Türkei

Wahlen im Zeichen der Angst

Tausende Menschen protestieren gegen Terror und Gewalt in Ankara.
Die Lage vor der Wahl in der Türkei: Anschläge, Angst, Trauer und Proteste. © AFP / Adem Altan
Von Reinhard Baumgarten · 29.10.2015
Am kommenden Sonntag stehen in der Türkei erneut Parlamentswahlen an. Die regierende AKP hatte nach der Wahl im Juni dieses Jahres keine absolute Mehrheit bekommen und konnte innerhalb der 45-Tage-Frist keinen Koalitionspartner finden. Regierung und Opposition, rechts und links, stehen sich so unversöhnlich gegenüber wie lange nicht mehr.
Kinder, wohin das Auge blickt: Kinder. 40 Prozent der Einwohner der südostanatolischen Stadt Cizre sind jünger als 18.
"Wir sind hier in der Nur-Straße. Nur-Straße lebe ich auch hier mit meiner Familie zusammen. Das war die Straße, die während der Zeit der Ausgangssperre am meisten angegriffen worden ist."
Leyla Imret - sie ist 27. Das entspricht ungefähr dem Durchschnittsalter von Cizre. Leyla Imret ist Bürgermeisterin der 120.000-Einwohner-Stadt – einer Stadt, die so exemplarisch ist für die Eskalationsspirale, unter der die Türkei seit Monaten leidet.
Ende März vergangenen Jahres wurde Leyla Imret gewählt, vor knapp vier Wochen dann aber per Regierungserlass abgesetzt. Sie hat Widerspruch eingelegt. Der Vorwurf an sie: In einem Interview soll sie zum Bürgerkrieg angestachelt haben.
Blödsinn, sagt die junge Kurdin, ihre Aussagen seien böswillig verfälscht worden. Cizre steht jetzt unter direkter Kontrolle der AKP-geführten Regierung. Im September war die Stadt neun Tage im Fokus der Medien. Neun Tage galt in Cizre eine Ausgangssperre. Neun Tage ohne Strom, Wasser, Telefon, medizinische Grundversorgung und Lebensmittel.
"Wir waren drei Familien in einer Wohnung. In der Wohnung hatten wir wenigstens noch einen Keller, wo wir, wenn es ganz schlimm wurde, dann sind wir sogar in den Keller reingegangen. Wir haben nachts gar nicht geschlafen."
"Ein 35 Monate altes Kind - wie soll das bitte ein Terrorist sein?"
Einschusslöcher, aufgerissene Straßen, Barrikaden aus Sandsäcken und Steinen. 22 Menschen sind in Cizre während der Belagerung im September umgekommen. Darunter Kleinkinder und Alte.

"Die türkische Führung sagt, dass hier Terroristen erschossen wurden. Wenn sie sagen, ein 35 Monate altes Kind, war das dann ein 35 Monate alter Terrorist, oder war das ein 70 Jahre alter Terrorist, oder gab's hier gar keine Terroristen?"
Einwohner und Barrikaden aus Sandsäcken in einem der umkämpften Stadtviertel von Cizre. Einschusslöcher der Kämpfe in den Mauern und ein Konterfei von PKK-Chef Öcalan im Hintergrund.
Einwohner von Cizre neben Barrikaden aus Sandsäcken© Foto: Deutschlandradio - Martin Gerner
"Ein 35-monatiges Kind - wie soll das bitte ein Terrorist sein? Oder ein 70-jähriger Mann, der zum Brotkaufen rausgegangen ist, vor seiner Tür wird er erschossen. Das haben wir gesehen. Alles, was sich bewegt hat, wurde direkt beschossen."
Zagros und Jodi sind zwei schmale Jungen mit Sturmhaube, Pistole und Kalaschnikow. Schule, Ausbildung, Beruf? Schon länger kein Thema mehr. Lässig lehnen sie mit verdecktem Gesicht an einer zerschossenen Wand im Herzen von Cizre. Die beiden gehören zur bewaffneten PKK-Jugend, die in den inneren Vierteln von Cizre Autos kontrolliert, durch Straßen patrouilliert und die Staatsmacht herausfordert. Cizre unweit der irakischen Grenze ist eine Hochburg der PKK.
"Als sie 2014 bei den Kommunalwahlen Ende März gewählt wurden, sie sagten 83% Stimmenanteil, damals waren sie 26, hätten sie sich das in ihren übelsten Träumen vorstellen können, was sie in den vergangenen vier Wochen hier erleben mussten? Nein, absolut nicht. Vor allem ich hab gedacht, man hat das alles in den 90er Jahren liegen lassen. Ich hab' heute noch mal das Gleiche erlebt. Das Traurige daran ist, dass die Kinder so etwas auch noch mal erleben müssen, weil sowas vergisst man als Kind nicht, diese ganzen Sachen. Du siehst Leichen, du siehst Blut überall. Das ist sehr, sehr schlimm."
