Tütenpest

Von Thomas Kruchem · 17.05.2010
Telefone und Computer, Autos und moderne Funktionskleidung wären ohne Kunststoff kaum denkbar. Die Industrieländer behelfen sich damit, die Plastikabfälle wieder einzusammeln, zum Teil zu recyceln. In den Entwicklungsländern jedoch wird Plastikmüll in der Regel einfach weggeworfen oder auf offenen Halden deponiert.
Vielleicht 15 Fischer ziehen ein zwischen zwei Booten gespanntes Netz an Land - mit einem armdicken Tau. "Das wird kein großer Fang", sagt achselzuckend Moses Tete, der Dorfälteste. Er schimpft auf die ausländischen Kutter draußen, die den Küstenfischern immer weniger übrig lassen, und auf eine relativ neue Plage.

"Wenn wir, wie jetzt, unsere Netze an Land ziehen, finden wir immer wieder unzählige Plastiktüten in den Maschen - so viele manchmal, dass für Fische kein Platz mehr war. Das ärgert uns schon ziemlich. Immerhin aber können wir mit dem Plastikmüll etwas anfangen.

Weil das Wasser von der Lagune dort hinten in der Regenzeit regelmäßig unsere Hütten überschwemmt, bauen wir Deiche mithilfe des Plastiks. Wir legen es als Befestigung auf den Boden und schaufeln Sand darauf. Bei Regen sind dann unsere Hütten einigermaßen geschützt."

Totopa, Ghana, ein Dorf auf einer schmalen Sandbank zwischen der Songo-Lagune und dem atlantischen Ozean. Eine Idylle eigentlich: schilfgedeckte Hütten und phantasievoll bemalte Boote unter Kokospalmen; weißer Strand. Wenn nur nicht überall bunte Flaschen, Dosen und Fetzen lägen.

Rot-grüne Fetzen von Saftbeuteln, schwarze von Einkaufstaschen, viele blau-weiße von Sachets, jenen Polyäthylen-Beuteln, die in Ghana – aus Gründen der Hygiene – für den Verkauf von Trinkwasser vorgeschrieben sind. Alles Plastik, alles die Küste herunter getrieben von der hundert Kilometer nördlich gelegenen Hauptstadt Accra.

Accra - eine wuchernde Handelsmetropole mit inzwischen drei Millionen Einwohnern. Zwischen wellblechgedeckten Zweckbauten und über stockig-schwarzen Fassaden wäschebehängter Mietskasernen ist die Stadt ein einziger Markt. Jeder freie Platz, alle Gehwege sind zugestellt mit feilgebotenen Waren: mit Stapeln von Stereoanlagen, Tomaten- und Zwiebelbergen; mit dekorativ aufgehängten Fußballtrikots und Maiskolbenröstereien. Und jede Sekunde schiebt eine Marktfrau Fisch, Tomaten oder Zwiebeln in schwarze Polyäthylen-Beutel; verkauft eine Frau blau-weiße Wasserbeutel an Passanten.

"Es handelt sich um einen Beutel aus kräftiger Polyäthylen-Folie, der in Ghana, wo es sehr heiß ist, auf der Straße verkauft wird. Taxifahrer, zum Beispiel, trinken sehr viele Beutel täglich. Sie kaufen einen, beißen eine Ecke ab und drücken das Wasser in ihren Mund. Eine recht hygienische Art zu trinken eigentlich; und es fällt weniger Plastikabfall an als bei einer Flasche.

Diesen Müll jedoch werfen die Leute einfach fort – aus dem Fenster, auf die Straßen, die übersät sind mit den blau-weißen Beuteln. Ein großes Problem hier in Ghana. Denn das Plastik gerät in die offenen Abwasserkanäle, blockiert diese, verursacht Überflutungen und erhöht so auch die Gefahr von Malaria."

... meint Stuart Gold - ein Brite, der, nachdem er ein Vermögen mit Architektur-Software gemacht hatte, nach Ghana zog und hier ein gemeinnütziges Unternehmen gründete, das Polyäthylen-Beutel recycelt. Stuart schickt den Besucher auch in Accras Armenviertel Agbobloshie - an einen Ort wie aus einem surrealen Film.

Auf einer kleinen Brücke verkaufen aggressiv wirkende junge Männer vergilbte, aber angeblich noch funktionsfähige Computer-Bildschirme – neben einem blau-roten Schild: "Müll abladen verboten. Ihren Abfall entsorgt die Firma Zoomlion." Beim Blick von der Brücke indes steigt faulig-öliger Gestank in die Nase – aus einem Gewässer, so voll von verschmutzten Plastikfetzen, Dosen und Flaschen, dass nur da und dort blau-grün schillerndes Wasser zu sehen ist.

