Über Lügen und Wahrheit-Sagen

Von Susanne Mack · 05.07.2008
Schlimme Aussichten für den Lügner, wo immer man die Bibel aufschlägt. "Der Lügner Los wird ein See von brennendem Schwefel sein", heißt es in der "Offenbarung des Johannes". Ist das nicht alles ein bisschen verstaubt und weltfremd? Ist es menschen-möglich, stets bei der Wahrheit zu bleiben?
"Die Lüge ist wahrer als die Wahrheit, weil die Wahrheit so verlogen ist …"

Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 auf einer Pressekonferenz in Berlin:

"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!"

Bill Clinton am 26. Januar 1998 auf einer Pressekonferenz in Washington über sein Verhältnis zur Praktikantin Monica Lewinski:

"I did not have sexual relations with that woman, Miss Lewinsky."

Lügen ist alltäglich, Lügen ist normal. Bei Politikern sowieso. Und was ist mit ihren Wählern? - Die lügen genauso eifrig:

Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Jeder Mensch sagt durchschnittlich vier- bis fünfmal am Tag die Unwahrheit, Komplimente und Schmeicheleien nicht eingerechnet."

… vermeldet die Frankfurter Allgemeine und bezieht sich auf eine neue psychologische Studie. – Vielleicht ist das Lügen ja ein menschliches Talent, dessen Gebrauch sich quasi von selbst versteht.
Steffen Dietzsch, Philosophie-Professor an der Humboldt-Universität Berlin:

"Es ist ein elementares Vermögen des Menschen, und ein ganz praktisches und ganz wichtiges Vermögen, es ist nämlich eine Fähigkeit, soziale Wirklichkeiten zu entwerfen. Deshalb ist das Lügen eben so sehr weit verbreitet."

Nietzsche: "Beim Menschen ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen das natürliche Bühnenspiel. Vor anderen - und vor sich selbst."

Friedrich Nietzsche. – Das also steht fest: Wir alle "entwerfen" hin und wieder "soziale Wirklichkeiten" in unserem Kopf, die es real gar nicht gibt, und seifen damit unser Gegenüber ein. – Na und? "Lügen". Das Wort klingt ein bisschen streng, die Welt ist eben nicht mit einem Kloster zu vergleichen. - Natürlich. Lügen sind nicht schön. Aber sie sind menschlich! Wir selber lügen, andere lügen. Also, finden wir uns damit ab.

Es gibt Leute, die sind nicht gewillt, unser aller Lügenhaftigkeit so ohne Weiteres hinzunehmen. –Johannes Gründel zum Beispiel, Professor für Moraltheologie:

"Ich sehe darin: ein Schwund des gegenseitigen Vertrauens. Ein Misstrauen. Oder eine gewisse Ich–Schwäche, dass einer gar nicht den Mut hat, das zu sagen, was er denkt, was er meint, sondern mehr sich nach außen anpasst."

Biser: "Es gibt nicht nur diese private Lüge, die die FAZ da aufgespießt hat, mit vollem Recht, und ich zweifle auch gar nicht an dem Ergebnis dieser Recherche, es gibt vor allem die strukturelle Lüge, in der wir uns befinden."

… sagt Eugen Biser, ebenfalls Professor für Theologie und christliche Weltanschauung.
Wir leben in einer Welt, wo der Schein mehr gilt als das Sein. Wo das "Falsch Zeugnis – Reden" als normal empfunden wird. Ja, beinah als unverzichtbar gilt für den Erfolg im wirtschaftlichen und politischen Alltag.

Biser: "Und wenn, wie die 'Frankfurter Allgemeine' festgestellt hat, jetzt dieses Lügen überhand nimmt im Privatbereich, dann ist das in meinen Augen ein Symptom, dass unsere ganze Welt verlogen ist."

Auf Werbepostern und in Hochglanz-Magazinen, im Kino und im Fernsehen, an der Börse und im Parlament: Die Lüge ist allgegenwärtig, an einzelnen Personen kaum noch festzumachen.
Und neben all den absichtsvollen, schamlos-glatten Lügen gibt es noch ein ganzes Arsenal diffuser und gedankenloser Halbwahrheiten. – Johannes Gründel:

"Es gibt ja so verschiedene Verhaltensweisen … Bis hin zu Formen der Höflichkeit, die müssen nicht Lüge sein. Ich nehme den anderen ernst, ich begegne ihm freundlich, auch wenn er mir unsympathisch zunächst erscheint, dann kann ich sagen: Ich mühe mich, ihn als Menschen ernst zu nehmen. Es kann aber sein, dass jemand nur Theater spielt! Dass er also ständig Höflichkeit vorheuchelt, und hier wird die Lüge zu einer Grundhaltung, die der Einzelne gar nicht mehr bemerkt."

