TV-Kommissare dürfen mehr fragen als Filmkollegen

Von Michael Hollenbach · 13.10.2012
Die wöchentlichen "Tatort"-Sendungen in der ARD sind für viele Deutsche ein fast religiöses Ritual. Tatsächlich geht es in den Tatort- Produktionen auch immer wieder um Religion und Glaube - obwohl der Alltag außerhalb des Fernsehens atheistischer geworden ist.
Claudia Stockinger kennt sie alle: die Kommissare Thiel und Schenk, Batic und Borowski, oder deren weibliche Kolleginnen Odenthal und Lindholm. 490 Tatort-Folgen aus mehr als 40 Jahren hat die Germanistin mit ihrem Team ausgewertet. und ist der Frage nachgegangen, wie Religion, wie vor allem der Katholizismus, in der Krimireihe dargestellt wird. Und sie hat festgestellt, dass es in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einem Mentalitätswandel gekommen ist. Nicht immer geht es nur um die reine Logik der Aufklärung eines Verbrechens. Die frühere strikte Opposition der Tatort-Autoren zu Glauben und religiösen Welterklärungsmodellen habe sich aufgeweicht:

"Auf einmal schwebt in einem Kölner Tatort eine Krankenschwester über dem Boden, eine katholisch genannte Krankenschwester, die den Menschen die Hände auflegt und sie heilt, oder in einem bayerischen Tatort gibt es eine Hellseherin, die auch sich mit Marienmystik auskennt und gleichzeitig den Kommissaren bei der Fallaufklärung hilft, ohne dass das irritierend wirkt."

Seit Mitte der 90er Jahre - so die Beobachtung der Wissenschaftlerin - gewinnt das Religiöse einen zunehmend größeren Raum in der TV-Krimiserie.

"Das Religiöse kommt in den 70er und 80er Jahren auch vor im Tatort, aber so als Normalität. Man wird beerdigt nach bestimmten konfessionellen Riten, man findet Kreuze in Amtstuben oder am Wegesrand, das ist normal."

Heutzutage scheint das Religiöse nicht mehr so normal zu sein. Vor allem nicht, wenn es beispielsweise um Klöster, Mönche oder Nonnen geht. Das sieht auch Gebhard Henke so. Er ist Chef des WDR-Fernsehspiels und ARD-Tatort-Koordinator:

"Der Zugang in einer Welt, die ja nicht religiöser geworden ist, sondern wo mehr Menschen Atheisten sind und Kinder und Jugendliche, die heute gar nicht religiös erzogen worden sind, für die hat natürlich die Thematisierung von Kirche oder von Kloster oder von Menschen, die sich so entschieden haben, ein weltabgewandtes Leben zu führen, hat einen größeren Sensationswert, fast was Exotistisches. In einer Welt, die so rationalistisch, leistungsorientiert zu sein scheint, haben alle Dinge, die mit Nicht-Erklärbarem, mit Emotionalität, mit Transzendenz zu tun haben, einen hohen Stellenwert. Das sehen Sie an areligiös erzogenen Kindern, die plötzlich entdecken, dass die Mitschülerin mit Kopftuch, die dem Islam verbunden ist, auf einmal ganz interessant ist , oder ein Bekenntnis spannend findet, weil man es nicht kennt. Das heißt doch auch, dass die Gesellschaft nicht ohne Auseinandersetzung mit Transzendentem und auch mit Glauben auskommen kann."

In dem Münsteraner Tatort "Tempelräuber" geht es zwar vordergründig nicht um den Glauben, aber um die Männer der Glaubensvermittlung, um die Priester:

"Münster ist ein katholisch geprägter Raum, aber der Tatort-Kommissar kommt aus Hamburg, so dass für alle anderen Zuschauer dann alles Mögliche mitgeteilt werden kann."

"Morgen Thiel."
"Ah, Frau Staatsanwalt. Was machen Sie denn schon hier?"
"Auf meiner Mailbox war die Rede von einem toten Priester."
"Und? Der ist doch in drei Stunden auch noch tot."
"Thiel, ein toter Priester in Münster. Ist Ihnen eigentlich klar, was das bedeutet?"
"Dass wir jetzt alle in die Hölle kommen."
"In dieser Stadt zählt ein toter Priester so viel wie zwei tote Bürgermeister oder drei tote Polizisten."
"Und was macht das in Staatsanwälten?"
"Sehr witzig, Thiel."