1991 wurde Leyla Imrets Vater in Cizre erschossen. Bis heute gilt er als Held. Die Vierjährige kam zu einer Tante in Bremen. Dort ist sie aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat eine Lehre als Friseurin gemacht. Vor zwei Jahren ist sie nach Cizre zurückgekommen und hat sich dann gegen 12 Konkurrenten im Rennen um das Bürgermeisteramt durchgesetzt.
"Wenn man in der Stadt ist, sieht man eher Männer, sieht man, dass es von Männern eher beherrscht wird. Genau deswegen sollte ja auch eine Frau gewählt werden."
Leyla Imret wirkt wie ein von höherer Warte eingesetztes repräsentatives Kontrastprogramm. Das Sagen haben andere.
Die AKP strebt nach immer mehr Macht
Die AKP, so stellt der islamisch-liberale Publizist Mustafa Akyol fest, glaube, dass es viele Probleme in der Türkei gebe, für deren Lösung sie mehr Macht haben sollte.
Sprecher 1: Vor allem Erdoğan denkt so. Er glaubt, es gibt in der Türkei viele Probleme, die alle durch böse Kräfte verursacht wurden und er braucht dagegen eine sehr entschlossene Macht, die er nicht hat. Deshalb will er einen Wechsel zu einem Präsidialsystem. Dafür muss er die Verfassung ändern, dafür braucht er aber mehr als 367 Abgeordnete und deshalb muss die prokurdische HDP raus aus dem Parlament.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gestikuliert während einer Rede im Präsidentenpalast.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sucht nach immer mehr Macht© AFP / Adem Altan
Die HDP hat am 7. Juni 13,1 Prozent bekommen und stellt 80 Abgeordnete in der Großen Nationalversammlung. Mit dem erstmaligen Einzug der HDP ins Parlament hat die AKP ihre absolute Mehrheit eingebüßt. Erdoğans Bestreben, die Verfassung ändern zu wollen, lässt sich ohne eine satte AKP-Mehrheit im Parlament nicht umsetzen.
Sprecher 1: Er möchte die Verfassung ändern. Wenn ihm das gelingt, dann dürfte das lebenslange Immunität für den Präsidenten beinhalten. Und vielleicht wird die Amtszeit auch von 5+5 auf 7+7 Jahre erhöht. Das würde ihm 14 weitere Jahre geben. Er muss weiterhin Zugriff auf die Medien haben, weil er einen großen Teil der Bevölkerung mit seiner Propaganda füttern muss.
Recep Tayyip Erdoğan ist nach Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk der mächtigste Mann in der Geschichte der modernen Türkei. Im Sommer vergangenen Jahres ist er mit knapp 52 Prozent als erster Präsident überhaupt direkt vom Volk zum Staatsoberhaupt gewählt worden. Aus dieser Wahl leitet der 61-Jährige ganz besondere Er-wartungen ab.
Sprecher 2: Die Türkei ist am 10. August 2014 aufgrund der Direktwahl des Präsidenten durch das Volk in eine neue Phase getreten. Seitdem gibt es in der Türkei keinen symbolischen Präsidenten mehr, sondern einen Präsidenten mit konkreter Macht. Das Führungsmodell der Türkei hat sich dadurch geändert. Nun ist es an der Zeit, dieser konkreten Tatsache durch eine neue Verfassung einen rechtlichen Rahmen zu geben.
Die Opposition spricht von einem kalten Putsch durch die Hintertür
Die türkische Opposition spricht vom Versuch eines kalten Putsches durch die Hintertür. Die geltende Verfassung lege Rolle, Wirken und politischen Einfluss des Präsidenten weitgehend fest. Genau wegen dieser Einschränkungen will Erdoğan die Verfassung in seinem Sinne ändern.
Sprecher 1: Er benutzt eine Definition von Demokratie, die modern, aber gleichzeitig auch sehr autoritär ist. Wer immer die Stimmenmehrheit bekommt, hat das Recht, alle Aspekte der Gesellschaft zu dominieren. Wenn du Erdoğans Leute fragst, dann sagen die, ja, das ist Demokratie. Sie sagen ganz klar, Demokratie bedeutet Wahlen. Demokratie beinhaltet Wahlen, aber es beinhaltet auch Gesetze, gegenseitige Kontrolle, eine unabhängige Justiz, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, friedliche Proteste gegen die Regierung. Nichts davon ist denen wirklich wichtig. In diesem Sinne haben sie eine sehr schlichte Definition von Demokratie, die wir auch aus andern Teilen der Welt kennen.
Recep Tayyip Erdoğan steht am Sonntag gar nicht zur Wahl, und trotzdem dreht sich vor der Wahl alles um ihn, seine Ambitionen und seine Machtfülle. Seine AKP hat im Juni knapp 41 Prozent erreicht und wurde mit weitem Abstand stärkste Kraft im Parlament. Viele Menschen stellen sich vor dem neuen Urnengang die bange Frage: Was passiert, wenn das Wahlergebnis vom Sonntag im Wesentlichen dem Wahlergebnis vom Juni gleicht? Zahlreiche Umfragen deuten darauf hin. Die AKP pendelt zwischen 39 und 43 Prozent, die HDP dürfte wieder über die Zehn-Prozent-Hürde kommen.
