Türkische Arbeiter "waren Menschen zweiter, dritter Klasse"

Günter Wallraff im Gespräch mit Katrin Heise · 31.10.2011
Mit seiner vor über 25 Jahren geschriebenen Gastarbeiter-Reportage "Ganz unten" habe er einiges bewegt, ist der Journalist Günter Wallraff überzeugt. Mittlerweile setzten sich Türken und Deutsche auf vielen Ebenen "auf Augenhöhe" auseinander.
Katrin Heise: Er wollte es immer ganz genau wissen, wie es sich anfühlt in der Haut eines anderen. Und so setzte sich Günter Wallraff als Industriearbeiter beispielsweise oder als "Bild"-Zeitungsjournalist verkleidet direkt in die Höhle des Löwen. So enthüllte er Zustände, die ein Journalist nicht vorgeführt bekäme. Anfang der 80er benutzte Wallraff dann ein schwarzes Haarteil und dunkle Kontaktlinsen und per Zeitungsannonce suchte er als kräftiger Ausländer Arbeit, egal was, auch Schwerst- und Drecksarbeit. Und die bekam Günter Wallraff als Ali Levent Sinirioglu dann auch. Der Journalist und Autor schlüpfte Anfang der 80er in die Rolle eines türkischen Gastarbeiters und erduldete, was der zu erdulden hatte. Sein Buch "Ganz unten", in dem er die unglaublichen Zustände schilderte, wurde ein Bestseller. Ich grüße Sie, Herr Wallraff, schönen guten Tag!

Günter Wallraff: Ja, guten Tag!

Heise: Was hat Sie damals am meisten schockiert, was Sie erlebt haben?

Wallraff: Nun, wir waren Menschen zweiter, dritter Klasse, wir hatten keine Rechte, wir mussten ohne Schutzvorkehrungen in dichtesten Giftstäuben, im größten Stahlwerk Europas, Thyssen-Hütte damals, arbeiten und bekamen so auch schwerste gesundheitliche Schädigungen. Ich habe als Andenken noch eine Bronchitis davongetragen, Kollegen von mir, die später an Krebs gestorben sind. Wir wurden dazu noch verhöhnt und wir, ja, machten das, was Deutsche sich nicht mehr zugemutet hätten. Und dadurch wurde auch der Krankenstand der Stammarbeiter geschont und wir mussten bis zu 16 Stunden arbeiten.

Und das war nicht nur in diesem Stahlwerk so, ich habe es dann auch in anderen Bereichen erlebt. Ich habe es in der McDonalds-Kette erlebt, da hat sich inzwischen vieles geändert, aber damals waren auch wir nur zum Kloputzen, zum Reinigen für ... eingesetzt und wurden dann auch noch, ja, gedemütigt. Das war aber allenthalben so und ich habe danach Tausende Zuschriften bekommen von hier lebenden Türken dieser Zeit, die das ganz ähnlich empfunden haben und denen ich quasi Mut gemacht habe, dann auch darüber zu veröffentlichen.

Allerdings hat die Öffentlichkeit reagiert, es hat sich vor Ort einiges geändert, auch bei Thyssen mussten Sicherheitsingenieure eingestellt werden, Arbeitssicherheit wurde seitdem beachtet, der damalige Arbeitssozialminister der SPD hat es zur Chefsache gemacht, es wurde eine Untersuchungsgruppe gebildet, eine Ali-Gruppe gebildet, die solchen Zuständen fortan auf den Grund ging. Also, vor Ort, an den Tatorten hat sich dann einiges verbessert und es ist ein Gewissen in der Bevölkerung aufgerüttelt worden.

Heise: Denn also, erst mal sind Sie ja von Thyssen verklagt worden ... Und aber insgesamt würden Sie sagen, die Reaktionen der Leser sowohl auf türkischer, als auch auf deutscher Seite, waren also ... Man ließ sich aufrütteln, ich meine, dazu muss man ja erst mal auch in der Lage sein oder sein wollen. Also, das überhaupt an sich ranlassen, was Sie da alles geschildert haben.

Wallraff: Ja. Also, Thyssen hat dann auch nachgegeben. Der Prozess, den habe ich gewonnen und dann wurde der Betriebsratsvorsitzende, der das alles mit geduldet hat und sich mit den Chefs da, gesellschaftlich verbandelt war, der wurde dann aus der IG Metall ausgeschlossen. Der Heutige, bis heute, achtet darauf, dass solche Missstände und solche Fremdfirmen – es ging ja auch über Subunternehmen, über Leiharbeit, dass das da nicht mehr überhandnimmt. Man kann aber sagen, die Öffentlichkeit war so unter Schock, es wurde ein Gewissen quasi hervorgerufen, weil man wusste es nicht.

