Ukraine-Diplomatie

Verheugen schockiert über Westerwelles Auftritt in Kiew

Günter Verheugen im Interview · 21.12.2013
Der frühere EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen rügt Guido Westerwelle für seinen Auftritt bei ukrainischen Demonstranten. Mit solchen Gesten wecke man in der Ukraine falsche Hoffnungen.
Deutschlandradio Kultur: Günter Verheugen ist Honorarprofessor an der Europauniversität Viadrina in Frankfurt/Oder und war früher Mitglied der EU-Kommission, zuständig für Erweiterung und später für Industrie und Unternehmen. Schönen guten Tag, Herr Verheugen.
Günter Verheugen: Guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Vielen Dank zunächst, dass Sie hier zu uns ins Studio an den Hans-Rosenthal-Platz in Berlin Schöneberg gekommen sind.
Es ist schon fast Gewohnheit, dass die letzte Woche vor Weihnachten von hektischer Betriebsamkeit durch die politischen Akteure auf der europäischen Bühne gekennzeichnet ist im Bestreben, so die letzten wichtigen Weichenstellungen vorzunehmen. Als Honorarprofessor an der Viadrina müssen Sie lehren über ‚Europäisches Regieren‘. Und Sie müssen ja auch Zensuren verteilen. – Würden Sie jetzt der europäischen Politik für die Bankenunion eine Drei minus und für die Ukraine-Politik eine Fünf geben?
Der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen (links) im Gespräch mit Burkhard Birke bei Deutschlandradio Kultur.
Günter Verheugen mit Burkhard Birke© Deutschlandradio - Cornelia Sachse
Günter Verheugen: Es tut mir wirklich leid, dass Sie offenbar meine Gedanken gelesen haben.Denn als ich merkte, Sie wollen auf eine Note raus, schoss mir sofort Drei minus durch den Kopf. Es ist in der Tat eine Drei minus. Es hätte sehr viel besser sein können, aber es hätte auch schlechter sein können. Wichtig ist, dass jetzt endlich Klarheit ist über die Hauptelemente. Ein paar Einzelheiten fehlen noch. Es ist im Gesamtergebnis positiv. Was die andere Frage angeht, das ist ein glattes Mangelhaft, Setzen! Was die Ukrainepolitik und die ganze Politik gegenüber unseren östlichen Nachbarn und auch übrigens gegenüber der Türkei angeht, sehe ich eine saft- und kraftlose Europäische Union, müde und erschöpfte Akteure ohne eine langfristige Vision, auch ohne einen wirklich klaren und festen Willen etwas zu verändern. Also, an der Stelle ein glattes Mangelhaft.
Deutschlandradio Kultur: Hat die EU sich zu sehr auf die Person Julija Timoschenko, die inhaftierte ehemalige und jetzt kranke Regierungschefin, kapriziert, indem sie eine Lösung für dieses Assoziierungsabkommen an die Personalie Timoschenko gebunden hat?
Günter Verheugen: Ja. Es gibt in der ganzen Politik gegenüber der Ukraine eine ganze Reihe von Fehlern. Es ist eigentlich eine Serie von Fehlern. Es fängt schon damit an, dass über viele Jahre hinweg die Europäische Union gar nicht wusste, was sie mit diesem Land anfangen sollte, und das Hauptbestreben darin bestand, die Ukraine auf Distanz zu halten.
Als ich selber zuständig war für die Nachbarschaftspolitik, also auch für die Ukraine, und plante meinen ersten Besuch in Kiew, bekam ich Anrufe von europäischen Regierungschefs – und nicht von unwichtigen. Die Botschaft war immer dieselbe: Große Zurückhaltung wurde mir anempfohlen und um Himmels Willen den Ukrainern keine Hoffnungen machen auf eine Annäherung an die Europäische Union.
Deutschlandradio Kultur: Herr Verheugen, da könnte man doch sagen, da hat die Europäische Union vielleicht was aus dem Versprechen, was man der Türkei gegeben hat, gelernt, weil viele mittlerweile eine Vollmitgliedschaft der Türkei für unrealistisch halten. Und die Ukraine mit 46 Millionen Menschen….