"Meine sehr verehrten Damen und Herren!"

"Es ist uns eine außerordentliche Freude …"

"Wir geben uns die Ehre, Sie in unserer Filiale am Butterberg begrüßen zu dürfen …."

"Hochachtungsvoll!"

"Mit vorzüglichen Grüßen. - Ihr freundliches Team vom Kundenservice."

"Schönen Tag noch!"

Mal ehrlich: wer wünscht Ihnen wirklich und aus vollem Herzen einen schönen Tag, wenn er Sie mit einem "Schönen Tag noch!" verabschiedet. Alles Lug und Trug, Schleim und Seim.

Wieso eigentlich hat die Lüge im öffentlichen Leben der Moderne derart Karriere gemacht?

Das liegt am Gottes-Verlust unserer Zeit, meint Eugen Biser:

"Das ist der tiefste Grund. Denn wenn eine Epoche und eine Gesellschaft die Beziehung zu Gott verloren hat, hat sie auch die letzte Wahrheitsorientierung aufgegeben, und dann kann Wahrheit nur noch funktionalistisch definiert werden, also unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit und löst sich in ein System von Fiktionen auf. Darin sehe ich eigentlich das zentrale Problem der Lüge in unserer Zeit."

William James: "Eine Vorstellung ist wahr, solange es für unser Leben nützlich ist, sie zu glauben."

Die Lebensformel des modernen Menschen, formuliert von William James, amerikanischer Philosoph und Vater des Pragmatismus.
Der Bürger der westlichen Zivilisation betrachtet sich selbst als den Nabel der Welt und macht nach eigenen Regeln sein Glück.

Biser: "Er versucht, aus dem Leben die, wie ihm scheint, besten Chancen herauszuschlagen. Und er entdeckt bald, dass das sehr schwierig ist, wenn man es auf dem Weg der Wahrheit zu tun versucht, weil man dann sehr oft aneckt und sehr oft enttäuscht wird, und dann versucht er’s eben umgekehrt."

Die Lüge gehört zum modernen Leben wie Essen, Trinken, Schlafen oder Sex - und macht selbstverständlich auch vor Kirchentüren nicht halt. Denn dass so manche "Haushälterin" eines katholischen Priesters eigentlich keine ist, das weiß zwar das ganze Dorf, aber man redet eben nicht drüber.

Wir leben in einer Gesellschaft, wo gelogen wird, dass sich die Balken biegen. Aber merkwürdig: Bis heute ist das Lügen ist nicht vollends salonfähig geworden.

"Du hast mich belogen. Geben Sie’s zu!"

Ein peinlicher Vorwurf!
Noch fataler ist’s, beim Lügen erwischt zu werden. Das treibt uns die Schamröte ins Gesicht. Uns allen – ob nun religiös erzogen oder nicht – redet ein Jahrtausende alter Imperativ aus der Bibel ins Gewissen.
Das achte Gebot. Zweites Buch Mose, Exodus, Kapitel 20.

"Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten."

Schlimme Aussichten für den Lügner, wo immer man die Bibel aufschlägt. Die Schlimmste in der "Offenbarung des Johannes".

"Der Lügner Los wird ein See aus brennendem Schwefel sein."

Gründel: "Lügenhafte Lippen sind dem Herrn ein Greuel. Im ersten Testament wird gefordert, dass der einzelne Mensch, damals auch das Volk Israel den Weg der Treue, der Zuverlässigkeit geht. Dass eine innere Verlässlichkeit sowohl bei dem Einzelnen als auch beim ganzen Volk erwartet wird. Unter diesem Gesichtpunkt kann man sagen, dass die Forderung der Wahrhaftigkeit eine der Grundforderungen schon im ersten Testament ist, dann im zweiten, sogenannten Neuen Testament, wo gerade in den Evangelien die Botschaft Jesu verkündet wird, steht der Satz im Johannes-Evangelium, dass Jesus sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, das heißt: Ich bin der Weg … - wir haben nicht die Wahrheit als festen Besitz, wir sind ständig unterwegs, das, was richtig ist, was der Realität entspricht, was auch dem Zusammenleben der Menschen entspricht, zu suchen und zu finden."

