TV-Geschichte

Die Blütezeit des Fernsehens

Von Bernd Sobolla · 26.12.2013
In seinem Buch würdigt der Medienwissenschaftler Thomas Bräutigam das Fernsehspiel, das seit Anfang der 60er-Jahre einen aufklärerischen Anspruch erhob - während im Kino noch Revue- und Heimatfilme liefen.
Filmausschnitt: "Allen wird geholfen. Allen. Nur mir nicht. Für mich da,… da gibt es nicht mal einen Arzt. Ich will einen Arzt! Einen Arzt! Ich will endlich meine Freiheit!"
"So weit die Füße tragen" war 1959 der erste "Straßenfeger" des deutschen Fernsehens. Der TV-Mehrteiler von Regisseur Fritz Umgelter basiert auf einer wahren Begebenheit und erzählt die Geschichte eines deutschen Soldaten, der 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien floh und eine Odyssee begann, die ihn drei Jahre später an die rettende Grenze zum Iran führte. Im Buch heißt es dazu: "Der Zuschauer konnte sich mit einem deutschen Soldaten als Helden identifizieren, der selbst Opfer ist (…) und nur nach Hause will."
Hier fällt auf, dass der Autor Thomas Bräutigam nicht einfach nur eine Auflistung bietet, sondern auch versucht, die Werke historisch einzuordnen. Zugleich betont er, dass vor allem die Fernsehspiele der 60er- und 70er-Jahre das Medium prägten:
"Das Kino setzte eben auf Unterhaltung und Evasion. Das Publikum sollte sich entspannen. Und das hängt auch mit der Verdrängungsproblematik zusammen in den 50er-Jahren. Auch die deutsche Literatur in den 50er-Jahren hat nicht darauf reagiert. Das war im Grunde genommen weit weg von diesem Thema. Das Fernsehen, das lief nur so ab, dass da fortschrittliche Redakteure waren, die das Fernsehen als Aufklärungsmedium verstanden haben. Also im Grunde genommen war es eine Art Volkshochschule."
Fernsehen als Volkshochschule
Aufklärung und Bildung, Kritik und Analyse - nie zuvor und nie danach wurde das Fernsehen seinem Auftrag gerechter. In "Orden für die Wunderkinder" zum Beispiel persiflierte Rainer Erler 1963 den Umgang von Ruhm und Ehre in der Nachkriegszeit, Egon Monk inszenierte zwei Jahre später in "Ein Tag" den Alltag in einem fiktiven Arbeits- und Straflager im Jahr 1939. Und in "Nachrede auf Klara Heydebreck" rekonstruiert Eberhard Fechner 1969 das Leben einer Selbstmörderin, die ein karges einsames Leben führte, dennoch musisch interessiert und um Bildung bemüht war. Ein Spiegelbild vom Zerfall bürgerlicher Familienstrukturen. Und die 70er-Jahre begannen noch besser:
"Das Medium Fernsehen nahm sich selbst aufs Korn, zum Beispiel in der berühmten Mediensatire 'Das Millionenspiel' von Wolfang Menge, Tom Toelle. Also das war eine inszenierte Spielshow, bei der der Kandidat entweder eine Millionen gewann oder erschossen wurde. Und viele Zuschauer nahmen das ernst, weil sie das Authentische vom Fiktionalen nicht unterscheiden konnten."
Eine Mediensatire, die lange vor Einführung des Privatfernsehens das Fernsehen als skrupellose Unterhaltungsmaschine anprangerte. Ein visionärer Film, der mit dem Voyeurismus der Zuschauer spielt. Die Umfragen im Film verleihen Authentizität. Und diverse Zuschauer bewarben sich als Kandidaten.
Filmausschnitt: "Wissen Sie, wer Bernhard Lotz ist? / Ja, sicher. Aus dem Millionenspiel: der Gejagte. / Sagen Sie, was denken Sie von diesem Spiel? Finden Sie das geschmacklos, finden sie das menschlich? / Sehr modern finde ich das, ganz prima, ausgezeichnet. / Modern, das heißt: Leute abschießen? / Ja, nicht nur. ... Ist ziemlich hart. Aber was soll man machen - Fernsehen."
Fernsehsatire und episch angelegte Mehrteiler
Auch auf große Werke des DDR-Fernsehens geht das Lexikon ein: Auf episch angelegte Mehrteiler, in denen die ideale sozialistische Gesellschaft thematisiert wird, wie in "Krupp und Krause" oder "Wege übers Land". Aber auch Frank Beyers Ehedrama "Geschlossene Gesellschaft" von 1978, das als gesellschaftliche Anklage verstanden werden kann und nur zu später nächtlicher Stunde gesendet wurde.
Filmausschnitt: "Eigentlich absurd unser Bedürfnis nach Ruhe. Findest du nicht? / Komm, Schatz, fang nicht wieder an. Guck einfach nicht raus! / Ich wollte aber was sehen. / Du weiß doch, dass es nichts zu sehen gibt. / Ich möchte dahinter kommen, wie die anderen das machen!"
Auf zwei bedeutende Ereignisse der 70er-Jahre geht Thomas Bräutigam ein, die entscheidende Veränderung bringen sollten: Mit dem Film-Fernsehabkommen von 1974 kofinanzierte das Fernsehen nun Kinofilme, die nach der Kinoauswertung ihren festen TV-Platz haben:
"Das hatte zur Folge, dass der deutsche Kinofilm von da an aussah wie ein Fernsehspiel und die Fernsehfilme sich dem Unterhaltungsprimat des Kinos anpassten."
Die zweite bedeutende Veränderung brachte 1979 die Ausstrahlung der US-Serie "Holocaust", die eine große emotionale Betroffenheit beim Publikum auslöste. Fortan wurden Themen wie Judenverfolgung, Nationalsozialismus und Kriegsverbrechen nicht mehr nur in Dokumentarformaten behandelt.
"Aber 'Holocaust', das setzte ja auf Rührung, auf Identifizierung, auf Einfühlung. Und das war nun das Modell für die folgenden Fernsehfilme, die auf große Themen im großen Format setzten. Zeitgeschichte als Familiengeschichte mit traditionellen Handlungsmustern."
Als Weiterentwicklung davon kann man die "Event-Movies" wie "Der Tunnel", "Die Luftbrücke" oder "Die Flucht" sehen. Dabei kritisiert Bräutigam, deren Emotionalisierung. Zumal die Protagonisten meist unschuldige Opfer sind, deren Leben durch die historischen Ereignisse durcheinander gebracht werden.
"Das Fernsehspiel war eindeutig über der Unterhaltung angesiedelt. Und diese Etage über der Unterhaltung, die gibt es heute nicht mehr. Die ist weggebrochen."
Das Buch "Klassiker des Fernsehfilms" bringt Filminhalte, beschreibt, welche gesellschaftlichen Veränderungen in den Werken reflektiert oder Debatten angestoßen wurden. Oder welche anderen Filme zum Thema erwähnenswert sind. So ist Thomas Bräutigam eine Hommage an die Hochzeit des Fernsehens gelungen. Auch wenn er das Doku-Drama mehr hätte würdigen können, das einst von Horst Königstein und Heinrich Breloer entwickelt wurde und ausgezeichnete Werke wie "Todesspiel", "Speer und Er" oder "Die Manns" hervorbrachte. Somit lebt zumindest ein Teil der großen Fernsehtradition weiter.
Thomas Bräutigam: Klassiker des Fernsehfilms. Das Beste aus 60 Jahren Fernsehgeschichte.
Schüren-Verlag, Marburg 2013
350 Seiten, 24,90 Euro