Türkischstämmige Intendantin: Auch Islamkritiker sind frauenfeindlich

Moderation: Andreas Müller · 29.12.2010
Die Theaterintendantin Shermin Langhoff hat den Islamkritikern in Deutschland vorgeworfen, zum Teil ebenso chauvinistisch und antisemitisch zu sein wie fundamentalistische Moslems. So würden prominente Kritiker wie Sarrazin und der Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky von der Befreiung von Frauen sprechen und gleichzeitig über Frauen wie über "Geburtenmaschinen" reden, sagt die Chefin des Berliner Theaters Ballhaus Naunynstraße.
Andreas Müller: Das Buch "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin dürfte unter einigen Weihnachtsbäumen gelegen haben, nicht wenige Deutsche wollten und wollen dieses Buch unbedingt lesen. Den Autor hat es zum Millionär gemacht, eine gewaltige Bevölkerungsgruppe zum Objekt einer Debatte, die bis heute heftig und kontrovers geführt wird. Bei mir im Studio ist jetzt Shermin Langhoff, sie ist Intendantin, künstlerische Leiterin des Ballhaus in der Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg. Ja, sie ist, sie hat MH, wie das heute dann so heißt kurz gesagt, nämlich Migrationshintergrund, und sie hat sich auch intensiv an dieser Debatte beteiligt, auch hier bei uns schon im Deutschlandradio Kultur. Jetzt begrüße ich sie wieder, schönen guten Tag!

Shermin Langhoff: Ja, wünsche ich auch, hallo!

Müller: Frau Langhoff, Thilo Sarrazin ist Millionär, in einer "Spiegel"-Geschichte wurde er kürzlich als Solitär im Kampf mit dem politischen Establishment stilisiert, als Outlaw mit Bestseller-Status. Hätten Sie erwartet, dass er jetzt, am Ende dieses turbulenten Halbjahres – das Buch erschien ja im Sommer – so dastehen würde?

Langhoff: So steht er im "Spiegel" da. Also Erwartungen diesbezüglich hatte ich jetzt keine. Es ist natürlich nicht so, dass einem nicht mulmig wird bei den Zahlen, die dieses Buch und vor allem aber auch in der Diskussion und den anderen Befragungen, Statistiken sagen. Also wenn jeder Vierte in Deutschland eine starke Partei sich wünscht und jeder Zehnte nach einem Führer schreit und eben tatsächlich in dieser sogenannten Integrationsdebatte die Befeuerung, die populistische und schlicht falsche Aussagen Material sind, dann wird einem schon mulmig. Und ich denke, man kann das, was im Oktober erschienen ist von Friedrich Ebert Stiftung sehr ernst nehmen, die Mitte in der Krise. Ich denke, wir brauchen wirklich eine Demokratiedebatte, und keine Integrationsdebatte mehr in diesem Land.

Müller: Im September, da haben Sie sich mit eingemischt, da hat eine Gruppe von 15 namhaften deutschen Muslimen, da waren Sie mit dabei, in einem offenen Brief an den Bundespräsidenten Wulff gesagt: Bekennen Sie sich zu uns! Das Schreiben richtete sich natürlich auch gegen Sarrazins Buch. War das vielleicht auch ein längst nötiges Statement: Hier sind wir, nehmt uns bitte mal wahr?

Langhoff: Ja, das ist ja jetzt nicht so, dass das zum ersten Mal gemacht wird. Also es gibt schon eine migrantische Bevölkerung, die sich einmischt, seitdem sie migriert ist und seitdem sie hier lebt. Ich erinnere an die Streiks bei Ford, die maßgeblich von Menschen mit Migrationshintergrund geführt wurden in den 70ern, also bereits ein Jahrzehnt nach ihrer Ankunft hier. Also es ist nicht so, dass es keinen Beteiligungswillen gab in der migrantischen Bevölkerung. Wir haben aber nach 50 Jahren anatolischer Einwanderung in Deutschland noch nicht einmal das kommunale Wahlrecht durchgesetzt für diese Menschen. Und insofern haben wir tatsächlich, muss ich noch mal sagen, ein Demokratieproblem, über das wir dringend sprechen müssen, weil wir in der Geschichte sicher erfahren haben, dass Segregation, Ausschluss nicht die Wege waren, um eine Gesellschaft fortschrittlich weiterzuführen und in die Zukunft zu führen.

Müller: Für ein paar Menschen war das relativ neu, dass sich im September da Kulturschaffende als Muslime auch äußerten. Das ist ja schon interessant, also Fatih Akin plötzlich wird dann eben auch als Muslim wahrgenommen, bei Wim Wenders würde man jetzt nicht unbedingt sagen, der christliche Regisseur Wim Wenders. Aber hatte das vielleicht auch was Befreiendes für Sie?