Warum eigentlich macht uns ein altes Bibel-Gebot noch immer ein schlechtes Gewissen? Nicht nur Christen. Nein, Atheisten auch. Obwohl es ein Zeitalter der Aufklärung gegeben hat. Der Grund ist: die maßgeblichen Denker der Aufklärung folgen in Sachen Moral den biblischen Geboten. Immanuel Kant zum Beispiel schreibt:

"Die Lüge ist der eigentlich faule Fleck an der menschlichen Natur."

… auch sein Schüler Johann Gottlieb Fichte fordert in aller Strenge:

"Du sollst nicht lügen! Und wenn die Welt darüber in Trümmer zerfallen sollte!"

Ein Leben ganz ohne Lügen? Tatsächlich? Ist das möglich? Und vor allem - ist das menschlich? Man stelle sich mal vor: Jeder sagt jedem zu jeder Zeit und an jedem Ort die reine Wahrheit ins Gesicht, alles, was er weiß, was er von ihm hält, was er denkt:

"Dein Kleid ist aber hässlich!"

"Deine Nase ist krumm!"

"Deine Frau betrügt Dich!"

"Deine Wohnung – wie geschmacklos!"

"Du bist ja sterbenslangweilig!"

"Du bist ein Ober-Spießer!"

"Ein Geizkragen!"

Dietzsch: "Und was das bedeuten kann, das woll’n wir uns nicht ausmalen. Die Lüge ist gewissermaßen das Salz in unseren sozialen Verhältnissen, durch das das Leben auch genießbar wird."

Steffen Dietzsch, Philosophie-Professor an der Humboldt-Universität Berlin. – Manchmal sieht es so aus, als hat man die Wahl hat, jemanden zu entweder belügen oder ihn zu beleidigen. Dann ist die Lüge schnell bei der Hand.

Nietzsche: "Die Lüge ist die Amme der Güte."

… und menschlich-allzumenschlich. Hat Nietzsche festgestellt.

Lügen, um Menschen Gutes zu tun? – Tatsächlich ? Das hat Nietzsche ironisch gemeint, denkt Eugen Biser. Und falls er es doch ernst gemeint haben sollte. Für einen Christen jedenfalls ist so ein Standpunkt unmöglich:

Biser: "Ich kann natürlich einem Menschen nicht dadurch helfen wollen, dass ich bewusst die Unwahrheit sage. Das stellt sich ja doch früher oder später heraus. Aber es ist nicht erst vom Ergebnis her verfehlt, sondern es ist vom Ansatz her verfehlt. Das ist keine mögliche Hilfe."

Andererseits: Immer alles aussprechen, die ganze Wahrheit sagen, ohne Rücksicht auf Verluste– Das wäre ja unmenschlich!

Biser: "Das wäre unmenschlich, und das ist auch ein christlicher Grundsatz: Denn die Kommunikation der Wahrheit, das Sagen der Wahrheit, das muss verbunden sein mit dem, was für das Christentum unerlässliche Voraussetzung jeder menschlichen Beziehung ist, und das ist die Liebe. Die Wahrheit muss am Kriterium der Liebe bemessen werden, und es gibt Situationen, in denen man einem Menschen die harte Wahrheit einfach nicht zumuten kann, wo man ihn zerstören könnte. – 'Die Wildente' zum Beispiel, nicht wahr, bei Ibsen, ist um dieses Thema strukturiert, nicht wahr. Und das ist also eine sehr tiefgründige Beobachtung dieser menschlichen Situation. Da gibt es diesen Wahrheitsfanatiker, der dann nichts anderes als den kompletten Ruin dieser Familie dann in Kauf nimmt und erzielt. So hat es Ibsen gesehen, und so müssen wir es auch sehen. Wahrheit muss immer im Verbund der Liebe kommuniziert werden, und sie muss gleichsam in der Liebe ihr Kriterium und ihre Orientierung finden."

Kant: "Und wenn auch alles, was man sagt, wahr sein muss, so ist darum nicht auch Pflicht, alle Wahrheit öffentlich zu sagen."

