Türkische Erfolgsgeschichten

Von Steffen Wurzel · 17.08.2011
Der Boom der türkischen Wirtschaft ist bemerkenswert. In Bezug auf einen möglichen EU-Beitritt des Landes sagen immer mehr Wirtschaftsexperten: Allein aus ökonomischer Sicht sollte die Türkei aufgenommen werden. Aber: Wie nachhaltig ist der Boom?
Die Altstadt von Gaziantep, im Südosten der Türkei, unweit der Grenze zu Syrien. In den kleinen Geschäften in den verwinkelten historischen Gassen sitzen Kupferschmiede und bearbeiten Vasen, Teller und andere Gegenstände aus Kupfer mit ihren Werkzeugen.

Doch die traditionell-orientalische Idylle täuscht, denn die 1,3 Millionenstadt hat einiges mehr zu bieten als nur Kupferschmiede. Mehmet Aslan, Präsident der regionalen Handelskammer:

"Landesweit ist Gaziantep die führende Provinz im Textilgewerbe, in der Nahrungsmittelindustrie, im Maschinenbau, in der Chemiebranche und in der Kunststoffindustrie. 85 Prozent aller maschinengewebten Teppiche werden bei uns in Gaziantep hergestellt. Wir exportieren in dieser Branche Produkte im Wert von einer Milliarde US-Dollar im Jahr. Das ist weltweit spitze."

Die Boomtown Gaziantep ist der Beweis dafür, dass die Zeiten endgültig vorbei sind in denen man über die Türkei sagen konnte: Östlich der Wirtschaftsmetropole Istanbul kommen nur noch plattes Land, Ziegenhirten und anatolische Dörfer. An wirklich allen Ecken und Enden der Türkei schießen Industriegebiete und Fabriken aus dem Boden.

Einer der Gründe dafür ist die ausgesprochen wirtschaftsfreundliche Politik der regierenden religiös-konservativen AKP. Außerdem heizt die enorme Binnennachfrage die Konjunktur an. Der Wirtschaftsjournalist Hakan Özenen von der Zeitung Haber Türk:

"Wir hatten zuletzt einen echten Konsum-Boom. Bei Autos und Immobilien zum Beispiel. Nach Ende der weltweiten Wirtschaftskrise verkauft sich das hier alles wieder bestens. Und zwar, weil das Finanzwesen den türkischen Markt weiterhin mit relativ günstigen Krediten versorgt und die Nachfrage finanzieren kann."

Die Zahlen der türkischen Statistikbehörde TÜİK sind beeindruckend. Vergangenes Jahr ist die türkische Wirtschaft um 8,9 Prozent gewachsen. Für dieses Jahr rechnet man mit 4,5 bis 6 Prozent. Das statistische Pro-Kopf-Einkommen steigt seit Jahren stetig. Die Staatsverschuldung, mit der das Nachbarland Griechenland zurzeit so schwer zu kämpfen hat, ist in der Türkei in den vergangenen Jahren nicht gewachsen, sondern geschrumpft.

Doch das Problem: All die Zahlen, die auf dem Papier so gut und beeindruckend aussehen, halten der Realität oft nicht stand. So lag die offizielle Inflationsrate zuletzt zwar bei relativ geringen 5,7 Prozent, gefühlt ist für die meisten Türken in den vergangenen Monaten aber fast alles wesentlich teurer geworden. Und oft hört man von den Menschen die Frage: Der gestiegene Wohlstand, wo ist der eigentlich?

"Bei mir kommt das alles mit dem Wirtschaftswachstum so gar nicht an," sagt etwa dieser Backwaren-Straßenverkäufer im Istanbuler Stadtteil Ortaköy. "Bei mir bleibt alles immer gleich," sagt er, "es wird weder schlechter, noch besser. Die kleinen Händler bleiben eben immer klein."

Viele, vor allem schlecht ausgebildete Türken, bekommen wenig mit vom Wirtschaftsboom. Zahlreiche Ökonomen warnen außerdem bereits davor, dass die florierende türkische Wirtschaft wie eine Blase zerplatzen könnte. Denn ein Großteil des Binnenkonsums wird durch zinsgünstige Verbraucherkredite angeheizt.

Als erstes Warnsignal deuten Beobachter bereits den seit Monaten stetig fallenden Kurs der türkischen Währung. Seit Jahresbeginn ist die türkische Lira im Vergleich zum Euro regerecht abgeschmiert: Sie verlor etwa 20 Prozent ihres Wertes.