"Über die Berliner Mauer wird hier schon genug geredet"

Yadegar Asisi im Gespräch mit Dieter Kassel · 03.10.2012
Ein Herbsttag in den 80ern - den lässt der Berliner Künstler Yadegar Asisi am Checkpoint Charlie noch einmal geschehen. Er hat in einem riesigen "Panometer" die Berliner Mauer wieder aufgebaut. Er wollte durch das Projekt das Leben mit der Mauer reflektieren, erklärt Asisi.
Dieter Kassel: Panometer – das ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus den Begriffen Panorama und Gasometer. Erfunden hat es der Berliner Künstler Yadegar Asisi, der zunächst in Leipzig und dann in Dresden alte Gasometer dazu nutzte, riesige Panoramabilder anzubringen. Über 100 Meter lang, aber auch irgendwie endlos, da man die Kunstwerke ja im Inneren eines runden Gebäudes betrachtet. Das kann man zurzeit bis Mitte Oktober auch noch im Pergamon-Museum in Berlin tun, hier hat Asisi ein Pergamon-Panometer gestaltet, und ab übermorgen – ebenfalls in Berlin – am Checkpoint Charlie. Für diesen Ort hat Asisi ein Panometer geschaffen, das einen Herbsttag an der Berliner Mauer irgendwann in den 80er-Jahren zeigt. Ich habe Yadegar Asisi in seinem Atelier in Berlin-Kreuzberg besucht und ihn als Erstes gefragt, warum er ausgerechnet die alten Mauerzeiten wieder auferstehen lassen will.

Yadegar Asisi: Wissen Sie, jetzt bin ich ja schon viele Jahre mit diesem Medium unterwegs, und dauernd kommen Leute und sagen: Du musst das machen, du musst das machen. Und dann kam natürlich auch die Berliner Mauer – und ich habe immer gesagt, ich will nichts über die Berliner Mauer machen, weil über die Berliner Mauer wird hier schon genug geredet. Also ich brauche immer einen inhaltlichen Impuls. Wenn ich den nicht habe, kann ich diese Arbeit nicht machen, weil die ist ja auch sehr intensiv.

Und dann kam ein Augenblick, wo ein Freund mich fragte, wie war denn eigentlich das Leben an der Berliner Mauer, und diese Antwort hat mich so schockiert – ich habe gesagt: Es war normal. Und dann hatte ich auf einmal ein Thema, ich habe gesagt, was war das eigentlich, also reflektierend auf mein eigenes Leben. Ich habe gesagt, die Mauer hat nicht existiert – und dann kamen eben viele Fragen: Was bedeutet das eigentlich, dass man sich so arrangiert, dass man wirklich daneben gelebt hat und sie nicht mehr gesehen hat?

Und dann habe ich gesagt, wenn ich diesen Augenblick einfangen könnte, dann ist es vielleicht ein Beitrag in dieser ganzen Erinnerungskultur, die wir hier in der Stadt haben, und vielleicht für alle anderen Erinnerungen an solche Zeiten, dass man die Frage nach der Normalität immer wieder stellen muss, weil durch die Normalität kommt man viel eher auch in Befindlichkeiten der Menschen, die diese Zeit gelebt haben. Und dann bin ich eben ein Zeitzeuge, und ich denke, als Künstler darf ich als Zeitzeuge mir einen Aspekt dieses komplexen Themas auch raussuchen, und das habe ich dann gemacht.

Kassel: Das heißt, damit war auch für Sie von Anfang an klar, ich zeige keine dramatischen Bilder. Also man darf, glaube ich, verraten, da wird nicht geschossen auf Flüchtlinge, es ist ja mehr oder weniger ein Tag im Herbst, irgendwann in den 80er-Jahren, da passiert das, was eben da damals passiert ist, und das war zum Teil ja sehr unspektakulär.