Günter Verheugen: Ich rede jetzt über das Jahr 2003. Da sah das mit der Türkei noch völlig anders aus. Ganz im Gegenteil, da hätte man aus den großen Fortschritten, die mit der Türkei erzielt wurden, den Schluss ziehen müssen, wir wenden dasselbe Verfahren auch mit der Ukraine an. Das war auch das, was ich für richtig gehalten hätte, dem Land jedenfalls eine Perspektive zu geben. Es geht nicht um den konkreten Beginn von Beitrittsverhandlungen oder einen Beitritt, aber wenigstens dem Land eine Perspektive zu geben. – Das ist bis auf den heutigen Tag in Wahrheit nicht geschehen. Denn auch in den Verträgen, die jetzt nicht unterzeichnet wurden, hat sich ja die Europäische Union geweigert, die langfristige Perspektive der europäischen Integration für die Ukraine aufzuzeigen. Fehler Nummer 2…
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Herr Verheugen, Sie hätten sich gewünscht, dass Frau Merkel oder Francois Hollande, der französische Präsident, ganz klar gesagt hätten, wir wollen langfristig die Ukraine als Vollmitglied in der EU?
Günter Verheugen: Ja, selbstverständlich, weil die Ukraine ein Recht darauf hat. Wir tun immer so, als gehöre die europäische Einigung uns, als sei sie ein exklusives Eigentum der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Das ist absolut falsch.
Die Idee der europäischen Einigung, die Idee der europäischen Einheit gehört allen europäischen Völkern gemeinsam – ohne jede Ausnahme! Auch den Russen. Die haben im Augenblick kein großes Interesse daran, jedenfalls nicht an einem Prozess der europäischen Einigung unter Brüsseler Vorzeichen. Aber die gehören genauso zu Europa wie die Deutschen und die Portugiesen und wer auch immer auch. So, damit das vollkommen klar ist. – Und im EU-Vertrag steht drin, dass jedes europäische Volk das Recht hat, sich um die Mitgliedschaft zu bewerben.
Dann kommt die Sache Timoschenko. Da stimme ich Ihnen zu. Das war eine massive Verletzung der Souveränität des Landes, eine politische Forderung, die die Regierung der Ukraine nicht erfüllen konnte, ohne sich selber aufzugeben. Und dahinter steckte eine Kampagne, die auf einer Reihe von Unwahrheiten aufgebaut ist. Julija Timoschenko ist weder eine Ikone der Freiheit, noch ein Symbol für politische Rechtschaffenheit, das genaue Gegenteil.
Deutschlandradio Kultur: Das sind heftige Anschuldigungen.
Günter Verheugen: Ja, das genaue Gegenteil. Sie hat zusammen mit dem Vorgänger von Präsident Janukowytsch, dem man auch einiges ins Stammbuch schreiben muss, die „orangene Revolution“ praktisch zu einem Nichtereignis gemacht. Sie hat dazu geführt, dass all die Hoffnungen zunichte wurden, die damit verbunden waren. Korruption und Misswirtschaft waren in der Ukraine nach der Machtübernahme durch Frau Timoschenko noch schlimmer als vorher. Es ist schlimmer geworden in ihrer Regierungszeit, nicht etwa besser.
Und die Europäische Union ist ja auch vorsichtig geworden in der Beurteilung. Nachdem zuerst die Rede davon war, man müsse sie freilassen und der Vorwurf sei, dass hier jemand aus politischen Gründen verurteilt worden sei, lautet der Vorwurf später nur noch, es handele sich um selektive Justiz in dem Sinne, dass man Frau Timoschenko zwar vor Gericht gestellt hätte, andere, die es ebenso verdient hätten, aber nicht.
Deutschlandradio Kultur: Aber es ging ja im Endeffekt dann nachher nur noch um eine humanitäre Lösung des Falls.