Zum Teil lebte man nebeneinander her. Innerhalb der Wohngebiete, innerhalb der Betriebe, das waren ganz ... die ausländischen Kollegen frühstückten unter sich, die Deutschen ... Waren sprachliche Handicaps, es wurde ja auch in den Betrieben überhaupt nicht darauf geachtet, es interessierte ja keinen, dass man Deutsch lernte, dann hätte man ja auch Widerworte geben können, das war gar nicht erwünscht!

Heise: Ja, das Deutschlernen, das kam dann erst später als ein Muss dazu. Sie haben gesagt, Sie haben auch viele Zuschriften von türkischen Arbeitern da bekommen, die sich also quasi wiederfanden und ihre Misere eigentlich geschildert fühlten. Man hat ja nach der Lektüre das Gefühl, die türkischen Einwanderer sind hilflose Opfer, aber haben Sie auch andere Stimmen gehört? Weil, ich meine, es gibt ja auch Leute, die gesagt haben, genau das waren wir nicht und wir haben uns auch damals schon aufgelehnt und wir wollen nicht nur Opfer sein.

Wallraff: Ja, also, ich meine, wenn Sie heute natürlich die Kinder oder Kindeskinder der Einwanderer hören oder jetzt hier auch den Politiker der Grünen, Cem Özdemir, der erzählt das genau so, eins zu eins, wie das seine Eltern empfunden haben. Also, da werde ich auch heute noch auf der Straße angesprochen und bestätigt.

Nein, es gab auch andere, es gab damals schon auch Intellektuelle, die hier lebten, die fühlten sich durch den türkischen Arbeiter Ali sogar ein bisschen bedrängt, die wurden dann ständig auch von Nachbarn oder ... angesprochen, eingeladen, das war ihnen dann zu viel des Guten.

Heise: ... eben auch in eine Schublade gesteckt, oder?

Wallraff: Die wurden alle in eine Schublade gesteckt. Obwohl, es war schon das Gros der hier Lebenden. Und man darf nicht vergessen: Diese Einwanderung begann ja kurz nach dem Mauerbau, als man aus dem Osten keine Arbeitskräfte mehr bekam, da waren die gerade gut genug, da wurden, die Anwerbekommissionen haben da die kräftigsten und belastbarsten und ... übrigens keine Analphabeten, die auch schreiben und lesen konnten und so weiter, die wurden hier en masse reingeholt und wir ... Das sogenannte Wirtschaftswachstum wurde auf ihrem Rücken sozusagen aufgebaut.

Und dann erst merkte man, es sind Menschen, die auch Familien haben, die sich hier zu Hause fühlen. Und ich kenne inzwischen, die Hälfte meines Bekanntenkreises sind Menschen aus solchen Einwandererfamilien und, die sich hier zu Hause fühlen. Und über die wird kaum geredet, es werden nur immer die negativen Seiten berichtet und thematisiert und hier werden wirklich Menschen vergrault. Da sind hoch Qualifizierte dabei, Deutschland ist inzwischen ein Auswanderungsland, und so, wie dieser Hetzer, der das Buch da geschrieben hat von oben herab, und wo er Menschen als minderwertig ansieht, biologistisch, genetisch bereits versucht, denen Makel anzuhängen, dessen Titel des Buches bewahrheitet sich am Ende: Deutschland schafft sich ab, aber anders, als er das meint ...

Heise: ... als er das wohl meinte ...

Wallraff: ... er trägt dazu bei, dass das passiert. Und darüber wird viel zu wenig geredet. Was hier diese Einwanderung uns auch alles gebracht hat und ...

Heise: ... oder was sie jetzt auch noch bringt, wie man eigentlich jetzt zusammenlebt. Ich spreche mit dem Schriftsteller Günter Wallraff, der in den 80ern auf den alltäglichen Rassismus in Deutschland aufmerksam gemacht hat. Herr Wallraff, Sie haben es eben angesprochen: Wenn wir jetzt mal ein paar Jahrzehnte, also in die Jetztzeit vorswitchen: Die Ausbildungs- und Arbeitsmarktsituation junger Deutschtürken ist ja alles andere als befriedigend. Aber wie sehen Sie die Chancen der Nachkommen türkischer Einwanderer heute?

Wallraff: Die Chancen sind enorm. Und alleine hier türkische Mädchen, die sind in der Regel fleißiger, vielleicht, weil sie auch behüteter sind, sie sind in den Schulen lernbegieriger. Und es muss nur gefördert werden. Und von daher hat Deutschland einen Bildungsnotstand. Es muss in den Kindergärten anfangen: Wir brauchten wahrscheinlich sogar so was wie eine Kindergartenpflicht und auch die Hilfestellung in den Schulen ... Wir sehen es ja, zum Beispiel in Berlin wurde, über eine bestimmte Presse wurde eine Panikmache betrieben, diese Rütli-Schule war das, die als Hassschule verleumdet wurde. Inzwischen ist das ein Vorzeigemodell, da sind die besten Pädagogen, da sind die besten Mittel reingebracht worden, das nennt sich heute Rütli-Campus, da kommen aus dem Ausland Delegationen hin, um zu zeigen, wie es auch geht. Nur, darüber wird dann wiederum kaum berichtet.

