass dieses Land selber in seiner sehr, sehr, sehr jungen Geschichte in diesem Konflikt nicht imstande war einen nationalen Konsens herauszubilden, die russischen Teile, die Ost-Ukraine und die Menschen einzubeziehen in diesen Konsens, dass man eine Kette von Provokationen gestartet hat, wie sie auch Robert Gates, der Verteidigungsminister ausführt in seinen Memoiren, dass man ja überhaupt keinen Versuch gemacht hat, zum Beispiel die eurasische Freihandelszone auch möglich zu machen, nicht in den Assoziationsvertrag mit der EU militärische Kooperationen einzubauen, weil das einfach rote Linie der Sicherheitsinteressen, und zwar der legitimen Sicherheitsinteressen Russlands verletzt
Man hat hier provoziert. Es gibt hier klare Beweise für eine sehr aggressive oder sagen wir vehemente Eindämmungspolitik Russlands. Und da glaube ich, dass man in dem Konflikt die Gefährdungsdimension sehen muss und einfach Russland an den Verhandlungstisch bringen muss, und zwar Europa. Es ist unser Nachbar. Wir, Russland und Europa, sind hauptverantwortlich für die Befriedigung dieses Konflikts. Und natürlich muss Russland dazu gebracht werden.
Ich darf erinnern: Man sagt heute „Separatisten", was ja an sich ein unkorrekter Ausdruck ist. Denn die Separatisten, ihre ersten Forderungen waren eine Föderalisierung der Ukraine, nicht die Abtrennung von der Ukraine. Und man hat sie trotzdem bereits als Separatisten behandelt.
Deutschlandradio Kultur: Andererseits kann man auch sagen, es haben demokratische Präsidentschaftswahlen in der Ukraine stattgefunden. Im ersten Wahlgang ist ja Poroschenko gewählt worden. Jetzt könnte man sagen, das ist eine demokratische Legitimation und die nationale Einheit muss gewahrt werden. Und wenn jetzt auch noch Parlamentswahlen demnächst stattfinden, dann gibt es eine demokratische Legitimation, wo das Land selbst entscheiden kann, was es möchte – jenseits der Einflüsse von außen.
Voggenhuber: Also, ich möchte uns jetzt nicht auf das Pflaster der seit Monaten tobenden Streitigkeiten über alle diese Dinge ziehen, weil ich glaube, dass es da nicht weitergeht. Was mich zutiefst betroffen macht, und da möchte ich schon auch etwas zu der Propagandahaltung der Leitmedien in Europa sagen.
Europa ist wesentlich demokratischer und sensibler, was Grund- und Bürgerrechte und Freiheiten betrifft, Medienfreiheit, all das hat in Russland ein außerordentlich bedauerliches Schicksal unter dieser autoritären Führung von Putin genommen in all diesen Monaten – bis zur politischen Union, bis zu Menschen- und Bürgerrechten. Aber gerade deshalb, weil wir wesentlich demokratischer sind, weil wir ein völlig anderes Verständnis haben, sollten wir diese Debatte nicht einengen auf einen Propagandakrieg.
"Schwerwiegende Brüche in der Vorgeschichte"
Wir haben allen Anlass, die westlichen Anteile an den Ursachen dieses Konfliktes herauszustreichen. Es haben sich unsere Außenminister, es haben sich amerikanische Botschafter, es haben sich von unseren Stiftungen und politischen Akademien die Leute auf der Bühne des Maidan hervorgetan und haben die Leute aufgeputscht. Sie haben auch gegen einen gewählten demokratischen Präsidenten geputscht. Ihre demokratische Legitimation ist nicht sehr tief. Und der neue Oligarch ist nicht viel weniger korrupt oder mehr demokratisch als die alten.
Wir haben einen sehr jungen Staat. Die Ukraine war niemals ein Staat. Sie hat sich von der Sowjetunion gelöst. Die Sowjetunion hat sie friedlich ziehen lassen. Die Ukraine hat damals, auch wenn es weh tut, müssen wir das irgendwie einsehen, Russland erpresst, die sowjetischen Atomwaffen nicht herauszurücken, wenn sie die russische Krim, die seit jeher russische Krim nicht behalten dürfen, als würde es einen Menschen gegeben haben, die die Ukraine als Atommacht, als neue Atommacht sehen wollen.