Günter Verheugen: Da bin ich nicht sicher. Es gab Mitgliedsländer, die ganz klar gemacht haben, dass ihnen das noch nicht einmal ausreichen würde. Es ist jetzt nicht zum Schwur gekommen in Vilnius. Wir wissen es ja nicht. Aber es ist einfach nicht wahr, wenn jetzt so getan wird, auch durch die deutsche Regierung – oder die frühere, muss ich jetzt schon sagen, die geschäftsführende Regierung von Frau Merkel –, als wären die Europäer in Vilnius bereit gewesen zu unterschreiben, hätten dort mit gezücktem Füllfederhalten gesessen. Das stimmt einfach nicht.
Deutschlandradio Kultur: Was war der zweite Fehler? Russland hat jetzt der Ukraine mit 15 Mrd. Dollar Kredit unter die Arme gegriffen, hat den Gaspreis um ein Drittel gesenkt und praktisch das Land ja so in den wirtschaftlichen Würgegriff vorher genommen und jetzt diesen Würgegriff gelockert. Hätten wird denn…
Günter Verheugen: Darf ich Sie mal gerade unterbrechen? Wenn wir irgendwem helfen, unter Umständen mit wesentlich mehr Geld als mit 15 Milliarden, sprechen Sie dann auch davon, wir nehmen dieses Land in den wirtschaftlichen Würgegriff?
Ich frage nur mal. Wieso ist es ein wirtschaftlicher Würgegriff, wenn ein Land bereit ist, einem anderen zu helfen nicht bankrott zu gehen.
Deutschlandradio Kultur: Weil eine politische Zielsetzung dahinter stand, nämlich dass in dem Hinterhof von dem alten Einflusssphärengebiet der früheren Sowjetunion eben Russland nach wie vor den Ton angeben will.
Günter Verheugen: Ja, das ist vollkommen richtig. Das gilt für alle die früheren Sowjetrepubliken, die Gegenstand oder Objekte der östlichen Partnerschaft der Europäischen Union sind, also für Weißrussland, für die Ukraine, für Moldawien und für die drei Kaukasusstaaten. Die Ausnahme sind die baltischen Republiken, die ja glücklicherweise schon in der großen Erweiterungsrunde von 2004 dabei waren. – Sie haben recht. Russland betrachtet diese früheren Sowjetrepubliken als seine natürliche Einflusszone.
In diesen Ländern gibt es massive Probleme überall. Es gibt auch massive Konflikte, teilweise sogar militärischer Art. Weder die Probleme noch die Konflikte können ohne eine konstruktive Mitarbeit von Russland gelöst werden.
Deutschlandradio Kultur: Kann Frank-Walter Steinmeier, der Wieder-Außenminister, der Sozialdemokrat, hier eine Brücke schlagen, einen neuen Ton anschlagen?
Günter Verheugen: Ich glaube ja, ich bin sicher, dass er das kann. Ich halte das für dringend notwendig. Eine konfrontative Politik gegenüber Moskau hat überhaupt keinen Zweck. Und wir könnten wahrscheinlich auch mehr bewirken in der Frage der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Demokratieentwicklung in Russland, wenn wir das so machen würden, wie wir früher auch Ostpolitik betrieben haben – im klaren Verständnis, dass wir aufeinander angewiesen sind und einen partnerschaftlichen Umgang brauchen.
Da hat es schwere Fehler gegeben in der jüngsten Zeit.
Aber ich will nochmal auf die Europäische Union und die Ukraine zurückkommen. Die Ukraine war ja unterschriftsbereit im vergangenen Jahr. Es hat nicht an der Ukraine gelegen, sondern es hat daran gelegen, dass unter dem Druck einiger konservativer Politiker, speziell in Deutschland, muss man ganz klar sagen, der Fehler ist hauptsächlich in Deutschland gemacht worden, dann neue Bedingungen – nachdem die Verhandlungen längst abgeschlossen waren – aufgestellt worden sind, unter denen eine, die ganz eindeutig nicht erfüllbar war.