"Es wird für ihn immer enger ..."
... sagt Midhat Sancar. Der Professor für Staatsrecht an der Uni Ankara bewirbt sich erstmals für die HDP um einen Parlamentssitz.
"Entweder muss er aufgeben und sich zurückziehen, d.h. eine normale Stellung, wie sie unsere Verfassung für einen Staatspräsidenten vorsieht, annehmen bzw. hinnehmen, oder weiter zwingen. Zwingen heißt in der Türkei und in der Region immer, eskalieren lassen."
Seit der für die AKP und Präsident Erdoğan unbefriedigend verlaufenen Juni-Wahl eskaliert die Lage in der Türkei. Traurige Höhepunkte waren der wiederaufgeflammte Konflikt mit der verbotenen PKK sowie der Terroranschlag von Ankara mit mehr als 100 Toten.
Es habe eine Demonstration gegeben, berichtet ein Augenzeuge in Ankara. Zwei Bomben seien kurz hintereinander explodiert und viele Menschen seien in Mitleidenschaft gezogen worden. Es sollte eine Friedensdemonstration werden. Aufgerufen hatten linke Gruppen, Gewerkschaften und die linksliberale prokurdische HDP. Deren Vorsitzender Selahattin Demirtaş erhebt schwere Vorwürfe.
Sprecher 1: Die Bilanz ist verheerend. Es ist ein niederträchtiger Anschlag. Wir fragen uns: Ist es überhaupt möglich, dass der Staat, dessen Nachrichtendienst so effizient arbeitet und der uns Tag und Nacht abhört und verfolgt, keinerlei Hinweise auf diesen Anschlag hatte? Wir stehen einer mafiösen, für alle ersichtlich serienmordenden Staatsgesinnung gegenüber.
Die Türkei ist momentan ein zutiefst gespaltenes Land
Die Türkei ist momentan auf eine Weise ein zutiefst gespaltenes Land, die für viele noch im Frühjahr für unvorstellbar gehalten worden ist. Die Zeit hat nicht für Ankara gearbeitet. Der noch im Frühjahr für möglich gehaltene Friedensprozess hat vor allem der HDP genutzt. Das ist eine der bitteren Erkenntnisse, mit denen die AKP durch die Wahlschlappe vom 7. Juni konfrontiert wurde. Und noch etwas gibt die Publizistin Nurcan Baysal zu bedenken:
"Ich habe erwartet, dass der Friedensprozess irgendwann kollabieren wird. Hier in der Region sehen wir, dass es nicht voran geht. Die PKK und die kurdische Seite sehen den Friedensprozess als Möglichkeit, eine neue Gemeinschaft aus Türken, Kurden, Syriani und anderen sowie eine Gemeinschaft aus Frauen und Männern zu formen. Der Staat sieht im Friedensprozess vor allem die Entwaffnung der PKK."
Fünf Monate politische Stagnation und wachsende Verunsicherung in der Türkei, um dem Volk, wie Präsident Erdoğan es ausdrückt, die Möglichkeit zu geben ...
Sprecher 2: ... den Fehler vom 7. Juni zu korrigieren.
Der Wahlerfolg der prokurdischen HDP, die auch von vielen liberalen und linken Türken gewählt worden ist, hätte eine neue Phase der türkischen Politik einleiten können. Bis jetzt hat er vor allem restaurative Kräfte und böse Geister der Vergangenheit geweckt. Was, wenn die HDP an der Zehn-Prozent-Hürde scheitert?
"Eine Wut und Zorn wird explodieren und viele werden denken, dass die Ergebnisse durch Betrüger verfälscht worden sind."
Bürgerkrieg? Der Staatsrechtler hält das für unwahrscheinlich
Und dann? Offener Bürgerkrieg in der Türkei? Der Staatsrechtler Midhat Sancar hält das für unwahrscheinlich:
"Ich glaube, der gesunde Verstand der Gesellschaft in der Türkei findet immer Lösungen und Wege zur Normalisierung. Diesmal wird es auch so sein. Bürgerkrieg ist für mich ein Wort, das für die Türkei nicht einfach auszusprechen ist."
Die Publizistin Oya Baydar schließt sich dieser Auffassung an und ergänzt:
"Ich möchte etwas Optimistisches sagen. Trotz allem gibt es in der Türkei eine freiheitliche, demokratische und laizistische Ader, und diese Ader ist stark. Die demokratischen Kräfte in der Türkei sind stark genug, um sich dagegen zu wehren. Wichtig ist nur, dass sich die demokratische kurdische Bewegung, also die HDP, mit diesem demokratischen Block (in der Gesellschaft) vereint. Dann kann man einheitlich aus einem Munde rufen: (Erdoğan) wir werden Dich nicht zum Diktator machen!"
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