Wir haben eine ganze Reihe von schwerwiegenden Brüchen in der Vorgeschichte des Konflikts, wo wir weder ein Ruhmesblatt, noch gar einen Olivenzweig an unser Haupt kränzen können. Und wir haben allen Anlass, auf Russland anders zuzugehen als mit dieser propagandistischen, verachtenden Haltung, und die innere Diskussion nunmehr so zu führen, das entweder als entschlossene machtvolle kraftvolle Europäer oder Putinversteher und irgendwelche, ich weiß nicht, verkappte alte Kommunisten zu sehen.
Das ist absurd. Wir haben allen Anlass, eine völlig andere Debatte zu führen, Friedensgespräche herbeizuführen. Ich glaube, ich war viele Jahre in der russischen Delegation, dass wir als ein offensives Europa, das sich auch ein bisschen emanzipiert von dieser geopolitischen strengen Sicht der Amerikaner, dass wir dann diesen Konflikt in Verhandlungen befrieden können.
"Eine unglaubliche Mischung aus Dummheit, Inkompetenz"
Deutschlandradio Kultur: Auch mit Putin?
Voggenhuber: Das würde ich nicht über die Krim sagen, aber das würde ich über die West-Ukraine sagen. Und ich glaube, noch – noch! – ist auch Putin dazu in der Lage.
Deutschlandradio Kultur: Also stimmt das Wort der Kanzlerin dann doch nicht, die mal gesagt hat, ich verstehe Putin überhaupt nicht, ich weiß nicht mehr, wie der denkt. Man kann vielleicht schon verstehen, wie er denkt?
Voggenhuber: Es ist keine Auszeichnung für eine Kanzlerin, einen anderen machtvollen Staatspräsidenten in einer Krise nicht zu verstehen. Ich glaube, dass man ihn verstehen kann. Wenn schon Psychologie, dann sage ich: Jeder, der ihn kennt, den ich kenne, sagt, dass er auf Druck mit Gegendruck reagiert, dass er auf Härte mit Härte reagiert. Das ist, wenn schon Psychologie, dann bitte auch hier die Konsequenzen ziehen. Der Mann ist erreichbar. Vor allem aber auch, er ist nicht der Alleinherrscher Russlands. Bitte, auch das ist ein demokratisch gewählter Präsident. Vielleicht tun wir auch nicht so. Wir sind ja auch sonst nicht so empfindlich.
Also, die Amerikaner, die uns jetzt ganz, ganz auf das verpflichten wollen, bitte, ihr allerliebster Alliierter auf der Welt ist Saudi-Arabien. Und ein Herzensbusenfreund ist Erdogan. Da muss ich ehrlich sagen, ich weiß nicht, wer da demokratischer ist. Also kühlen wir ein bisschen die moralische Überlegenheit herab, sehen unsere eigenen Fehler ein, sehen vor allem, dass wir nicht weiterkommen. Und es treten Dynamiken auf!
Nehmen Sie diesen Flugzeugabsturz, eine verheerende Tragödie, die niemand bewusst wollte – mit großer Wahrscheinlichkeit. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es eine unglaubliche Mischung aus Dummheit, Inkompetenz.
Deutschlandradio Kultur: Aber Experten brauchen Sie schon, wenn Sie diese Rakete abschießen wollen. Sie müssen schon wissen, wohin Sie zielen.
"Mit den Bürgern selbst angelegt"
Voggenhuber: Ja, natürlich, ich will auch gar nichts sagen. Wenn die Amerikaner für jede Waffe, die sie exportieren, verantwortlich wären, wo sie eingesetzt würde, wären wir woanders.
Es gibt eine lange Geschichte von abgeschossenen Passagiermaschinen – auch der Nato, auch der Ukraine, auch Russlands. Also kühlen wir diese Stimmung des einzigartigen Verbrechens etwas ab und sagen, das ist eine grauenhafte Katastrophe, die aber niemand vorhergesehen hat, niemand kalkulierend wollte, die aber einem Konflikt unerwartet eine völlig andere Dimension geben kann. – Noch ein solcher Zwischenfall und wir stehen nicht mehr nur in einem Kalten Krieg!
Deutschlandradio Kultur: Lassen Sie uns mal ein bisschen das Spielfeld, wenn man überhaupt den Begriff nennen kann, wechseln. Es gab die Wahl zum Europäischen Parlament, nach langem Tauziehen auch die Wahl des Kommissionspräsidenten, also Jean-Claude Juncker.
Die Frankfurter Allgemeine schreibt, ich zitiere das mal, weil ich es bemerkenswert finde: "Das Europaparlament hat den wahrscheinlich größten Sieg seiner noch jungen Geschichte errungen. Es hat seinen Favoriten", also Jean-Claude Juncker, "zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt." Und dann weiter: "Die Straßburger Volksvertretung hat die Staats- und Regierungschefs zu Notaren des Parlamentswillens degradiert."