So, jetzt haben wir eine außerordentlich schwierige Situation und ich muss sagen, ich war schockiert, als ich Herrn Westerwelle dort in Kiew rumturnen sah. – Gut, man brauchte dazu nichts mehr zu sagen. Es war sein letzter Auftritt, aber man muss klar sehen: Westliche oder westeuropäische Politiker in verantwortungsvoller Position, die sich dort solidarisieren mit der Opposition? – Ich hab nichts dagegen, können sie tun, aber die müssen wissen, dass sie Hoffnungen erwecken. Das sind doch Symbolhandlungen solche Solidarisierungen. Sie erwecken damit die Hoffnung, dass wir bereit sind, der Ukraine die europäische Perspektive zu geben, die die Menschen wollen.
War Herr Westerwelle dazu bereit oder die anderen, die sich da jetzt auf dem Platz bejubeln lassen? Nein, natürlich nicht. Oder wären sie dazu bereit gewesen, der Ukraine die 20 Mrd. Dollar zur Verfügung zu stellen, die sie braucht, um den unmittelbaren Staatsbankrott abzuwenden? – Natürlich auch nicht!
Man muss wissen: Wenn man jetzt diesen Machtwechsel in der Ukraine zustande bringt, ich halt das gar nicht für ausgeschlossen, dann steht der neue Präsident oder neue Ministerpräsident ein paar Tage später in Berlin auf der Matte und sagt: So! Was ist jetzt mit euren Versprechen?
Vitali Klitschko, Guido Westerwelle, Kiew, Ukraine
Vitali Klitschko und Guido Westerwelle in Kiew© dpa / picture alliance / Alexey Kudenko
Deutschlandradio Kultur: Was sollten wir denen geben?
Günter Verheugen: Ja, was sollten wir ihnen geben?
Deutschlandradio Kultur: Wir können ja nicht mithalten mit den Milliarden, was zum Teil auch an der Finanzkrise liegt. Herr Verheugen, ich möchte ein bisschen jetzt von der Ukraine wegkommen auf das zweite große Thema.
Die Kanzlerin Angela Merkel hat gleich zu Beginn ihrer neuen Amtszeit vor dem Bundestag, auch nochmal vor dem EU-Gipfel in dieser Woche klargestellt, dass die Finanzkrise an und für sich noch nicht vorbei ist, aber man sei auf gutem Weg. Teilen Sie diese Einstellung?
Günter Verheugen: Ja, das ist richtig. Aber es ist nicht so dank der Leistungen der Regierungschefs und der Finanzminister. Es ist so dank eines einzigen Halbsatzes von Mario Draghi, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Dass die Märkte sich beruhigt haben, dass die unmittelbare Krise vorbei ist und jetzt auch nicht mehr die ganze Welt davon ausgeht, dass die Eurozone kollabiert, das ist einzig und allein dem Satz von Draghi geschuldet, dass die Europäische Zentralbank im Notfall eben die Staatspapiere kaufen wird, „soviel wie nötig“, hat er gesagt. Und das, nur das hat die Krise zum Stehen gebracht.
Die Politik hat ihre Aufgabe an dieser Stelle eindeutig nicht erfüllt. Draghi hat für die europäische Politik durch seine Aussage, die nach meiner Meinung übrigens durch den Vertrag und den Auftrag der EZB nicht gedeckt ist, aber trotzdem politisch richtig war, Zeit verschafft. Und diese Zeit muss klug genutzt werden.
Deutschlandradio Kultur: Herr Verheugen, wir haben also Zeit gewonnen, aber ist die EZB nicht eigentlich die Kraft, der heimliche Regent Europas – und dann noch nicht einmal demokratisch legitimiert?
Günter Verheugen: Ja. Das Bedenken muss man haben, dass durch die Unfähigkeit der europäischen Politik, die Krise zu bewältigen, die EZB da in eine Rolle geraten ist, die ihr nicht zusteht und von der ich auch nicht glaube, dass die EZB sie gewollt hat. Deshalb muss das ganz schnell zurückgeführt werden in normale Bahnen.