Asisi: Ja, und über Gut und Böse, über Schuss und Tod, da wird ja in der ganzen Stadt wird ja darüber – über das Unmenschliche wird ja in der ganzen Stadt geredet. Nur, das war nicht der Alltag. Ich habe dort nie einen Schuss gehört, ich habe nie einen Toten dort gesehen, ja? Also für uns war dieses Monstrum irgendwann nur Theorie, ja? Wir hatten zwar die Anlage immer vor Augen, aber sie hatte nichts Erschreckendes, weil sie auf einmal normal wurde.

Und das ist, glaube ich, ein Gefühl, was man, wenn jemand in das Panorama jetzt geht und dann rausgeht und sagt, ich habe an der Berliner Mauer gestanden, und ich verstehe nicht, was Menschen da einander antun – da kommen Fragen, hoffe ich, die dann einem vielleicht in ganz bestimmten Punkten auch zu einer Art von Denken animieren, die mich interessieren würde. Und dann fragt es sich als Erstes, wie soll ich das machen. Das Erste, worüber ich nachgedacht habe: In welchen Raum soll ich das stellen? Und nach langer Suche habe ich gesagt, ich bleibe in meinem eigenen Kiez. Ich bin ja seit Mitte der 80er, wohne ich in Kreuzberg. Ich habe gesagt, ich kenne den Kiez, ich kenne die Geschichten, die ich darstelle, und ich kenne auch die räumliche, städtebauliche Situation.

Und da gibt es eben mehrere Orte, unter anderem das, was jetzt, für was ich mich entschieden habe, ist die Sebastianstraße. Das ist so eng, dieser Stadtraum, und der Riss, der durch die Stadt geht durch diese Berliner Mauer, ist dort also noch fühlbar. Und die Dramaturgie, die Szenerie war eigentlich die richtige, und jetzt musste ich von der Westseite aus blicken, die Normalität im Westen darstellen, weil diese Normalität, die ich meine, kann man nur vom Westen aus darstellen, weil vom Osten gab es auch eine Art des Arrangements, aber man konnte es nicht in Verbindung mit der Mauer bringen, weil der Osten hat alles versucht, die Distanz so groß zu halten, dass man gar nicht diesen Blick, diesen unverstellten Blick in diese Maueranlage hatte.

Kassel: Es muss doch von Anfang an von der Arbeit – gerade in der frühen Phase, Idee, erste Entwürfe im Kopf, dann auf dem Papier, im Computer – sehr anders gewesen sein als sonst, denn Sie konnten doch sicherlich auf die eigene Erinnerung, aber auch auf diverse real existierende Fotos zurückgreifen, von Anfang an.

Asisi: Ja, wobei, wenn Sie nach dem System eines Panoramas fragen, wie so was erstellt wird, hat jedes Panorama so seine eigenen Gesetze, ja? Und dieses Panorama war natürlich getragen von einem Aspekt: Ich habe mich erinnert an die Zeit, wie das damals eigentlich war. Und für mich war nicht entscheidend zu sagen, ich bin jetzt faktisch genau, sondern ich musste atmosphärisch genau sein. Also ich wollte einen Eindruck schaffen für jemanden, der damals gelebt hat, der muss sagen: Ja, ich erinnere mich, so war das!

Kassel: Nehmen wir doch mal, um das – das ist im Radio immer schwierig – ein bisschen bildlich zu machen, eine Sequenz, die Sie mir im Computer gezeigt haben, nicht so, wie es dann am Ende wirklich aussieht: zwei spielende Kinder. Das Besondere an den beiden ist, sie sind in zwei verschiedenen Systemen, das eine Kind ist auf der Kreuzberger-, der West-Seite, und spielt mit einem Ball, und diesen Ball stößt es auch gegen die Mauer, der prallt da wieder ab. Das andere Kind ist auf der anderen Seite, etwas höher, und guckt aus dem Fenster und guckt zu.

Diese Situation ist eigentlich auf den allerersten Blick, finde ich, fast schon niedlich, zumal dieses Mädchen im Osten der Stadt guckt jetzt nicht verängstigt oder gequält, es guckt neugierig in den Westen rüber. Aber andererseits – es gibt ja diesen Spruch von der Banalität des Bösen, da ist mir so diese Abwandlung die Normalität des Bösen eingefallen, weil eigentlich ist das doch eine viel härtere Szene als vielleicht irgendwas Spektakuläres, was Sie hätten machen können.

