Türkei

Aus Hass und Angst

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Männer tragen den Sarg des Deutschen Tilmann Geske auf dem Friedhof im türkischen Malatya am 20. April 2007. © picture alliance / dpa
Von Marie Wildermann · 14.09.2014
Im April 2007 folterten und ermordeten fünf Männer einen christlichen Verleger und zwei seiner Mitarbeiter. Sieben Jahre nach der Tat sind die Männer noch nicht rechtskräftig verurteilt. Offenbar handelten sie nicht im Alleingang.
Ende der 1990er Jahre zieht das Pastorenpaar Tilman und Susanne Geske mit den Kindern in die Türkei. Das Paar ist in einer evangelisch-freikirchlichen Gemeinde in Süddeutschland sozialisiert und sieht seine Berufung darin, in der Türkei eine christliche Gemeinde aufzubauen. Religionsfreiheit bedeutet für die Geskes nicht nur, den eigenen Glauben zu leben, sondern auch, ihn weiterzugeben. Im ostanatolischen Malatya findet die Familie ein neues Zuhause.
Die Geskes mögen das Klima und die Landschaft, die berühmt ist für den Aprikosenanbau, sie lernen Türkisch und bauen gute Kontakte auf zu Nachbarn und Bekannten. Doch dann kommt der Tag, der alles verändert: der 18. April 2007.
Tilman Geske und seine beiden türkischen Mitarbeiter werden im Büro ihres christlichen Verlages in Malatya am helllichten Tag vorsätzlich und gezielt getötet, regelrecht abgeschlachtet. Noch kurz vor der Tat hatte Susanne Geske mit ihrem Mann gesprochen
"Um halb elf hab ich meinen Mann noch getroffen, kurz darauf müssen die Jungs gekommen sein, haben sich hingesetzt, sozusagen mit denen geschwätzt und irgendwann ist es umgeschlagen, sie haben angefangen, sie zu fesseln, mit dem Messer zu bedrohen und dann haben sie einen nach dem andern abgestochen, so mit diesem Schächterschnitt umgebracht."
Die Mörder - nur Handlanger?
Einem Zufall ist es zu verdanken, dass die Polizei umgehend am Tatort ist und die Mörder, denen das Blut noch an den Händen klebt, festnehmen kann. Fünf junge Männer. Eigentlich ist die Beweislage eindeutig und auch das Tatmotiv scheint auf der Hand zu liegen: Religiöser Fanatismus. Doch schon bei der ersten Gerichtsverhandlung zeigt sich, dass die Täter nicht aus eigenem Antrieb handelten, sondern dass eine ganze Reihe von Drahtziehern hinter den Anschlägen stand
"Die Tatsache, dass diese jungen Leute allerdings enge Verbindungen hatten zu ultranationalistischen, ultrakemalistischen Netzwerken wie den Grauen Wölfen, dass sie Kontakte hatte zu Akademikern, die intensive Forschungsprogramme genau zu jener Zeit in enger Zusammenarbeit mit der Gendarmarie vor Ort gemacht haben über Missionare, dass es eine ganze Reihe von Zeugen gab, die vor Gericht ausgesagt hat, dass tatsächlich Verbindungen bestanden haben sollen zwischen der Gendarmarie, also einem Teil des Sicherheitsapparates und diesem Mord, und das Ganze vor dem Hintergrund einer Kampagne gegen Minderheiten, die 2007 ihren Höhepunkt erreichte, gegen Christen, gegen Missionare, all das zusammen machte von Anfang an klar, dass es sich hier nicht einfach um ein normales Verbrechen von diesen jungen Leuten handelt, sondern dass es tiefere Wurzeln hat."
Christenfeindliches Klima
Gerald Knaus ist Leiter der European Stability Initiative, einer Denkfabrik, die sich vor allem auf die Analyse des osteuropäischen Raums spezialisiert hat. Sie wird von Stiftungen und einigen europäischen Regierungen finanziert. Zu den Hintergründen der Christenmorde in der Türkei hat sie einen umfangreichen Bericht herausgegeben. Demnach gab es in den Jahren 2001 bis 2009 eine breit angelegte antichristliche Kampagne in der Türkei, an der sich ultranationalistische Journalisten, Juristen und Geschäftsleute ebenso beteiligten wie Schlüsselfiguren aus Polizei und Militär.
Es ist dieses christenfeindliche Klima, in das Susanne und Tilman Geske geraten, als sie sich Anfang der 2000er Jahre in Malatya niederlassen. Als der EU-Beitrittsprozess 2005 beginnt, verschärft sich die antichristliche Stimmung. Der katholische Priester Andrea Santoro, der Bischof von Anatolien Luigi Padovese und der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink sind nur einige der Opfer. Die Welle der Gewalt gegen Christen erreicht 2007 mit den Morden von Malatya einen vorläufigen Höhepunkt.
Gründungsmythos der Republik sieht Christen als Verräter
Den Zusammenhang zwischen Christenmorden und EU-Beitrittsprozess erklärt Gerald Knaus mit dem Gründungsmythos der türkischen Ultranationalisten. Der Mythos entstand in der Zeit der Gründung der türkischen Republik. Aus Sicht der Ultranationalisten hatte sich damals im Krieg 1919-1922, der zur Gründung der Republik führte, die ganze Welt gegen die Türkei verbündet. Die Christen galten als Verräter.
"Sie waren Agenten ausländischer aggressiver Kräfte, eines aggressiven Europas, das die Türkei schwächen wollte. Der Sultan, die Regierung in Istanbul war verbündet mit den europäischen Feinden, und nur die ultranationalistischen Kräfte im Land und die Sicherheitskräfte im Land haben die Türkei gerettet. Dieser Mythos, der wurde nach 2004 wiederbelebt."