Langhoff: Ach, gar nicht! Also es ist eher ein anderer Prozess, der passiert. Man muss ja wissen, was die Hintergründe sind, also letztendlich ist es so, dass Hilal Sezgin sich zu Recht aufregt über eine "Bild"-Kampagne, die eben doch dazu aufruft, sich für Thilo Sarrazin und hinter Thilo Sarrazin gegebenenfalls zu stellen, und sagt, okay, was die "Bild" kann, an den Bundespräsidenten schreiben lassen und aufrufen, das können wir doch auch, das ist auch unser Bundespräsident, und diese Idee hatte sie eben in dem Fall, weil das schnell gehen sollte und musste, mit den naheliegenden Zeitungen verabredet, für die sie auch arbeitet, und ich eine der Gefragten war und ich wiederum Fatih Akin fragte, ob er da mit unterschreibt. Und Fatih sagt, meine Eltern sind Muslime, deswegen bin ich Muslim, fertig, aus, ich unterschreibe darunter. Für mich war es ein bisschen ein anderer Prozess, ich bezeichne mich als Agnostikerin, bin also nicht einer religiösen Gemeinschaft zugehörig, aber frei nach Sartre: Man wird nicht nur als Muslim geboren, sondern man wird auch zum Muslim gemacht. In den letzten Jahren musste ich mich damit auseinandersetzen und werde immer wieder zur Muslima konstruiert, obwohl ich das nicht bin. Und warum soll ich sozusagen in Zeiten, in denen antimuslimischer, widerlicher Rassismus in dieser meiner Gesellschaft, in diesem meinen Land tobt, nicht auch Haltung beziehen, und zwar politische in dem Fall.

Müller: Sind die Intellektuellen mit Migrationshintergrund zusammengerückt dadurch, haben Sie sich vielleicht neu getroffen? Mich erinnerte das ein bisschen an die Zeiten, als es mal darum ging, Franz Josef Strauß zu verhindern, als es ja plötzlich auch so eine Allianz westdeutscher Intellektueller gab, die relativ neu war.

Langhoff: Ja, das ist sicher eine Geschichte, die passiert. Also es gibt verschiedene Initiativen, die sich gründen wie "Deutsch plus", wo also arrivierte, integrierte, erfolgreiche Menschen mit MH jeglicher Herkunft sich zusammenfinden und genau sozusagen auch andere Bilder imaginieren und visualisieren und Netzwerke schmieden et cetera, oder eben solche gemeinsamen Aufrufe, es gab ja diesen einen und danach gab es "Demokratie statt Integration", unter das noch mal 400 Erstunterzeichner und weitere Tausende Intellektuelle, Studierende, Arbeiter unterschrieben haben, die sich eben gegen diese Demokratiefeindlichkeit auch wehren und gegen die Kultur der Diskussion, gegen die populistische Kultur, gegen Falschaussagen, mit denen jongliert wird. Das ist ja das Schwierige auch bei Sarrazin. Es ist ja nicht das Problem, man kann mit diesen pessimistischen, biologistischen Warnthesen, da kann man gutes Material fürs Theater daraus machen, Nurkan Erpulat bedient sich zum Beispiel gerne dessen. Ansonsten kann man da wirklich nicht darüber reden, wenn man irgendeiner Komplexität irgendwie Herr ist. Aber was gefährlich ist, ist tatsächlich, dass ganz demagogisch umgegangen wird in diesen Debatten mit Zahlen, Fakten, angeblichen Statistiken, die es so nicht gibt. Also wenn ein Thilo Sarrazin sagt, 95 Prozent oder 90 Prozent, egal, der Berliner mit MH sind prinzipiell staatsfeindlich eingestellt, und er gefragt wird in der "Süddeutschen", woher er denn diese Werte hätte, sagt er, es hat noch nie so eine Statistik oder eine Befragung gegeben, aber das ist das Gefühl und der Anschein, den ich habe, wenn ich mir die gesamte Situation angucke, und dann kann ich so etwas behaupten, solange es nicht widerlegt ist, gilt diese These! Also das muss man sich mal irgendwie sozusagen im Kontext all der Aufklärung, über die wir sprechen, all dem vernünftigen Umgang mit Religion, mit Diskussion, Dialogkultur, muss man sich einfach mal so das reinziehen. Und da hört für mich natürlich einfach wirklich die Dialogkultur auch auf.