Ich glaube, dass die Bankenunion, was ein etwas irreführender Begriff ist, also, ich weiß nicht, wer auf die Idee gekommen ist, die Frage, wie man Banken reguliert und wie man sie abwickelt und wie man Einlagen sichert, das eine Bankenunion zu nennen, aber die lieben halt in Brüssel offenbar den Begriff „Union“, aber diese Regelungen werden zur Stabilisierung des Bankensektors in der Europäischen Union führen und das ist das Wichtigste im Augenblick.
Und wir sind ein bisschen in einem Wettlauf mit der Zeit. Es kommt jetzt schlicht und einfach darauf an, ob in den vor uns liegenden Jahren europäische Großbanken uns noch weitere schmutzige Geschäfte enthüllen müssen, die mit enormen Risiken behaftet sind, oder ob das Schlimmste tatsächlich schon hinter uns liegt. Das weiß ich aber nicht. Niemand weiß das.
Deutschlandradio Kultur: Wir sollten vielleicht nochmal ganz kurz, die wesentlichen Punkte dieser Bankenunion erläutern, denn es geht ja darum, eine einheitliche Bankenaufsicht auf den Weg zu bringen, die bei der Europäischen Zentralbank angesiedelt ist, und die Privatgläubiger der Banken und nicht nur so sehr die Steuerzahler in Zukunft für die Verluste maroder Geldhäuser aufkommen zu lassen. Und dazu soll ja ein Fond über zehn Jahre auf 55 Mrd. Euro aufgefüllt werden. Und überall in Europa sollen die Einlagen der Bankkunden, auf die schon jetzt in Deutschland übliche Höhe von 100.000 Euro gesichert werden.
55 Mrd. Euro, Herr Verheugen, und wir haben in der Finanzkrise schon 1.600 Milliarden…
Günter Verheugen: .. nicht vom Steuerzahler.
Deutschlandradio Kultur: Nein, aber wir haben insgesamt schon 1.600 Milliarden gebraucht, um in der Finanzkrise die Banken abzusichern.
Günter Verheugen: .. an Bürgschaften und an Krediten.
Deutschlandradio Kultur: Glauben Sie wirklich, dass der Steuerzahler nicht mehr zur Kasse gebeten wird?
Günter Verheugen: Ich weiß es nicht, aber das Risiko ist jedenfalls sehr groß, dass diese ganze Bankenrettung den Steuerzahler am Ende auch wirkliches Geld kostet. Also, das ist natürlich eine falsche Vorstellung zu glauben, wir hätten dieses Geld irgendwo auf den Tisch gelegt, von dem jetzt die Rede ist, aber es sind Risiken damit eingegangen worden. Und in Verbindung mit den anderen Risiken und Belastungen, die wir für die Zukunft schon haben, möchte ich heute nicht in der Haut des Finanzministers stecken – wirklich nicht.
Deutschlandradio Kultur: Wie können wir es denn hinbekommen, eine wirkliche Wirtschaftsregierung in der EU einzurichten? Angela Merkel hat vorgeschlagen, dass man nun bilaterale Verträge verbindlich zwischen EU-Kommission und einzelnen Ländern macht, will dazu sogar eine Änderung der EU-Verträge. Ist das der richtige Weg? Oder müsste man nicht wirklich endlich diese politische Union auf diesem Gebiet vollziehen mit einem Wirtschafts-, mit einem Finanzminister, die wirklich über die Harmonisierung auch der Fiskal- und Finanzpolitik wachen?
Günter Verheugen: Die Erkenntnis ist inzwischen nicht mehr ganz frisch, dass die Währungsunion auf einem nicht wirklich tragfähigen Fundament errichtet worden ist und dass diejenigen recht hatten, die in den 90er Jahren gewarnt haben, dass man keine langfristig funktionierende Währungsunion haben kann ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Darüber hat sich der Europäische Rat hinweggesetzt unter massivem Einfluss auch des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, der aber gute politische Gründe dafür hatte. Ich kritisiere ihn noch nicht einmal dafür. Und auch ich habe damals im Bundestag der Bildung dieser Währungsunion – in Kenntnis von Risiken – zugestimmt. Es war das, was damals möglich war.