Immanuel Kant. So manches, was man denkt und weiß, soll man doch lieber für sich behalten.
Wahr sprechen, aber nicht jede Wahrheit auch aussprechen, diese Haltung ist sehr populär bei den Philosophen der Aufklärung. Ursprünglich geht sie auf Augustinus zurück: Augustinus, den Kirchenvater. – Johannes Gründel:

"Grundsätzlich ist Augustinus ganz klar, dass so eine lügnerische Haltung, eine Verlogenheit als Lebenshaltung völlig abzulehnen ist, und dass die Wahrhaftigkeit und das Bemühen, nicht zu lügen, zu den Grundforderungen des Menschseins gehört. Er weiß aber auch, dass es Situationen gibt, wo ich eben nicht die Wahrheit einfach im vollen Sinne jetzt preisgeben muss, sondern wo ich sozusagen einen inneren Vorbehalt machen kann. Ich nehme das Beispiel einer ärztlichen Untersuchung, eine sehr schwere, sagen wir: unheilbare Erkrankung, die dem Einzelnen, wenn ich sie ihm gewissermaßen einfach ins Gesicht schleudere, zu einer Verzweiflung führen kann. Hier wird man immer noch Hoffnung beibehalten können, im Grunde genommen, wer weiß genau bei einer Therapie, ob sie nicht doch, trotz der vorausgehenden Prognosen, Erfolg hat, aber man muss in der Zielsetzung versuchen, den betreffenden Patienten an die Wirklichkeit heranzuführen."

Biser: "Man kann natürlich einem Menschen aus Liebe mal die Wahrheit auch vorenthalten, das kann man sehr wohl. Immer dann, wenn man einsieht, dass das Gegenteil ihn verletzen oder vielleicht sogar vernichten würde. Das darf nicht sein, das muss im Interesse der Menschlichkeit verhindert und unterlassen werden."

"Reservatio mentalis". Dieser Begriff hat sich in der Moraltheologie eingebürgert für das Schweigen über etwas, das man denkt. – Man muss der netten Kollegin nämlich nicht vorheucheln, dass man ihr neues Kleid entzückend findet, wenn man es in Wahrheit für abscheulich hält. Man kann auch schweigen. Oder, falls von ihr befragt, es mit einem: "Mal was Neues!" kommentieren. Und sicher wird die Kollegin auch nicht gleich die Freundschaft kündigen, wenn man bei hartnäckigem Nachbohren bekennt: "Naja, mein Geschmack wär’s nicht."

"oder halt’ den Mund."

So könnte man die christliche Lehre und die der Aufklärung zusammenfassen. Allerdings - Moraltheologen wissen auch: Lügen sind nicht gleich Lügen. Wer die Wahrheit verleugnet, tut dies aus unterschiedlichen Gründen. Thomas von Aquin war der Erste, der sich bemüht hat, das Lügengewimmel ein wenig zu sortieren. Er meinte, der schlimmste Fall einer Lüge, das ist die "Schadenslüge".

Dietzsch: "Die Schadenslüge ist etwas, was wir immer unter Verdacht und unter Anklage stellen werden."

Steffen Dietzsch.
Lügen, um sich selbst zu nützen und anderen zu schaden. Zum Beispiel dem politischen Gegner. - Uwe Barschel am 18. September 1987 auf einer Pressekonferenz in Kiel:

"Meine Damen und Herren!
Über die Ihnen gleich vorzulegenden eidesstattlichen Versicherungen gebe ich Ihnen, gebe ich den Bürgerinnen und Bürgern des Landes Schleswig-Holstein und der gesamten deutschen Öffentlichkeit mein Ehrenwort. Ich wiederhole: ich gebe ihnen mein Ehrenwort, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe haltlos sind."

Barschel hatte ein paar frei erfundene Horror-Geschichten in Umlauf setzen lassen, um seinen Wahlkampf-Gegner Engholm auszuhebeln.- "Rufmord" nennt man den klassischen Fall einer Schadenslüge.
Davon will Steffen Dietzsch eine andere Art der Lüge klar unterschieden wissen: die Notlüge nämlich.

Dietzsch: "Die Notlüge ist etwas, was auch im Christentum erlaubt ist. Thomas von Aquino erlaubt die Notlüge."