Asisi: Toll, dass Sie das so sagen, weil, wissen Sie, für mich ist der Realismus eine der schwierigsten Kunstformen, die es überhaupt gibt, weil der Realismus wird immer verwechselt mit dem, was in den sozialistischen Staaten der sehr ideologisch geprägt war. Aber ein Max Liebermann ist auch Realismus, ein Ilja Repin ist auch Realismus. Realismus hat eine wahnsinnige Komponente: Wenn Sie den Augenblick greifen, mit all den Möglichkeiten, die Realismus hat, dann bewegt der.

Aber die Gefahr ist, dass Sie knapp daneben liegen, weil jeder ja weiß, was Sie machen. Sie haben keine Abstraktion, wo man sagt, ich habe da mal hier einen Erguss gehabt, nehmt es, und mal sehen, was Ihr draus macht. Also die Beliebigkeit der Interpretation ist sozusagen in der Abstraktion gegeben, es gibt dann verschiedene Meinungen. Aber hier ist es ganz klar, was ich mache. Und in dem Augenblick, wenn ich dieses Schreckliche beschreiben will, muss ich eben Situationen herausfinden, die eben nicht plakativ schrecklich sind, sondern die subtiler funktionieren. Also sind Kinder in diesem Fall natürlich ein tolles Phänomen, damit zu arbeiten. Die sind 20 Meter voneinander entfernt, und von irgendjemand wurde bestimmt, dass der eine dort sein Leben verbringen muss und der andere dort.

Das ist so grausam, dass man eigentlich fast nicht hingucken will, viel grausamer ist dann noch, dass sich eine Touristengruppe ein paar Meter weiter vor der Berliner Mauer fotografieren lässt. Ha ha, ich war hier – wie eine Sehenswürdigkeit, das habe ich ja jeden Tag erlebt, ich habe es gar nicht mehr als besonders empfunden, aber jetzt, wenn ich da drauf gucke, sage ich, das ist was ganz Eigentümliches, dass man sagt, da ist der Greuel, da werden Menschen eingesperrt, und da ist irgendwas, was grausam ist, und ich lasse mich als Sehenswürdigkeit davor fotografieren.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade mit Yadegar Asisi, und wir reden nicht irgendwo, sondern ich sitze hier mit ihm in seinem Atelier, und jetzt muss ich was Banales sagen, ich platze aber, wenn ich es nicht sage: Ich bin eigentlich, seit ich hier reingekommen bin, enttäuscht. Nicht vom Inhalt unseres Gespräches, aber man stellt sich natürlich unter dem Atelier eines Künstlers, der das macht, was Sie tun – wenn man sich die Gasometer in Leipzig und in Dresden anguckt, die Installation im Pergamon-Museum –, etwas anderes vor.

Ich hätte gedacht, vielleicht ist er in einem Kreuzberger Hinterhof, weil da ein kleiner, alter Gasometer versteckt ist oder Ähnliches, riesige Hallen mit riesigen Bilderteilen. Das ist schon ein sehr großes Zimmer, in dem wir hier sitzen, und an der Wand hängt auch ein bisschen was, aber im Wesentlichen stehen hier Computer und es liegen vor allen Dingen viele Zettel und Stifte rum. Das heißt, Sie sind in der Arbeit – das ist ein Riesen-Team am Ende, das das macht –, aber in der Arbeit, die Sie selber machen, im Wesentlichen Zeichner und am Computer Entwerfer, Sie klettern gar nicht auf Gerüsten rum?

Asisi: Ich bin früher auf Gerüsten rumgeklettert. Sie müssen wissen, die Panoramen des 19. Jahrhunderts funktionieren ja so, dass man sich also ein Haus baute, dann die Leinwand hin hing – Sie kennen vielleicht das von Werner Tübke –, und dann muss man mit zehn Leuten zehn Jahre dran arbeiten. Das Problem, was man da hat – deswegen sind die auch irgendwann gestorben, weil man gesagt hat, nein, das Panorama hat keine Zukunft mehr.

