Türkei

Proteste inspirieren die Poeten

Türkische Bürger schreien Slogans am ersten Tag des Ramadan - die Gezi-Proteste gegen die türkische Regierung am 09 Juli 2013 in Istanbul.
Die Gezi-Proteste haben alles verändert und wurde ein entscheidender Entwicklungsmoment für ein Land. © dpa / picture alliance / Georgi Licovski
Von Ceyda Nurtsch · 07.08.2014
Seit den Gezi-Protesten in der Türkei ist mittlerweile ein Jahr vergangen. Die Literatur erlebte in der Folge einen Aufschwung: Junge Lyriker suchen nach Formen einer kritischen, ironischen Dichtung. Fünf Dichter, die bei den Protesten in Istanbul dabei waren, beschreiben die neue türkische Lyrikszene.
Im Istanbuler Gezi Park sitzt Kaan Koc im Schatten eines Baumes und zündet sich eine Zigarette an. Der 28-jährige blonde Mann mit tätowiertem Unterarm gehört zu der neuen Generation von Dichtern in der Türkei. Bei den Protesten um den Gezi-Park, der zum Symbol der Regierungsopposition geworden ist, war er selbstverständlich mit dabei. Von einer Euphorie hat er sich aber nie mitreißen lassen. Vielmehr beobachtet er die Entwicklung - auch die der politischen Opposition - sehr kritisch.
"Bis zu einem gewissen Grad waren die Proteste positiv. Aber leider haben wir als Volk keine Disziplin was die oppositionelle Haltung betrifft. Wir sind bequem. Wenn es uns misslingt, uns dem Patriarchat oder einer Autorität zu widersetzen, dann werden wir weich. Das ist auch im letzten Sommer geschehen."
So kritisiert er, dass der Humor, der die Proteste im vergangenen Sommer auszeichnete, und der die Zeitschriften beherrschte, auch heute noch bis ins endlose ausgereizt wird.
Dass die Proteste vorerst ohne sichtbare Folgen für das gesellschaftliche Leben geblieben sind, entmutigt ihn jedoch nicht. Auch nicht das an einer Häuserwand am Taksimplatz aufgespannte riesige Konterfei von Ministerpräsident Erdogan mit dem Spruch: "Der Wille der Nation" an der Stelle, an der letztes Jahr die Proteste stattfanden. Die kreative Saat, die während des letzten Sommers gesät wurde, wird aufgehen und sich im gesellschaftlichen, politischen und im künstlerischen Bereich zeigen - da ist er sich sicher. Allerdings:
"Die Produktivität in der Kunst wird auf jeden Fall zunehmen. Das hat sie schon getan. Aber die wirklichen Auswirkungen werden wir erst später sehen. Jetzt gibt es schlechte Filme und schlechte Bücher, Werke, die den Protest ausschlachten, nur um sich zu verkaufen. Ihre Zahl wird noch zunehmen."
Verlangen nach Literatur wächst
Dass sich die Dynamik der Gezi-Proteste noch entfalten wird, denkt auch Mehmet Altun. Der 37-jährige kurdisch stämmige Dichter ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichtswissenschaft an der Universität Istanbul und Herausgeber. Die meisten seiner Gedichte schreibt er auf Türkisch. Einige auf Kurdisch. Gezi war keine Sommerliebe, sagt er. Gezi war eine Lektion für die Regierung.
"Es stimmt, Gezi hat die Regierung nicht verändert, aber es hat ihr gezeigt, wie stark sie sich gegenüber einem Teil der Gesellschaft erneuern muss, wie viel sie ausbessern muss und es hat ihr eine Grenze gezeigt, die sie nicht überschreiten darf."
Die größte gesellschaftliche Auswirkung der Proteste besteht für ihn aber darin, dass die Menschen Dichter und Schriftsteller wie Turgut Uyar oder Oğuz Atay wiederentdeckt haben. Aber auch Werke wie das Schahname, das persische Nationalepos des Dichters Firdausi. Das Verlangen nach Literatur, die den realen Umständen Rechnung trägt, wächst, sagt er. So werden Verszeilen als destillierter Ausdruck eines bestimmten Gefühls, das seine Entsprechung in der Realität hat, seit letztem Sommer über Twitter, aber auch als Graffiti verbreitet.
"Ich erinnere mich an ein Graffiti: Bei Gezi bin ich der Selbstmord des Jessenin. Würde man alle Graffiti zusammennehmen, hätte man eine lückenlose Anthologie. Hinter jedem Vers verbarg sich eine tiefe Bedeutung und gleichzeitig eine konkrete Praxis, die auch durch Kameraaufnahmen archiviert wurde."
Weniger Angst vor Polizeigewalt
So hat die Literatur den Protesten ein Gesicht gegeben und gleichzeitig durch sie Aufwind bekommen. Onur Behramoğlu ist Ende 30, Übersetzer und Autor. Er ist davon überzeugt, dass sich die Proteste auf die zeitgenössische Dichtung auswirken werden. Für ihn ist Dichtung Protest, und der Dichter kann nicht anders, als sich mit politischen Missständen auseinanderzusetzen.
Dass aus diesem Grund das Verlangen nach einer realitätsbezogeneren Dichtung steigt, denkt auch Gökcenur Celebioglu. Der 43-jährige Mann mit freundlichem Gesicht ist Ingenieur und hat mehrere Gedichtbände herausgebracht. Die Unzufriedenheit vieler Menschen etwa über Veränderungen beim Alkohol- und Abtreibungsgesetz und die als bevormundend empfundene Art des Ministerpräsidenten Erdogan wird direkte Auswirkungen auf die neue Dichtung der Türkei haben, denkt er.
"Das türkische Gedicht nach Gezi wird sich die gesellschaftsbezogene Dichtung, die sie in den letzten Jahren islamistischen Dichtern überlassen hatte, wieder aneignen und politischer dichten."
Doch auch gesellschaftlich hat sich für ihn im letzten Jahr etwas verändert. So hätten Jugendliche hätten weniger Angst vor Polizeigewalt und Autorität als die vorigen Generationen. Dass Gezi nicht nur eine neue Literaturepoche, sondern eine neue gesellschaftliche Ära eingeläutet hat, denkt auch die in Izmir lebende Neslihan Yalman. Sie ist eine der wenigen Dichterinnen der Türkei. Sie thematisiert Tabuthemen wie weibliche Erotik, Abtreibung und Gebärfähigkeit und setzt sich mit den männlichen Eigenschaften der Sprache auseinander. Sie ist sich sicher: Die neue Dichtung in der Türkei wird kritischer, ironischer und auch melodischer. Und die Gesellschaft über kurz der lang bunter - ungeachtet der Präsidentschaftswahlen.

Hinweis: Hören Sie ein Gespräch mit Selma Wels, einer Verlegerin türkischer Literatur in deutscher Übersetzung. In ihrem Berliner binooki Verlag erschien "Gezi - eine literarische Anthologie". Wels spricht darüber, was von der gesellschaftlichen Utopie nach den Gezi-Protesten geblieben ist. Welche Wirkungen haben die Proteste des vergangenen Jahres erzielt?

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