Gründel: "Ich nehme ein Beispiel, was im Dritten Reich gewesen ist. Wenn in einem Waisenhaus NS-Judenverfolger gefragt haben: 'Habt ihr auch jüdische Kinder?' Die dortige Leiterin, eine Ordensschwester, wenn sie gesagt hätte: 'Ja.' Dann wusste sie, die Kinder wären des Todes gewesen, die wären verschleppt worden. Sie hat gesagt: 'Wo denken Sie hin, wir haben das nicht, wir haben keine jüdischen Kinder.' – Ich würde es in die Reihe der Notwehr stellen. Um ein Leben zu retten vor ungerechtem Angriff."

Nicht jeder, der fragt, hat nämlich auch das moralische Recht, eine wahre Auskunft zu erhalten. Das biblische Gebot lautet: "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten", und dieser NS-Mann ist hier bestimmt nicht der "Nächste" einer christlichen Ordensschwester, sondern eindeutig ihr Feind, weil ein Feind der Menschlichkeit. - Johannes Gründel möchte diese Art der selbstlosen und lebensrettenden Täuschung klar unterschieden wissen von den massenhaften und alltäglichen Betrügereien, die so gern als "Notlügen" entschuldigt werden.

Gründel: "In dem Augenblick, wo ich jede schwierige Situation in der gleichen Weise glaube lösen zu können, dass ich einfach eine Falschaussage mache, bin ich eigentlich schon auf einer schiefen Ebene, habe ich die Wahrhaftigkeit aufgekündigt."

Wer vorgibt, in "Not" gelogen zu haben, will in den meisten Fällen nicht etwa andere schützen, sondern die eigene Feigheit verbergen.

Gründel: "Ich glaube, dass in dem Augenblick, wo ich jemandem traue, wo ein Vertrauen wächst, dass ich dort auch in der Lage bin, ihm etwas Positives, aber auch etwas Negatives zu sagen."

Vorausgesetzt, ich tue es in Liebe. Und bin der ehrlichen Überzeugung, dass diese unangenehme Wahrheit dem Anderen am Ende helfen wird.

Gesetzt dem Fall nun, der Gott der Juden und der Christen bedeutet uns nichts und auch die Ideale der Aufklärung scheren uns wenig: Gibt es dennoch gute Gründe, mit dem Lügen aufzuhören?
Vielleicht den: Man kann immer nur verschämt und heimlich lügen. Denn wer öffentlich und selbstbewusst bekennt: "Ich lüge manchmal, na und?", Ich bin ein sehr geschickter Lügner!" Dem wird keiner mehr glauben, selbst wenn er meistens die Wahrheit sagt.
Oder wir hören mit dem Lügen auf, weil wir in Zukunft nicht mehr belogen werden wollen. Schließlich können wir nicht fröhlich weiter lügen, ohne im Gegenzug die Lügen der Anderen ertragen zu müssen.

Biser: "Belogen zu sein, das ist auch ein Angriff auf die eigene Würde. Man fühlt sich durch die Lüge funktionalisiert, unter das Niveau der Menschlichkeit gesenkt und gedrückt. Und das ist der Protest, der sich dagegen erhebt, es ist ein Protest im Namen der menschlichen Würde."

Außerdem: Lügen ist ziemlich anstrengend.

"Lügen können nur mit Lügen berichtigt werden. Eine Lüge zieht die andere nach."

Sagt ein Sprichwort aus Estland. Ein notorischer Lügner braucht ein geniales Gedächtnis. Wenn’s ihn nur einmal verlässt, ist es aus.
Einer, der dauernd zwischen Lüge und Wahrheit pendelt, sodass er am Ende den Unterschied nicht mehr kennt, ist ein schizophrenes Wesen, meint Johannes Gründel:

"Normalerweise ist der, der schizophren leben muss, zutiefst seelisch gestört. Vielleicht kann derjenige das am besten ermessen, der einmal in einem totalitären System gelebt hat und nie nach außen sagen durfte, was er davon hält, nie eine Kritik am System üben durfte. Ein solches Leben auf Dauer führt entweder dazu, dass man sich völlig abschirmt und mit dem lügenhaften System gar nichts mehr zutun haben will, aber das wird nicht ganz möglich sein, aber es ist letztlich schädigend für den gesamten Charakter. Dauernd zweigleisig zu fahren, bedeutet eigentlich eine innere Schizophrenie, und Psychotherapeuten wissen um die Not jener Menschen, die so zweigleisig – auch aus anderen Gründen - glauben leben zu müssen. Das hält einer auf Dauer nicht aus, es sei denn, er verliert dadurch auch jede Vertrauensebene zu sich selbst und auch zu den anderen."