Heute sind wir in einer Lage, in der die Konstruktionsmängel nicht mehr so leicht behoben werden können, weil ein neuer EU-Vertrag eine Illusion ist. Da verstehe ich die Bundeskanzlerin nicht in ihrer Regierungserklärung, wo sie wieder davon spricht, man brauchte einen neuen EU-Vertrag. – Den kriegen wir nicht! Es gibt nicht die geringste Chance dazu. Glaubt irgendjemand im Ernst, dass ein neuer EU-Vertrag die Hürde der Ratifizierung in 28 Mitgliedsländern, in einer ganzen Reihe von Ländern mit Volksentscheiden, nimmt?
Ich sage Ihnen eines: Jeder europäische Vertrag, der heute in irgendeinem europäischen Land zum Volksentscheid gestellt wird, fällt durch.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, wir haben uns eigentlich zu schnell erweitert und wir haben nicht die Abstimmungsmodalitäten angepasst.
Günter Verheugen: Nein, das ist keine Frage der Erweiterung. Es sind doch nicht die neuen Mitgliedsländer, die uns diese Probleme schaffen. Die sind doch gar nicht in der Währungsunion. Die Probleme haben uns alte Mitgliedsländer geschaffen, sowohl die Finanzkrise als auch die politische Krise, die entstanden ist nach dem Scheitern des Verfassungsprojektes. Das hat mit den neuen Mitgliedsländern gar nichts zu tun. – Worauf ich hinaus will, ist etwas anderes.
Ich glaube ja auch, dass wir mehr Vertiefung brauchen, nicht nur, was die Abstimmung und die Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik angeht, sondern wir brauchen mehr Vertiefung in meinen Augen vor allen Dingen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Gipfel von dieser Woche hat das ja wieder mal deutlich gezeigt, wie gering die Bereitschaft und die Fähigkeit der Europäer ist, an dieser Stelle was zu tun.
Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Ihre Idealvorstellung wäre schon, dass wir ein europäisches Heer hätten oder zumindest eine deutsch-französische Brigade jetzt nach Zentralafrika schicken würden….
Günter Verheugen: Meine Idealvorstellungen sind europäische Streitkräfte. 28 Armeen in Europa ist ein Witz. 28 verschiedene Rüstungssysteme, 28 verschiedene Beschaffungssysteme, das ist teuer und uneffektiv. Aber jetzt kommen wir auf ein Nebengleis.
Das war eigentlich nicht der Punkt, den ich machen wollte, sondern: Was sind die Voraussetzungen dafür, dass wir überhaupt weitere Vertiefung, die wir brauchen angesichts des politischen und wirtschaftlichen Wettbewerbsdrucks, unter dem wir weltweit stehen, hinkriegen? Da ist meine These sehr klar. Wir brauchen eine große Reformanstrengung innerhalb der Europäischen Union. Wir müssen schlicht und einfach besser werden in dem, was wir tun. Die Institutionen müssen besser und transparenter werden. Unsere Politik muss besser werden.
Ich gebe Ihnen mal ein paar Beispiele: Wenn die Leute die Begriffe Bürokratiemonster, Technokratenherrschaft, Geld aus dem Fenster geschmissen, ich weiß, das ist alles übertrieben, dann denken sie an Brüssel.
Deutschlandradio Kultur: Oder wenn Staubsauger reguliert werden.
Günter Verheugen: Überregulierung. Gegen dieses Gefühl, dass sich die großartige Idee der europäischen Einigung in ein kleinkariertes, kleinkrämerisches Zuständigkeitsdenken verwandelt hat, da und da noch eine Zuständigkeit mehr für Brüssel und überall sich einmischen und überall Vorschriften…….
Deutschlandradio Kultur: Aber wie kann man es anders machen? Sie waren ja zehn Jahre Kommissar.