Heise: Sie haben es ja eben schon gesagt, dass Sie, Ihrer Meinung nach hat Deutschland eine Chance verpasst, indem man eben die gut ausgebildeten Deutschtürken ja auch wieder abziehen lässt in Scharen. Was würden Sie zu dem Selbstbewusstsein sagen der türkischen Community jetzt?

Wallraff: Sie werden an den Rand gedrängt, sie werden alle in einen Topf geworfen. Und Sie dürfen nicht vergessen: Die den Moscheegemeinschaften zugehören, das ist ja nur eine Minderheit, das sind ja höchstens 25 Prozent, und von denen auch, die wenigsten sind Fanatiker. Und die, jeder, der hier einen türkischen Namen hat, wird gleich pauschal – das hat eine bestimmte Boulevardisierung der Presse erreicht –, die werden alle mit denen gemein gemacht. Und dadurch entsteht natürlich auch eine Trotzhaltung. Allerdings ist es auch verhängnisvoll, wenn die Moscheengemeinschaften so tun, als würden sie im Namen hier aller lebenden Türkischstämmigen sprechen.

Heise: Also, wieder die Schubladen, das Schubladendenken.

Wallraff: Da ist absolutes Klischeedenken und das ist verhängnisvoll. Allein, ich meine, da trägt natürlich auch der jetzige Ministerpräsident Erdogan bei, wenn der hingeht, zweimal sogar das vom Stapel lässt, dass Assimilierung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wäre. Da soll er mal im eigenen Lande anfangen und die dortigen Christen ...

Heise: ... diskutieren Sie mir Ihren Freunden genau darüber, Sie haben ja gesagt ...

Wallraff: ... Christen und Kurden sollten da mal gleiche Rechte haben und nicht zwangstürkisiert werden. – Doch, darüber reden wir, zum Teil streiten wir auch, aber die Mehrheit von denen, mit denen ich befreundet bin, mit denen bin ich ziemlich einer Meinung. Und zwischendurch allerdings gibt es auch dann, ja, eine Vergrätzung, eine Trotzhaltung, so ungefähr, ihr Deutschen oder ihr Alteingesessenen, ihr meint, ihr wärt was Besseres, und dann entstehen natürlich auch falsche Fronten. Aber da müssen wir von Gleich zu Gleich, auf Augenhöhe uns auseinandersetzen, und das geschieht ja auch auf vielen Ebenen.

Heise: Sie wohnen ja quasi im Schatten der jetzt entstehenden Kölner Moschee. Wie nehmen Sie so insgesamt die Hinwendung zum Islam wahr?

Wallraff: Ich meine, das ist schon ein Problem, ich bin für den Moscheebau von Anfang an gewesen, das war eine unwürdige, marode Fabrikhalle, wo die ihrem Glauben nachgehen sollten, und dann hat hier ein bekannter Architekt, der auch moderne Kirchenbauten gemacht hat, Paul Böhm, hat hier eine sehr, sehr, ein Kunstwerk, würde ich sagen, hingesetzt, was auch für Ehrenfeld nur von Vorteil ist. Ehrenfeld ist nicht gerade reich an Sehenswürdigkeiten.

Und jetzt versucht man, diesen Mann, der gut genug war, einem modernen Islam, der sich öffnet, Ausdruck zu verleihen, den versucht man jetzt, ja, kaltzustellen, und dann noch über miese Tricks, ihm hier das Recht abzusprechen, das zu vollenden. Da war vorher schon Streit, der sich ankündigte, man wollte das Ganze verkitschen, man wollte es von innen, aber auch von außen plötzlich in eine ganz andere Richtung drehen und dann noch Geld sparen, und hat jetzt die Bauherren ausgewechselt, da sind jetzt Hardliner zu Gange, die ihn jetzt ausbooten wollen.

Das finde ich schon schändlich und da sollte die Öffentlichkeit auch wieder Anteil nehmen und sehen, dass so eine, ein Symbol, was ja – ein Bauwerk drückt ja auch von außen aus, was da innen stattfindet –, dass er da seine Urheberrechte behält.

Heise: Also, genaues Hingucken auf jeden Fall notwendig, auch wenn es um Symbole des deutsch-türkischen oder islamisch-christlichen Zusammenlebens geht, die Meinung von Günter Wallraff, Journalist und Autor. Vielen Dank, Herr Wallraff, für dieses Gespräch!

Wallraff: Ja, gerne!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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