Diese Folge thematisiert den Mord an einem Regens, dem Ausbildungsleiter in einem Priesterseminar. Der Hintergrund der Tat ist ein Skandal um Priesterkinder, deren Existenz vertuscht werden soll:

"In dem Zusammenhang werden einige Vorurteile: muss das zölibatäre Leben für Priester sein oder kann man damit überhaupt leben? Das wird aufgegriffen und das ist das Interessante dabei."

Anders als in anderen Filmen könne man im TV-Krimi unterhaltsam informieren und aufklären, meint Tatort-Koordinator Gebhard Henke:

"Sie können ja durch aufklärerische Fragen und Befragungen Dinge sehr gut darstellen. Das könnten Sie in einem anderen Film gar nicht machen, Sie würden sagen: was ist das für ein pädagogischer Lehrdialog. Die Kommissare dürfen alles fragen oder hinterfragen und sagen: Wusstest du das eigentlich, wie viele Leute noch Kirchensteuer zahlen oder dass Kirchen verkauft werden müssen, all dieses kann man in Krimis gut einbauen."

So kann den Zuschauern auch das Beichtgeheimnis näher gebracht werden. So muss in der katholischen Diaspora, muss Kommissar Borowski seiner Kollegin Jung das Sakrament aus Sicht des katholischen Priesters erst einmal erläutern:

"Eine simple Frage: wenn mir jemand einen Mord gesteht, warum gehe ich dann nicht zur Polizei?"
"Das Beichtgeheimnis ist heilig. Es darf um keinen Preis gebrochen werden." "Auch nicht um einen Mord zu verhindern?"
"Ohne Ausnahme. Drauf steht die Exkommunikation."

Zum Hintergrund: des Mordes verdächtigt wird ein Priester, der allerdings unschuldig ist, den wahren Täter aber durch dessen Beichte kennt, ihn aber nicht verraten darf.

Auffallend ist - so eines der Ergebnisse von Claudia Stockinger: wenn Religion im Tatort auftaucht, so ist es meist der Katholizismus und nicht der Protestantismus. Für Gebhard Henke hat das seinen Grund:

"Natürlich hat der Katholizismus sehr viel mehr Brisanteres durch das Zölibat. Da ist natürlich ein evangelischer Pfarrer, der verheiratet sein darf, nicht so interessant in Blick auf Sexualität."

Der Chef des WDR-Fernsehfilms berichtet von einem Besuch in einem katholischen Seminar. Dort wollte er Ausschnitte aus dem Tatort "Tempelräuber" zeigen, jener Münsteraner Folge mit den Priesterkindern. Bei einem derartig brisanten Thema hatte Henke ein ungutes Gefühl:
"Dann lachte ein relativ hoher Würdenträger und sagte: machen Sie sich keine Sorgen, Sie dürfen uns kritisieren, Sie können uns auch verspotten, wenn wir nicht mehr vorkommen, wie die evangelische Kirche, dann haben wir ein Problem."

An andere Religionen wagen sich die Tatort-Autoren, deren Drehbücher den Ansprüchen der Spannung, der Aufklärung, der Realität, der Aktualität und der Regionalität genügen müssen, eher selten heran. Ein Beispiel für diesen Versuch ist allerdings eine Münchener Folge über Ermittlungen in der jüdischen Gemeinde, der im November 2011 ausgestrahlt wurde. Der Titel "Ein ganz normaler Fall" sei durchaus bezeichnend, meint die Germanistin Claudia Stockinger:

"Weil die Tatort- Kommissare Batic und Leitmayr überfordert sind von der Situation. Es spielt in der neuen jüdischen Synagoge in München. Die wissen nicht genau, wie sie mit den jüdischen Bürgern umgehen sollen, weil sie die ganze Zeit die deutsche Vergangenheit im Blick haben, und da wird die Normalität des Umgangs mit den jüdischen Mitbürgern gleichzeitig noch zum Thema dieses Tatorts gemacht."

Und das Thema innerislamischer Konflikt in dem Tatort "Wem Ehre gebührt" endete gleich mit einer Demonstration der Aleviten vor dem Funkhaus des NDR. In der Folge ging es um Inzest in einer alevitischen Familie - ein Vorurteil, das die Aleviten oft von muslimischer Seite zu hören bekommen. Von den heftigen Protesten seien die Tatort-Produzenten doch überrascht gewesen, meint Gebhard Henke:

"Das wird sicherlich die Sensibilität der Macher und der Autoren eher schärfen, dass man sich das sehr genau überlegt, ob man in einen solchen Bereich geht."

"Wem Ehre gebührt" landete übrigens im "Giftschrank" der ARD. Dieser Tatort wird nicht mehr wiederholt.