An der Böschung des linken Ufers kleben Bretterverschläge und gestapelte alte Kühlschränke; dazwischen verkaufen Frauen am Boden aufgereihte Kassava-Knollen. Rechts dagegen nichts als eine in Morast gebettete Wüste aus Computer-, Fernseh- und Kühlschrankplastik, in der Dutzende Kinder waten.

Einige stochern mit Magneten aus Lautsprechern im Morast; andere werfen mit Kunststoff isolierte Kupferkabel auf fünf, sechs Feuerstellen, von denen schwarzer Qualm aufsteigt. Kinder wie Bafo Cheye, der mit seinen trüben Augen und langsamen Bewegungen wie ein alter Mann wirkt.

Cheye: "Ich bin 14 Jahre alt und lebe mit meiner Mutter im Kokumba-Slum dort drüben, auf der anderen Seite der Lagune. Jeden Morgen um sechs komme ich hierher und brenne Plastik von Kupferkabeln, bis es dunkel wird. Damit verdiene ich nicht schlecht - etwa zwei Cedi, einen Euro pro Tag.

Trotzdem hasse ich diesen Ort. Schauen Sie sich meine Hände und Füße an. Überall Wunden von scharfen Kanten und Splittern. Der Rauch von dem Plastik brennt fürchterlich in den Augen; und nachts kann ich oft nicht schlafen, weil ich die ganze Zeit huste."

Kunststoffe: chemische Produkte, sogenannte Polymere, aus organischen und anorganischen Rohstoffen - aus Kautschuk, vielerlei Harzen, Chlor und vor allem Erdöl. Vom Menschen, zumeist im 20. Jahrhundert, entwickelte Werkstoffe, die mal hart, mal elastisch, mal hitzefest oder säurebeständig sind – je nachdem, wofür sie eingesetzt werden – für Bodenbeläge, Rohre oder Textilien; für Computergehäuse, Reifen oder Lacke; für Verpackungen oder Trinkflaschen.
In den Industrieländern behelfen wir uns damit, Plastikabfälle einzusammeln, einen Teil zu recyceln, den Rest zu verbrennen und verbleibende, oft hochgiftige Schlacken endzulagern. In armen Entwicklungsländern wie Ghana jedoch wird Plastikmüll in der Regel einfach weggeworfen oder irgendwo deponiert. Der Wind verweht das leichte Material; viel landet im Meer und in zum Meer führenden Flüssen.

Der kalifornische Chemiker und Meeresforscher Captain Charles Moore hat den Blick auf mittlerweile fünf riesige Meeresgebiete gelenkt, wo Millionen Tonnen Plastikmüll aus den letzten Jahrzehnten in kreisförmigen Strömungen treiben – Kleiderbügel, Kanister, Flaschen und Fischernetze; zerfallen vielfach in kleinste Partikel. Und auch in Ländern wie den USA kommt täglich mehr dazu – hat Moore festgestellt, als er zwei Flüsse untersuchte, die die Gegend um Los Angeles entwässern: den Los Angeles River und den St. Gabriel River.

Moore: "Wir haben Netze in diesen Flüssen ausgelegt, um zu erfassen, wie viel Plastikmüll über sie den Ozean erreicht. Und in gerade drei Tagen, zwei regnerischen und einem trockenen, fanden wir rund 2,3 Milliarden Plastikteilchen, die zusammen 30 Tonnen wogen. Trotz aller Anstrengungen in den USA also, Plastikmüll zu sammeln und zu recyceln, gelangen große Mengen ins Meer.

Und das geschieht in jeder am Meer gelegenen Metropole weltweit - in Lagos, Nigeria, und Bombay, Indien; in London, England, und Manila auf den Philippinen. Alle in Küstennähe gelegenen Großstädte entlassen gewaltige Mengen Plastik ins Meer."

Plastik, das zusehends Leben gefährdet. Am Strand des ghanaischen Totopa finden Fischer immer häufiger verendete Schildkröten, die Plastik mit Nahrung verwechselt haben; im Landesinnern sind manche Felder so sehr mit schwarzen Fetzen übersät, dass der Maisanbau leidet; und auch grasende Tiere sterben den Kunststoff-Tod.

Captain Charles Moore bereist mit seinem Schiff regelmäßig den sogenannten nordpazifischen Plastikmüll-Teppich 200 Meilen vor San Francisco. Dort, sagt er, sind kleine Plastikteilchen inzwischen sechsmal so häufig wie natürliches Plankton. Und täglich findet Moore verhungerte Fische und Vögel mit dem Magen voller Plastik.