Denn im EU-Beitrittsprozess, der 2005 beginnt, lauten die Forderungen an die Türkei unter anderem: Das Militär muss unter zivile Kontrolle, die Justiz braucht eine umfassende Reform, und Gesetze, die Minderheiten benachteiligen, müssen geändert werden. In den Augen der Ultranationalisten führen die Forderungen der EU zu einer Schwächung der Türkei. Die Christen werden als gefährliche Agenten diffamiert, die die Türkei spalten wollen.
Ultranationalisten wollen Erbe des Unabhängigkeitskrieges retten
Dass Ultranationalisten in die Malatya-Morde verwickelt sind, dafür spricht auch die Tatsache, dass zu den fünf Hauptangeklagten im Malatya Prozess im Laufe der Jahre eine ganze Reihe weiterer Angeklagter gekommen ist. Viele von ihnen aus dem Terrornetzwerk Ergenekon. Viele Mitglieder dieses so genannten "tiefen Staats" wurden seither wegen geplanten Regierungsumsturzes verhaftet. Unklar ist bis heute, welche Rolle sie im Fall Malatya spielten, und wer welche Morde in Auftrag gegeben hat.
"Es gab Vereine in Istanbul, es gab die, also ultranationalistische Vereine von Rechtsanwälten, es gab Verbände von Akademikern, es gab Gruppen von ehemaligen Soldaten, es gab in den Jahren, von denen wir hier sprechen, als die Malatya Morde stattfanden, staatlich respektable Organisationen wie die staatliche Handelskammer in Ankara, die Berichte über die Gefahr von Missionaren herausgegeben hat."
Allen Gruppen gemeinsam ist die Ideologie, dass die Türkei sich mit dem angestrebten EU-Beitritt in der größten Gefahr seit der Staatsgründung befinde: Alle Feinde der Türkei – die eigene Regierung, die EU, die Kurden, die Christen, ja selbst die islamische Partei AKP des türkischen Präsidenten Erdogan – hätten sich verbündet, um das Land zu schwächen.
"Und wer das Erbe des Unabhängigkeitskrieges retten wollte – und alle diese Gruppen hatten dieses gemeinsame Ziel – der musste die vermuteten Feinde der Türkei bekämpfen"
Geskes wurden von Anfang an beobachtet
Die Aussagen im mittlerweile siebenjährigen Gerichtsprozess mit mehr als 30 Gerichtsverhandlungen gegen die Malatya-Mörder haben deutlich gemacht, dass es Verbindungen geben muss zwischen den Christenmorden und dem Ergenekon-Terrornetzwerk.
Tilmann Geske, der als evangelisch-freikirchlicher Pastor mit seiner kleinen Familie nach Malatya gekommen war, ahnte nicht, welche Gefahr ihm drohte. Wie man heute weiß, standen die Christen von Anfang an unter Beobachtung. Gerald Knaus:
"Mehrere Dinge sind klar. Das eine ist, dass diese kleine Gruppe, diese Missionare, es handelte sich ja wirklich um eine handvoll Leute, die Christen in Malatya, unter extremer Beobachtung standen, die ganze Zeit, es gab sehr viele Leute in der Gendarmerie, deren Aufgabe es war, diese vermuteten Feinde der Türkei zu beobachten."
Nach der Ermordung ihres Mannes hat Susanne Geske von ihren Nachbarn und Bekannten in der Türkei viel Hilfsbereitschaft erfahren und große Anteilnahme.
Geske: "Der Durchschnittstürke, würd ich mal sagen, der sagt, das ist außerhalb jeder menschlichen Vorstellung, keine Religion sagt, dass man sowas tun soll, weil es ja als religiöse Tat dargestellt worden ist, was es nicht war."
Ehefrau vergibt den Mördern
Als Susanne Geske am Tag der Ermordung ihres Mannes vor sieben Jahren vor die Presse trat, warteten alle gespannt auf ihr Statement. Was würde sie sagen? Würde sie enttäuscht die Türkei verlassen? Würde sie sich anklagend verhalten? Sie stand unter Schock, wusste zunächst gar nicht, was sie sagen sollte.
"Und dann ist mir das Wort von Jesus in den Sinn gekommen, also was Jesus am Kreuz gesagt hat: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Dann hab ich's aufgeschrieben auf Türkisch, damit es halbwegs normal klingt und hab dann eben mein Statement gesagt, dass ich eben Christ bin und die christlichen Werte und das, was Jesus getan hat, dass es meine Pflicht ist, das auch zu tun. Und dass ich eben den Mördern vergebe."
Der Prozess gegen die Mörder von Malatya und ihre Drahtzieher dauert bis heute an. Rechtskräftig verurteilt ist bislang niemand, zu verworren ist das Geflecht der Beteiligten, zu undurchschaubar das Netzwerk von Ergenekon, dem sogenannten "tiefen Staat".
Seit Anfang dieses Jahres sind sogar die Mörder nicht mehr in Haft, sondern stehen unter Hausarrest. Nach einer Gesetzesänderung dürfen Angeklagte nicht länger als fünf Jahre in der Untersuchungshaft festgehalten werden. Hass und Rachegefühle gegenüber den Mördern ihres Mannes hat Susanne Geske bis heute nicht, wie sie sagt. Sie möchte aber, dass die Mörder nach Recht und Gesetz verurteilt werden.
Trotz allem ist die Pastorenfrau mit ihrer Familie in der Türkei geblieben, ihre Kinder sind dort aufgewachsen, werden dort studieren. Das Land, sagt sie, ist ihre Heimat geworden.
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