Hat da eigentlich in Straßburg eine Revolution stattgefunden, die wir überhaupt nicht bemerkt haben?
Voggenhuber: Also, wir haben sie ja bemerkt – sogar die FAZ, die,wie andere auch ganz vehement und heftig dagegen gekämpft hat und die eigene Kanzlerin beschworen hat, diesen Barrikadensturm des Parlaments gefälligst zu unterbinden in der alten, in der gouvermentalistischen Manier.
Bisher ist es gelungen in all den vielen Jahren der Emanzipation des Europäischen Parlaments gegenüber den Kurfürsten, gegenüber dem Europäischen Rat, gegenüber dem intergouvermentalen Europa immer irgendwie ein wenig abzuwimmeln unter dem Hinweis, der natürlich höchst populär war, da will ja nur eine Institution Macht arrogieren. Die wollen ja nur Macht.
Diesmal haben sich die Staats- und Regierungschefs mit den Bürgern selbst angelegt. Sie haben als Parteichef, als Parteichefinnen dieser Spitzenkandidatur zugestimmt. Die Dynamik ging vom Parlament aus.
"Eines der gefährlichsten Urteile"
Deutschlandradio Kultur: Und von den Sozialdemokraten.
Voggenhuber: Und von den Sozialdemokraten. Aber man geriet mehr und mehr in diesen Treibsand, glaubte, es zuerst nicht ernst nehmen zu müssen, wollte dann ein bisschen mitmachen. Und als der Zug fuhr, hat man die Bremse nicht mehr gefunden. Und am Ende, als man dann versuchte einfach zu sagen, ja, aber Automatik gibt's da keine – O-Ton Bundeskanzlerin, oder die Briten, usw. – war es viel zu spät, denn man hatte sich tatsächlich zum ersten Mal mit den Bürgern selbst angelegt. Und dieser europäische Souverän, der hier entsteht, hat gesagt: Das nicht!
Deutschlandradio Kultur: Das gefällt Ihnen?
Voggenhuber: Das gefällt mir sehr, weil ich glaube, dass die politische Einigung Europas keine intergouvermentale sein kann, weil es dann ohne eine europäische Demokratie auskommen müsste. Jetzt weiß ich schon, dass Karlsruhe in seinem Lissabon-Vertrag so was wie eine theoretische Grundlegung des neuen Nationalismus versucht hat und gemeint hat, die Demokratie würde sich überhaupt auf das eigene Staatsvolk und auf die nationalen Grenzen beschränken.
Das halte ich im Übrigen für eines der gefährlichsten Urteile in dieser ganzen europäischen Integration und fernab jenes Versprechens bei der Wiedervereinigung, aber auch in der Verfassung Deutschlands, nämlich die politische Einheit, Teil der politischen Einheit Europas zu sein.
Und das Parlament ist die einzig direkt gewählte Institution, der einzige Ort, in dem wirklich europäisches Interesse verhandelt wird, ausgeglichen und kreiert wird. Denn die Europäische Kommission, die dazu ja auch berufen wäre, wird ja durch die nationalen Besetzungen und durch die Weigerung der Regierungen die Kommission zu reduzieren, wie es im Lissabon-Vertrag eigentlich vorgesehen ist, auch zu einer Art Staatenvertretungsbürokratie.
Das wird sich hoffentlich mit diesem Sieg des Parlaments und der Wahl Junckers, den ich für eine Schlüsselfigur in der ganzen Debatte halte, dramatisch ändern.
Deutschlandradio Kultur: Es gibt noch ein Zitat vom Präsidenten des CDU-Wirtschaftsrats Kurt Lauk, der sagt: Mit Jean-Claude Juncker steht einer der erfahrensten Europapolitiker an der Spitze der neuen Kommission." – Jetzt kann man vielleicht den Satz unterschreiben. Man kann sich aber auch fragen: Ist das eine neutrale Feststellung? Ist das ein Kompliment? Oder ist es vielleicht sogar eine Beleidigung?
"Europa ist ein Versprechen"
Voggenhuber: Also, also man hat ja, als in der Kampagne sichtbar wurde, dass es zumindest in Teilen Europas eine große Rolle für die Wahlentscheidung spielt, dass es hier Spitzenkandidaten gibt, hat man ja mit nicht unbedingt Glacéhandschuhen versucht, diesen Juncker, den man so oft in den Himmel gehoben hatte, zu demontieren.