Günter Verheugen: Natürlich kann man das anders machen. Ich habe doch eine große Initiative in Brüssel gestartet, die dazu geführt hat, dass hunderte von Vorschriften abgeschafft oder auf jeden Fall vereinfacht worden sind. Aber das ist jetzt steckengeblieben. Ich würde von der Bundesregierung verlangen, dass sie den neuen Kommissionspräsidenten und die neuen Kommissionsmitglieder auch unter dem Gesichtspunkt auswählt: Sind sie bereit dieser Überregulierung, diesen Regulierungsexzessen ein Ende zu bereiten? Sind sie bereit das europäische Finanzgebaren auf eine andere Grundlage zu stellen? Sind sie bereit auch für mehr Flexibilität bei europäischen Regelungen? Und sind sie vor allen Dingen bereit sich dafür einzusetzen, dass das Subsidiaritätsprinzip endlich ernst genommen wird? Das heißt, dass wir wirklich mit einem harten Maßstab prüfen: Muss eine Sache wirklich europäische geregelt werden oder kann sie nicht genauso gut national oder regional geregelt werden?
Deutschlandradio Kultur: Nehmen wir mal eine Sache, die gerade Brüssel aufstößt, die Brüssel regeln will, diese Ausnahme für zahlreiche Unternehmen von der EEG-Umlage.
Günter Verheugen: Das ist keine neue Zuständigkeit.
Deutschlandradio Kultur: Aber ist das eine Zuständigkeit? Die Kanzlerin meint, das geht Brüssel nichts an. Wie hätten Sie als Kommissar entschieden?
Günter Verheugen: Das ist eine schwierige Frage. Ohne jeden Zweifel ist die Kommission dafür zuständig zu prüfen, ob Mitgliedsstaaten Beihilfen an die Wirtschaft zahlen. Die sind im Prinzip in der Europäischen Union verboten. Das steht im Vertrag. Es gibt Ausnahmen. Deshalb müssten solche Beihilfen von der Kommission genehmigt werden.
Im Falle der Rabatte für die energieintensiven Industrien ist die Frage: Ist das rechtlich eine Beihilfe oder nicht? Und die Kommission muss, sie hat überhaupt keine Wahl gehabt, da muss ich die Kommission jetzt wirklich verteidigen gegenüber der Bundeskanzlerin, diese Prüfung einleiten, weil eine Klage eingereicht worden ist. Das ist anders als in Deutschland. Wenn sich da einer bei der Regierung beschwert, kann die sagen, interessiert mich nicht – in Brüssel nicht. Wenn dort eine Beschwerde vorliegt, muss die Kommission handeln. Es ist ja noch nicht gesagt, welches Ergebnis die Prüfung hat.
Deutschlandradio Kultur: Was ist Ihre Einschätzung?
Günter Verheugen: Meine Einschätzung ist, dass auf den ersten Blick sichtbar wird, dass eine Wettbewerbsverzerrung durch diese deutsche Politik nicht eintreten kann, weil die Strompreise für die deutsche Industrie deutlich höher sind als der europäische Durchschnitt. Der gesunde Menschenverstand sagt einem ja schon, dass die deutsche Politik nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führen kann an dieser Stelle. Deshalb sehe ich dem Ausgang dieser Sache auch mit großer Gelassenheit zu.
Aber es geht hier nicht darum, dass die Kommission eine neue Zuständigkeit für sich beansprucht, sondern es geht darum, dass sie eine Zuständigkeit wahrnimmt, die sie seit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge im Jahre 1957 hat.
Deutschlandradio Kultur: Herr Verheugen, Europa ist ein Riesenthema. Wir könnten wahrscheinlich noch stundenlang weitersprechen. Leider ist unsere Sendezeit schon am Ende, aber noch eine Frage zum Schluss:
Weihnachten steht vor der Tür. Was wünschen Sie sich als Europäer zu Weihnachten?
Günter Verheugen: Ich wünsche mir vor allen Dingen willensstarke, führungsstarke, glaubwürdige Politiker auf der nationalen und der europäischen Ebene, die dafür sorgen, dass unser europäisches Projekt wieder Fahrt aufnimmt.
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