Müller: Im Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Shermin Langhoff, sie ist die künstlerische Leiterin des Ballhaus Naumynstraße in Berlin. Bei aller Kritik an Sarrazins Buch – das, was Sie da gerade genannt haben, ist natürlich ein Riesenriesenfauxpas, ein Riesenfehler, also diese erfundenen Statistiken – hat sich aber eines gezeigt, der Erfolg dieses Buches hat gezeigt: Es ist enorm viel Druck im Kessel, es besteht ein großer Bedarf an Auseinandersetzung und Diskussion. Erstaunlich ist ja, wie viele Hunderttausende Menschen gesagt haben, ja meine Güte, wir reden ja gar nicht miteinander, warum passiert das eigentlich nicht. Nun kann man die Thesen völlig absurd finden, klar, aber Sie haben eine Debatte schon genannt, welche müssen noch geführt werden? Also eine Demokratiedebatte brauchen wir, haben Sie gesagt. Wie muss man noch ins Gespräch kommen, worüber muss man reden?

Langhoff: Ja also ich denke, wir können und sollten über alles reden. Ich denke auch, dass dieser Dialog schmerzhaft sein wird. Also es geht nicht darum, eine Harmonisierung herbeizuführen und gegebenenfalls bestehende Probleme von Chauvinismus, Antisemitismus und vielem anderen, die wir in diesem Land haben, nicht zu teilen miteinander. Nur muss man eben sehen, dass genau Chauvinismus und Antisemitismus genau so, wie es vielleicht bei fundamentalistischen Moslems vorhanden ist, bei den massiven und schärfsten Kritikern nämlich dieser Moslems auch vorhanden ist. Also dass die Beweggründe der Kritiker leider nicht die progressivsten sind. Also das heißt, wenn mir Buschkowskys, Sarrazins, Broders irgendwas von der Befreiung von Frauen erzählen und gleichzeitig von Frauen sprechen, als wären sie Geburtenmaschinen oder Objekte, dann kann ich sozusagen den Feminismus dieser Herren nicht wirklich wahrnehmen oder ernst nehmen. Und also ich denke, wir müssen eine Demokratiediskussion führen, weil das ist die Grundlage unserer Gesellschaft. Wir müssen sie führen, weil die Mitte dieser Gesellschaft wirklich in Krise ist, egal ob sie in Krise geraten ist, weil sie Dieter Bohlen schaut oder weil sie Sarrazin liest, auf einem anderen Niveau befindet sich der Mainstream für mich zum Teil nicht, weil es geht leider nicht um Goethe und Büchner und Schiller. So alles, was zählt, ist im Moment das ökonomische Kalkül und die diffuse Vorstellung, man wäre was Besseres. Und auch ein neuer Hass gegen sogenannte Sozialschmarotzer, also gegen die Schwachen in der Gesellschaft. Die werden zur Parallelgesellschaft stilisiert und Kapitalismuskritik ist eh das größte Tabu, das wir mittlerweile haben. Also man macht sich schon lächerlich sozusagen, wenn man irgendwie dies anspricht. Also wenn wir tatsächlich in Zahlen messen und uns die Löhne der Bundesbankvorständler und überhaupt sozusagen der Banken anschauen, und was sie für Profite aus der Gesellschaft erzielen, dann ist das natürlich lächerlich, was sozusagen die sozial Schwachen an Leistungen aus genau demselben Säckel holen.

Müller: Ganz kurz nur noch: Sie sind seit Langem eine erfolgreiche Theatermacherin, Sie sind ja immer auch darüber viele Jahre natürlich definiert worden. Jetzt gibt es diese Debatte, plötzlich sind Sie wieder Migrantin. Wie sehr nervt Sie das?

Langhoff: Ach eigentlich bin ich immer Migrantin geblieben, also diese Konstruktion gab es, egal ob ich Filme mit Fatih Akin produziert habe oder Theater gemacht habe am Hebbel-Theater mit Lilienthal oder eben nun Theater mache am Ballhaus Naunynstraße, es gibt Erwartungshaltungen, es gibt Blicke, aber genau so verstehe ich ja auch ästhetische Arbeit. Ästhetik heißt für mich nach wie vor Wahrnehmung, es geht also um eine Politik der Blicke, Wahrnehmung, Ästhetik ist ohne Polis nicht zu denken, also das ist das, was mich auch interessiert. Es geht hier nicht irgendwie nur um das Schöne und Gute und die Ansicht dessen und die interne Reflektion, sondern tatsächlich darum, sich mit Gesellschaft auseinanderzusetzen, mit Bildern, die produziert werden, mit Blicken, die manifestiert werden, mit Reproduktion auch in solchen Debatten. Und das fließt natürlich in die künstlerische Arbeit ein. Und genau diese Blicke werden in der künstlerischen Arbeit befragt und deswegen sind alle natürlich immer herzlich eingeladen ins Ballhaus Naunynstraße zu kommen und die Kulturpraxis hinter den politischen Haltungen, die eben auch gefragt sind heute, zu sehen.

Müller: Shermin Langhoff, vielen Dank fürs Kommen!

Links bei dradio.de:

Onkel Thilo erklärt die Welt
Thilo Sarrazin: "Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen", Deutsche Verlagsanstalt, 464 Seiten


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