Ich habe ihn über viele, viele Jahre verfolgt. Ich muss sagen, ich habe wenige politische Gegner von diesem außergewöhnlichen Format entdeckt, die sich mit dieser offenen Beharrlichkeit einer Sache, der er sich verpflichtet hat, auch widmen. Das ist ein alter Fuchs.
Deutschlandradio Kultur: Aber ist es nicht "Old-School", altes Denken, alte Strukturen?
Voggenhuber: Ach, Old-School, mein Gott. Old-School finde ich den Intergouvermentalismus. Das finde ich Old-School, zu glauben, dass man Europa nebenberuflich oder übers Wochenende von den Hauptstädten aus regieren kann oder dass Hegemonien und Achsenbildungen uns hier voranbringen werden.
Wissen Sie, Old-School in der Geschichte: Europa ist ein Versprechen, nicht eine verblasene Idee der 50er-Jahre. Es ist ein Versprechen, am Rande von Auschwitz und zweier Weltkriege abgegeben. Und dieses Versprechen hieß: die Überwindung des Nationalismus. Und dass es Menschen gibt, die im Laufe der Zeit eine so große Idee nicht einfach vergessen, so eine drängend lebensnotwendige Idee für Europa nicht einfach versickern lassen, weil es uns gut geht, weil wir es nicht brauchen, dann soll das "Old-School" sein.
Eine Kathedrale zu bauen und sich in der dritten Generation noch daran zu erinnern, dass sie nicht fertig ist, und sie nicht in den Grundfesten stehend dem Regen auszusetzen und dem Schnee und dem Hagel, da täten auch die Regierungen gut daran.
"Ein Duell im Morgengrauen"
Deutschlandradio Kultur: Die Nagelprobe kommt demnächst, wenn wir über die Kommissare reden. Es gibt kaum Frauen. Juncker hat eindeutig gesagt, wir wollen mehr Frauen. Also müssen die Staats- und Regierungschefs ihre Hausaufgaben machen, nachliefern.
Voggenhuber: Ja, da gibt es ein Duell im Morgengrauen, wenn die Regierungen sich da nicht bewegen. Viel wichtiger erscheint mir aber, ein wenig unseren skeptischen Blick darauf zu werfen, denn ich kenne ja unsere Kurfürsten und sie sind von großer Gerissenheit und Listigkeit. Und wie es in ihrem Gehirn derzeit ausschaut, ist: Gut, das Parlament hat gesiegt. Es ist Juncker geworden. Und jetzt werden wir ihm das Programm aufzwingen.
Die Kommission ist vor allem an das Parlament gebunden. Das ist die Allianz. Da ist die demokratische Legitimation, selbstverständlich unter voller Einbeziehung der Nationalstaaten. Aber die Regierungen müssen heute einen Schwur widerrufen, den sie nach dem Ende von Jacques Delors, dem großen Kommissionspräsidenten, abgegeben haben: Nie wieder ein Monsieur de l'Europe, nie wieder ein Präsident Europas. Sie haben mit Santer, natürlich auch Barroso den Kommissionspräsidenten so schwach wie möglich besetzt, die außenpolitischen Beauftragten, den Ratspräsidenten so schwach wie möglich besetzt, damit das, was in Lissabon in Wahrheit passiert ist, ja nicht zum Tragen kommt.
Jetzt gibt es eine Chance, einen Mann zu haben mit einem Funken von Delors. Und jetzt muss man ihm auch die Chance geben, auch im Dialog mit dem Parlament. Der nächste Schritt des Parlaments muss heißen: Das Programm des Kommissionspräsidenten legitimiert das Parlament.
Deutschlandradio Kultur: Wenn wir über das künftige Europa reden, wer wird denn eigentlich das Sagen dann haben? Ist es das Europäische Parlament? Ist es Jean-Claude Juncker? Ist es Mario Draghi oder am Schluss dann doch wieder die deutsche Kanzlerin?
Voggenhuber: Derzeit ist es die deutsche Kanzlerin. Ich wünsche es Deutschland nicht, dass es zur Hegemonialmacht Europas wird. Es würde viel, viel Unfrieden den Horizont heraufziehen. Und ich denke, dass in den letzten 60 Jahren dieses Deutschland gezeigt hat, dass es eine große europäische Macht ist und dass dieses Versprechen in seiner Verfassung, Teil eines politisch geeinten Europas zu sein, auch die bessere Zukunft ist – nicht nur für Europa, sondern auch für Deutschland.
Und ich hoffe nicht, dass wir die Vision einer europäischen Demokratie ersetzen müssen durch eine Hegemonialmacht Deutschland.
Deutschlandradio Kultur: Herr Voggenhuber, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.