Moore: "Besonders unter den Albatrossen sterben zahllose Küken mit oft Hunderten von Plastikteilchen im Magen. Im Nordpazifik sind vor allem der Laysan-Albatros und der Schwarzfuß-Albatros betroffen. Von den vielleicht einer Million Albatros-Küken, die Jahr für Jahr schlüpfen auf den kleinen Inseln dort, verenden wohl Hunderttausende mit dem Magen voller Plastik."

Gefressene Kunststoffe indes verhindern nicht nur die Aufnahme echter Nahrung. Sie saugen auch, wie Schwämme, im Meer gelöste Dauergifte wie PCB und DDT auf, die sich dann im Fettgewebe der Meerestiere anreichern. Darüber hinaus setzen etliche Kunststoffe eigene Giftcocktails frei.

Moore: "In Singapur haben Wissenschaftler Fisch aus Supermärkten unter die Lupe genommen. Sie kauften Fisch ein und untersuchten ihn im Labor. Und sie entdeckten in jedem einzelnen Tier die Chemikalie Bisphenol A, einen wichtigen Baustein sogenannter Polykarbonat-Kunststoffe.

Bisphenol A und ähnliche Chemikalien verkörpern ein sehr ernstes Problem für die Gesundheit auch des Menschen. Diese hormonähnlichen Stoffe können, zum Beispiel, den Insulinstoffwechsel des Menschen durcheinander bringen und so Diabetes und Fettleibigkeit verursachen."

Was kann man dagegen tun? Wie können auch die heute am meisten zu lebensbedrohlicher Plastikverschmutzung beitragenden Entwicklungsländer endlich ihren Plastikmüll zumindest reduzieren? Für die Medien der meisten Entwicklungsländer ist Plastikmüll bis heute kein echtes Thema - und auch nicht für die Politiker dort, die sich mit Mahnungen und Vorschriften nur unbeliebt machen können. Wenige Länder, wie Bangladesch, haben zumindest dünne Plastiktüten offiziell verboten; in China wird dies erwogen; in Afrika geschieht, abgesehen von Südafrika, politisch nichts.

Immerhin jedoch wächst in Ländern wie Ghana ganz allmählich ein zartes Pflänzchen privaten Engagements. Der Polyäthylentüten-Hersteller Blowplast, zum Beispiel, hat die Armen Accras aufgerufen, Einkaufs- und Wasserbeutelmüll aus Polyäthylen zu sammeln und ihm zu verkaufen. "Blowplast" baute in Tema eine moderne Recyclinganlage ...

... die heute pro Tag zehn Tonnen Altplastik reinigt, zerkleinert und zu Granulat einschmilzt, das dann zu neuen Tüten verarbeitet wird. – Für einen anderen Kunden sammeln Frauen wie Mariana Mahama ausschließlich gut erhaltene Polyäthylen-Beutel.

Mahama: "Ich sammle, gemeinsam mit einigen Nachbarn, seit drei Jahren Wasser- und Saftbeutel - an Busbahnhöfen, Taxiständen und allen öffentlichen Plätzen. Wir stopfen die Beutel in große Säcke, bringen sie in mein Haus und sortieren sie dort. Für tausend Wasserbeutel zahlt uns die Firma "Trashy Bags" dann einen Cedi 50 - und für 1000 kleine Eistüten sechs Cedi."

Drei Euro also. Stuart Gold, der Gründer von "Trashy Bags", hat in Jujuba, einem besseren Wohnviertel Accras, ein schmuckes Anwesen gemietet, wo 60 Arbeiter gebrauchte Polyäthylenbeutel sortieren ...

... sie in großen Wannen waschen und desinfizieren sowie schließlich ...

... zu Designer-Taschen vernähen, zu Rucksäcken, Kinder-Anoraks und sogar Schirmen. Bernhard Erkelenz, ein Umweltaktivist und Kaufmann aus dem deutschen Köln, importiert die schmucken "Trashy-Bags"-Produkte nach Europa - mit wachsendem Erfolg.

Erkelenz: "Wer hauptsächlich Kunde ist, sind die "Welt-Läden", die in erster Linie aber die etwas teureren Taschen, also Messenger-Bags, Sporttaschen, Rucksäcke, vor allem auch diese Kosmetiktaschen dann im Programm haben. Ich würde gerne auch in nächster Zeit etwas größere Ketten ansprechen. Wir haben jetzt eine Versandhauskette, die Interesse hat, bestimmte Produkte mit ins Angebot zu nehmen; und es gibt Gespräche mit ein, zwei größeren Drogerieketten auch, die eventuell so etwas mit anbieten."

