Ukraine

Fernab der Krise

Blick auf die Stadt Lviv, ehemals Lemberg, im Westen der Ukraine
Blick auf die Stadt Lviv, ehemals Lemberg, im Westen der Ukraine © dpa / picture alliance / Lyseiko
Von Erik Albrecht · 05.06.2014
Im Osten der Ukraine toben blutige Kämpfe. In der Stadt Lemberg im Westen des Landes ist davon wenig zu spüren. Und doch ist der Konflikt auch hier auf Schritt und Tritt präsent.
Vier Uhr nachmittags. Vom Turm des historischen Rathauses bläst ein Trompeter in mittelalterlichem Gewand zur vollen Stunde. Unten auf dem Marktplatz flanieren Touristen und Einheimische im Sonnenschein. Ab und zu bahnt sich eine Straßenbahn mühsam den Weg durch die Menschen. Am Springbrunnen machen ein paar Jugendliche Musik.
Lemberg in Zeiten des Ukraine-Konflikts. Flaggen mit EU-Sternen und den Landesfarben blau und gelb wehen fast trotzig überall von den barocken und klassizistischen Fassaden des Marktplatzes. Ursprünglich aufgehängt während des Maidans als Zeichen des Protests gegen die Politik des mittlerweile geflohenen Präsidenten Janukowitsch, haben sie längst eine andere Bedeutung: Wir sind ein Land. Die Ukraine ist nicht teilbar.
An der Westseite des Marktplatzes baumeln unter der Flagge der Ukraine T-Shirts mit Anti-Putin-Logos im Wind. In dem kleinen Souvenirladen füllen solche T-Shirts, aber auch Tassen und Kühlschrankmagnete zur aktuellen politischen Lage mittlerweile ein ganzes Regalbrett.
"Wir haben nicht den gleichen Weg", steht da etwa. Oder: "Die Ukraine ist nicht Russland." Solche Souvenirs seien derzeit der Renner unter den Touristen, erzählt die Verkäuferin Anja.
Vor ihrem Laden warten Juri und Wolodymyr auf Kundschaft. "Tourist-Help" steht auf den Jacken der beiden Studenten, Hilfe für Touristen. In den vergangenen Jahren ist die Stadt für Touristen immer attraktiver geworden. Jetzt machen sich beide Sorgen, dass in der Krise die Gäste ausbleiben könnten.
"Wir versuchen, Ihnen zu erklären, dass in Lemberg gar nichts passiert. Das hier ist die Westukraine und da ist alles ruhig. Es gibt keinen Krieg. Im Gegenteil: Alle sind sehr gastfreundlich."
Ein Stück Mitteleuropa im eigenen Land
Das bestätigen auch Maria und ihre Freundin Julia, die sich ein paar Meter weiter von ihrer Stadtführerin verabschieden. Blondierte Haare, Sonnenbrille, Fotoapparat: Die beiden Frauen sind Touristinnen aus Odessa. Lemberg ist für sie ein Stück Mitteleuropa im eigenen Land. Nur, dass hier jeder ihre Sprache spricht, sagt Maria, bevor sich die beiden auf die Suche nach einem Café machen.
"Ich spreche hier ganz normal auf Russisch. Zwar verstehe ich Ukrainisch, aber ich spreche nun mal Russisch. Aber das stört hier niemanden. Es gibt überhaupt kein Sprachenproblem. Die meisten Leute wollen einfach Frieden."
Raus aus der Altstadt. Langsam kämpft sich der Kleinbus durch die verstopften Kopfsteinpflasterstraßen aus dem Lemberger Talkessel heraus. Auch hier Zeichen des zivilen Widerstands gegen Russlands Ukraine-Politik: An der Fahrzeugdecke ruft ein Plakat zum Boykott russischer Produkte auf und erklärt minutiös, wie man diese erkennt. Mit Russland verbindet die Menschen in Lemberg wenig. Auch deshalb war die Stadt eines der Zentren der Maidan-Bewegung.
Naht für Naht wächst der Damen-Blazer zusammen. Eine Frau Mitte 50 zieht den blassrosafarbenen Stoff routiniert immer wieder unter der Nähmaschine durch. Ein Stück weiter schneiden ihre Kolleginnen aus großen Stoffbahnen die Einzelteile zurecht. Etwa 30 Frauen stellen in der kleinen Halle Sommerkleidung her. Die Textilfabrik Trottola näht schon jetzt für Europa. Kaum eine ukrainische Region profitiert von der EU-Annäherung so stark wie Lemberg. Von den Nähbänken geht die Damenkleidung direkt über die nahe polnische Grenze in die Filialen großer europäischer Modeketten, erzählt Firmenchef Jaroslaw Ruschtschyschyn später in seinem Büro.
"Die Westukraine hat schon lange gute Verbindungen nach Europa. Nicht nur weil viele Menschen dort arbeiten. Wir hatten einfach keine Arbeit hier. Deshalb mussten wir welche suchen. Und so arbeiten die meisten Unternehmen mit dem Westen. Die Zollerleichterungen der EU helfen uns deshalb sehr. Wir mussten bislang zwölf Prozent zahlen. Jetzt sind es null."
"Jetzt ist die beste Zeit, in der Ukraine zu investieren"
Mit knapp 1000 Mitarbeitern in neun Werken ist Ruschtschyschyns Firma nach eigenen Angaben der größte Textilexporteur des Landes. Er glaubt an die neue Regierung, trotz Wirtschaftskrise und Kämpfen in der Ostukraine.
"Jetzt ist die beste Zeit, in der Ukraine zu investieren. Denn jetzt können wir einen Sprung nach vorne machen."
Zurück auf dem Lemberger Marktplatz. In einer Seitenstraße rührt Alim Alijew auf der Terrasse des Cafés 1 in seinem Espresso. Für ihn ist es einer der seltenen ruhigen Momente der vergangenen Monate.
"Ich liebe den lauschigen Blick von hier auf Lemberg. Und die Kellner haben immer Zeit für ein wenig Small-Talk."
Alijew ist vor sechs Jahren in die Stadt gekommen, um bei einem Think Tank zu arbeiten. Nur hat sein Chef in den vergangenen Monaten nicht viel von ihm gesehen. Wie so viele in Lemberg hat er für den Maidan alles andere stehen und liegen gelassen. Dann kam die Annexion der Krim. Als Krimtatare hilft er seitdem rund um die Uhr Landsleuten nach der Flucht vor der russischen Besatzung. Arbeit und Wohnraum seien die größten Probleme.
"Die Lemberger waren die ersten in der Ukraine, die ihre Hilfe angeboten haben. Deshalb haben wir sogar eine Hotline eingerichtet. Viele waren bereit, Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen."
In Lemberg sei zivilgesellschaftliches Engagement selbstverständlich, sagt Alijew. Das zeigt sich vor allem jetzt in der Krise.
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