TV-Film

Inszenierung auf Messers Schneide

Weiter massiv in der Kritik: Die Odenwaldschule (OSO) in Ober-Hambach bei Heppenheim.
Idyllische Kulisse, grausame Wahrheiten: Die Odenwaldschule (OSO) in Ober-Hambach bei Heppenheim. © picture alliance / dpa / pdh-online.de
Von Klaudia Wick · 01.10.2014
Der Fernsehfilm "Die Auserwählten", den die ARD am 1. Oktober um 20.15 Uhr zeigt, deckt das System des Missbrauchs auf. Ulrich Tukur spielt virtuos den charismatischen Schulleiter, der so lange unbehelligt handeln kann, weil Kollegen und Eltern wegsehen.
Die Untaten sind aufgedeckt, die Opfer beziffert: Mindestens 132 Schüler und Schülerinnen wurden zwischen 1960 und 1990 während ihres Aufenthalts im reformpädagogischen Internat "Odenwaldschule" (OSO) sexuell missbraucht. So steht es im Bericht der beiden Ermittlerinnen, die 2010 von der Schule selbst beauftragt wurden. Zu der Transparenzstrategie der neuen Schulleitung gehörte es auch, zwei Dokumentarfilme zu unterstützen, die mit ganz unterschiedlichen Konzepten versuchten, kurz nach der Offenlegung des Skandals Licht ins Dunkel zu bringen.
In "Die geschlossene Gesellschaft" beleuchten Luzia Schmid und Regina Schilling 2011 das Systemische des Missbrauchs: das Fehlen der Aufsichtsgremien, das Wegschauen der Lehrer, das allgemeine Bedacht sein auf den unbeschädigten Ruf der Schule. Der Film, mit Archivmaterial auch aus der Schule selbst reich bebildert, visualisiert das Vakuum, in dem die Missbraucher so viel Platz finden konnten.
Regisseur arbeitete selbst an der OSO
Christoph Roehl, selbst zwischen 1988 und 1990 als Tutor an der OSO, wollte zunächst für einen Spielfilm recherchieren, wählte schließlich aber die Perspektive des Interviewfilms. In seinen bis zu fünf Stunden langen Gesprächen, aus denen er "Und wir sind nicht die Einzigen" kompilierte, scheinen die vom Missbrauch betroffenen Schüler und die wenigen gesprächsbereiten Lehrer den Zuschauer zuweilen direkt anzuschauen. Der Eindruck ist eine optische Täuschung, die durch eine Spiegelung des Kamerabildes entsteht, unterstreicht aber wirkungsvoll das Anliegen der Protagonisten: Das Wegschauen fällt uns schwerer, wenn uns jemand in die Augen schaut. Sogar, wenn es "nur" ein Bildschirmblick ist.
Man hatte seinerzeit das Gefühl, dem Fernsehen sei es hier einmal gut gelungen, den Odenwaldskandal mit diesen beiden Dokumentarfilmen, mit diesen so unterschiedlichen Herangehensweisen, mit der Draufsicht und der Nahsicht, angemessen zu thematisieren. "Die geschlossene Gesellschaft" erhielt 2012 den Grimme Preis, "Und wir sind nicht die Einzigen" den Robert Geisendörfer Preis der EKD. Nun hat der WDR gemeinsam mit der ARD Degeto noch einen Fernsehfilm produziert, der einen dritten, noch emotionaleren Weg gehen will.
Zurück auf Anfang
Wieder ist Christoph Roehl der Regisseur, er ist mit "Die Auserwählten" zum Ausgangspunkt seiner Idee zurückgekehrt. Auf die Frage, was der Spielfilm den Dokumentararbeiten voraus hat, antwortet einer der beiden Autoren Benedikt Röskau im Presseheft: "Fiktion kann viel mehr Identifikation und Empathie für handelnde Figuren schaffen". Der Zuschauer versetze sich in die Charaktere und empfinde somit stärker mit.
Für Ulrich Tukur, der in der Verfilmung den OSO-Schulleiter und wortgewaltigen Reformpädagogen nach historischem Vorbild, aber mit anderem Namen spielt, ist gerade diese Einfühlung eine zwiespältige Angelegenheit. Gerold Becker war, so bezeugen viele, eine charismatische Figur – hätte er auch sonst so lange unbehelligt für richtig erklären können, was so offensichtlich falsch war? Tukur muss seine Figur lieben, um sie zum Leben zu erwecken. Und die Kamera muss ihren Hauptdarsteller lieben. Es ist eine Inszenierung auf Messers Schneide. Wie soll man die (zu) freie Atmosphäre darstellen, in der die Odenwaldschule ihre pädagogische Existenzberechtigung hatte?
Hochsommer als Stilmittel
Roehl und sein Kameramann Peter Steuger wählen das helle Sonnenlicht des Hochsommers als Stilmittel, um die Stimmung an der Schule zu zeigen, die für viele Absolventen bis heute eine lichte Lebenserinnerung ist. Die vielen hochroten Gesichter, die von der Maske nicht überpudert wurden, mögen auch der Tatsache geschuldet sein, dass Roehl im Hochsommer während der Schulferien am Originalschauplatz und nicht im klimatisierten Studio drehte - aber es zeigt doch auch Überhitzung der Situation.
"Die Auserwählten" ist im Letzten kein ansehnlicher Film, und er will es sicher auch nicht sein. Die Kamera verleugnet nie, dass es hier auch um Voyeurismus, um verbotene Einblicke geht. Sie steht hinter einem Vorhang, postiert sich an einem Türposten oder einem Raumteiler. Nur selten gewährt der Film einen freien Blick vom Hügel auf das berühmte Haus. Sobald der Film sein Tun reflektiert, wird "Die Auserwählten" unangenehm didaktisch. Bildsprache und Spielfilmdramaturgie finden ihre besten Momente, wo sie ganz nah bei den Kindern und ihrer hilflosen Vereinsamung bleiben.
Herausragende Schauspieler
Leon Seidel, Jahrgang 1996, steht schon seit seinem elften Lebensjahr vor der Kamera, als junger Frank Hoffman zeigt er in diesem Film eine verblüffend gereifte Schauspielpersönlichkeit. Rainer Bock als sein Filmvater ist einmal mehr hinter der bürgerlichen Fassade eine wirklich abgründig diabolische Figur. Julia Jentsch entledigt sich, so gut das eben geht, der Zumutung, als die "Neue" an der Schule nur die dramaturgische Lokomotive der Erzählung zu sein. Gemeinsam mit einem virtuosen Ulrich Tukur, der in jeder Szene zugleich geliebt und gehasst werden will, verleihen sie dem Film die nötige Sogkraft, um aus der einfachen Rekonstruktion ein komplexes Drama zu machen.
Dennoch: Die Fiktionalisierung des Stoffes weist in nichts über das bereits von den Dokumentarfilmen Geleistete hinaus. Auch "Die Auserwählten" führt den Zuschauer letztlich genau dort hin, wohin der Dokumentarfilm "Und wir sind nicht die Einzigen" uns schon gebracht hatte: Man kann nicht wegschauen.
Regie: Christoph Roehl, Buch: Sylvia Leuker, Benedikt Röskau, Kamera. Peter Steuger, Produktion: ndf Film. WDR 2014, EA 1. Oktober 2014, 20.15 ARD
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