Recycling ist ein denkbarer Weg, Plastikmüll zu reduzieren; ein anderer wäre, wo es geht, Kunststoffe zu verwenden, die nach Gebrauch schnell zerfallen: biologisch abbaubare Kunststoffe - die in der Europäischen Union einer klaren Definition unterliegen: Es handelt sich um Werkstoffe, die sich - nach der Norm EN 13432 - kompostieren lassen, also ähnlich schnell wie Kartoffeln oder Gras zu Kohlendioxid, Wasser und Humus zerfallen. Werkstoffe vorwiegend, bislang, aus Kartoffel- und Maisstärke, aus Milchsäure und Zellulose. Weitere Materialien befinden sich in der Erprobung – Bio-Kunststoffe aus Mikroben, zum Beispiel, die mit Nahrungsmittelabfällen oder auch gebrauchtem Frittieröl gefüttert werden.

So begegnet man dem denkbaren Problem, dass Plantagen für Biokunststoff-Pflanzen irgendwann der Produktion von Lebensmitteln Platz wegnehmen. –Biokunststoff jedoch ist kein Allheilmittel – meint Harald Käb, Chemiker beim Industrieverband "European Bioplastics".

Sie sind, erstens, bis heute zwei- bis viermal teurer als konventionelle Rohstoffe; und sie sind, zweitens, nur geeignet für kurzlebige Produkte – nicht für Autositze und Computer-Gehäuse also, sondern für Tragetaschen, Gemüse- und Obstverpackungen oder Gartenfolien. Schon der Einsatz von Biokunststoff für Trinkbeutel in warmen Ländern wie Ghana ist problematisch.

Käb: "Wenn sie ein schnell biologisch abbaubares Material nehmen, dann wird die Abbaugeschwindigkeit beeinflusst von der Umgebung. Das heißt, da, wo es warm ist, geht es schneller; da, wo es feucht ist, geht es schneller; da wo viele Mikroben sind, also wo die Hygiene nicht im gleichen Maß gewährleistet ist wie zum Beispiel bei uns im Kühlregal eines Supermarktes, geht der Abbau schneller.

Dann ist die Frage eben, ob diese, zum Beispiel, Trinkbeutel dann noch ihre Funktion gut erfüllen können, wenn sie dann eben sich vielleicht mit Mikroben besetzen, dass sie dann auch in der Natur schnell abbauen; das wollen Sie aber nicht, solange sie gesundes Trinkwasser trinken wollen."

In armen und feucht-heißen Länder wie Ghana sollte man weniger auf die Hoffnung Biokunststoff setzen als in andere Strategien der Plastikmüll-Vermeidung investieren, meint der deutsche Wissenschaftler. Die Verantwortlichen müssten endlich, mit Hilfe der Industrieländer, flächendeckenden Sammel-, Entsorgungs- und Recyclingsystemen etablieren; sie müssten in der Bevölkerung Problembewusstsein aufbauen.

Genau das versucht – im Rahmen seiner Möglichkeiten – auch "Trashy Bags"-Chef Stuart Gold. "Kunststoffmüll ist Wertstoff", sagt er. "Wir müssen unsere Industrieproduktion auf stoffliche Kreisläufe umstellen, anstatt mit dem Verbrauch immer neuer Rohstoffe immer neuen Problemmüll zu produzieren."

Gold hält viele Vorträge in Ghana, die vorläufig - gibt er zu - eher gebildetere Schichten erreichen; Vorträge, zum Beispiel an der internationalen "Lincoln Community School", wo soziales Engagement der Schüler zum Lehrplan gehört.

Im Kunstsaal der Lincoln-Schule hat Lehrerin Nicki Hambleton mit ihren Schülern Müllbehälter aus Plastikflaschen gebastelt; die Schüler machen auch Müllkunst und weben dekorative Deckchen aus zerschnittenen Einkaufstüten. Die Schüler sollen umweltbewusstes Handeln lernen und auch über Alternativen nachdenken – Alternativen etwa zu den das Stadtbild von Accra prägenden Wasserbeuteln.

Schüler: "Es gibt diese großen Kunststoffkanister, aus denen man Wasser mit einem Schlauch herauspumpt. Viele Leute kaufen statt kleiner Flaschen diese Kanister. Man kann sie zurückgeben und auffüllen lassen, weil sie enorm haltbar sind. Ich finde das sehr hygienisch: Man pumpt einfach sauberes Wasser - in welches Gefäß auch immer."

Terrefe: "Wenn jeder von uns, zum Beispiel, täglich drei Stück Plastikmüll aufhebt, wenn das jeder tut, dann wird sich schon eine Menge ändern."