"Darum legt die Lüge ab. Und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten."

Forderte Paulus, der Apostel, von der Christen-Gemeinde in Ephesos.

Biser: "Das müsste in der Schule beginnen. Eigentlich müsste es in der Familie schon beginnen. - Aber wie es mit der Familie aussieht, das ist eine andere Frage. Sie erlebt ja eine durchgängige Krise, sodass von ihr nicht allzu viel zu erwarten ist. Aber die Schule müsste hier eine Aufgabe sehen, und sie könnte es. Ich würde auch glauben, dass Kinder für so etwas ganz anders aufgeschlossen sind als die Erwachsenen, die durch ihre Lebensverhältnisse schon weitgehend verdorben sind. Kinder sind es noch lange nicht nicht in diesem Maß, und auf der anderen Seite hat ein Kind eine natürliche Grundbeziehung zur Menschlichkeit."

Aber Eltern erleben auch das immer wieder: Ihre Sprösslinge lügen, und zwar schon im Kleinkindalter. Keiner hat es ihnen beigebracht, und sie müssten auch nicht mit harten Strafen rechnen, wenn sie etwas zuzugeben hätten. – Gibt es vielleicht doch einen "natürlichen Hang zur Lüge", der erst ausgemerzt werden muss mittels Erziehung?

Biser: "Das Kind lügt aus Angst, nicht. Und es ist natürlich von Haus aus in einer schwachen Position. Es hat die übermächtige Autorität der Eltern vor sich und versucht nun, das Beste aus seinem Leben zu machen und sich Unannehmlichkeiten zu ersparen, und deswegen flüchtet es sich in die Lüge, um irgendwelchen Repressionen zu entgehen."

Nicht nur Kinder lügen, weil sie Angst haben. Auch für Erwachsene sind Angst und Scham die wesentlichen Motiv, sich in der Lüge einzurichten. Nicht etwa das Bedürfnis, andere zu schonen. Obwohl dies gern behauptet wird, man möchte ja seine Selbstachtung wahren.

Welche Fähigkeiten muss ein Mensch entwickeln, damit er dauerhaft in der Wahrheit leben kann? – Da sind sich Johannes Gründel und Eugen Biser einig.

Gründel: "Dazu gehört natürlich Ich-Stärke."

Biser: "Also, er muss vor allen Dingen zu sich selbst ein positives Verhältnis haben. Der Mensch muss sich selbst akzeptieren. Sich selbst in seiner Qualität, aber auch in seiner Gebrochenheit und Fragwürdigkeit. Der Mensch muss 'ja !' sagen zu sich selbst. Das ist die Grundvoraussetzung, dass sein Leben in Ordnung geht."

"Wir fehlen alle mannigfaltig."

Heißt es im Jacobus-Brief des Neuen Testaments.

"Jeder Mensch sagt durchschnittlich vier- bis fünfmal am Tag die Unwahrheit, Komplimente und Schmeicheleien nicht eingerechnet."

So stand es neulich in der "Frankfurter Allgemeinen". - Wie steht’s mit uns? Lügen wir nun "durchschnittlich viel"? Oder nicht ganz so oft? Oder öfter? - Wer gibt schon gern die Wahrheit zu? Über sich selbst und vor sich selbst. - Steffen Dietzsch:

"Das ist eben manchmal schwierig. Und manchmal nicht schön, deshalb ist das Lügen eben so sehr weit verbreitet."

Was soll’s. Wir sind keine Heiligen. Wir sind Menschen. Und manchmal sind wir eben feige und schwach. Aber wir können stärker werden. Und wir können bessere Menschen werden, vorausgesetzt, wir strengen uns ein bisschen an.

Gründe genug, allen Mut zusammenzunehmen und schon morgen mit dem Lügen aufzuhören.

Gründel: "Ich würde sagen, dass man nicht erst morgen anfängt, sondern sofort anfängt und sagt: Ich hab’ mich zu bemühen, glaubwürdig zu sein. Das gilt im persönlichen Leben, das gilt auch in der Politik, das gilt auch für die Medien. Wer sich um Wahrhaftigkeit und Redlichkeit bemüht, der kann damit rechnen, dass sich das im Vertrauen der Anderen zu ihm auszahlt."