Ich komme aus dem Zeichnen und aus dem Malen, ich komme auch aus der Architektur und habe das für mich entdeckt, und Sie sehen zwar einen Computer, aber das, was ich dort mache, ist malen. Man glaubt das nicht, man sagt, na ja, der nimmt ja Fotos oder so. Aber wenn Sie mich die drei, vier Jahre, die ich an so einem Bild arbeite – ich brauche eben nicht mehr auf Gerüste zu steigen, sondern das ganze Wissen von Malen, von Zeichnen, von Perspektive wende ich ja jetzt an. Ich entwickle ja die Technik des Panoramas für mich völlig neu. Wenn ich die alte Technik verwendet hätte, was man heute noch in Nordkorea oder in China macht, dann würde ich in meinem Leben vielleicht zwei Panoramen machen können.

Und das Tolle ist, dass ich jetzt auch viel konzeptioneller an die Dinge rangehen kann. Auch die Themen, die ich jetzt habe, die kann ich also in einer ganz anderen Art und Weise umsetzen, und ich muss nicht mit dieser Materialschlacht auseinandersetzen, aber in der Intensität sind es manchmal Dinge, die sehen Sie gar nicht. Ich zeichne, ich male, und ich verwende natürlich auch Fotografie und Bildbearbeitung, was immer mir sozusagen hilft, diese Dinge, die ich mache, umzusetzen. Aber insgesamt – und das ist ja das, was ein Maler, und den Panoramamaler im Speziellen jetzt auszeichnet –, jede Sequenz dieses Bildes, jeder Millimeter geht durch meine Hand.

Kassel: Zum Schluss eine Frage, die Sie eigentlich zwischen den Zeilen schon beantworten haben, aber wenn man nun doch wie Sie schon einige Panoramen mit eigentlich immer großem Erfolg auch beim Publikum gemacht hat, es ist – Sie haben gesagt, Sie kommen aus der Malerei, der Zeichnerei, Sie kommen auch aus der Architektur, waren Hochschullehrer lange Zeit, und haben dann diese Panoramen für sich entdeckt, mit Panometer gleich auch noch das Wort dazu erfunden –, aber es hat sich für Sie noch nicht erschöpft, diese Möglichkeit, also Sie können sich auch noch die nächsten 100 Panoramen vorstellen?

Asisi: Ich weiß es nicht genau, ich beschreibe mein Ziel gar nicht so weit im Vorfeld. Aber für mich ist klar, als Christo seine erste Gabel eingepackt hatte, ich glaube nicht, dass er wusste, dass er irgendwann den Reichstag einpackt. Als ich mit dem Phänomen Panorama konfrontiert wurde, wusste ich noch nicht, dass Panorama ein sehr wichtiges und vielleicht das wichtigste Thema in meinem Leben werden wird. Ob ich damit sterben werde, weiß ich noch nicht, aber ich habe so viele Dinger im Kopf, und so viele Dinge, die für mich aus dem Machen heraus noch so spannend sind, dass ich sage, ich muss es mal machen und gucken, ob es passiert.

Kassel: Yadegar Asisi über seine Arbeit und über sein neues Panometer zur Berliner Mauer. Sie haben da im Hintergrund auch ein bisschen den Hall gehört, das war der Hall des Ateliers, das haben wir nämlich in der Werkstatt des Künstlers aufgezeichnet. Da dürfen und müssen Sie auch gar nicht hin, aber ab übermorgen können Sie am Berliner Checkpoint Charlie dieses neue Mauer-Panometer sehen. Es ist dann ab Anfang der Woche täglich geöffnet, Eintritt ist zehn Euro.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Mehr Infos zu Yadegar Asisi und seinen Projekten auf dradio.de:

Spaziergang durch Pergamon - Eine sensationelle Antiken-Installation in Berlin zeigt das Leben im Jahr 129 n.Chr.

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