Tscherkessen

"Erste ethnische Säuberung in Europa"

Krasnaja Poljana: einst tscherkessisch besiedelt, jetzt ein Austragungsort der Winterspiele
Krasnaja Poljana, ein Austragungsort der Winterspiele, war einst tscherkessisch besiedelt. © picture-alliance / dpa / Michael Kappeler
Moderation: Britta Bürger · 03.02.2014
Russland feiert sich mit den Olympischen Spielen in Sotschi, doch die Tscherkessen prangern die Tragödie ihres Volkes vor 150 Jahren an. Der Buchautor Manfred Quiring fordert von den Sportfunktionären, das Thema bei jeder Gelegenheit anzusprechen.
Britta Bürger: Weil das Meer vor Sotschi vor 150 Jahren einem Leichenbad glich, sollen die meisten Tscherkessen bis heute keinen Fisch essen. Ihr Volk wurde damals von den russischen Machthabern vertrieben, brutal ermordet. Die Olympischen Winterspiele, die am Freitag in Sotschi beginnen, werden also auf einem großen Friedhof ausgetragen, so sehen es viele Tscherkessen, die heute verstreut in allen Teilen der Welt leben.
Der Journalist Manfred Quiring hat diesen vergessenen Völkermord jetzt in einem Buch aufgearbeitet. Er hat über 20 Jahre lang in Moskau gelebt und gearbeitet, unter anderem als Korrespondent für die "Berliner Zeitung" und "Die Welt". Willkommen im Radiofeuilleton, Herr Quiring!
Manfred Quiring: Schönen guten Tag!
Bürger: Die Tscherkessen, die sich unter anderem in der Gruppe "No Sotchi" zusammengeschlossen haben, die sagen, die Olympischen Spiele würden auf den Gebeinen ihrer Vorfahren ausgetragen. Kann man das so sagen?
Quiring: Nun, man kann sicher sagen, dass das eine symbolische Aussage ist. Es haben in Sotschi, um Sotschi herum die letzten Schlachten mit den russischen Truppen stattgefunden, mit den Kosaken. Insbesondere oberhalb von Sotschi, in Krasnaja Poljana, dort hat es die letzte Schlacht gegeben, im Aygo-Gebirge. Die dauerte vier Tage und endete mit der vorauszusehenden Niederlage der letzten verbliebenden Widerstandskräfte der Tscherkessen.
Bürger: 1864.
Quiring: 1864, und der Zar beziehungsweise sein Statthalter vor Ort ließ eine Parade veranstalten am 21. Mai 1864, eine Siegesparade, wo der großartige Sieg über die Tscherkessen nach einem hundertjährigen Krieg im Kaukasus begangen wurde.
Bürger: Sie sind tief zurückgestiegen in die Geschichte dieses kaukasischen Reitervolkes. Sie haben die Region als Korrespondent über die Jahre immer wieder bereist. Warum hat Sie die Geschichte der Tscherkessen nie losgelassen?
"Das Land der Tscherkessen war einst auf jeder Landkarte"
Quiring: Der Kaukasus an sich ist eine Region, ein Gebirge von gewaltiger Faszination. Dort leben Dutzende verschiedene Völker, Dutzende verschiedene Sprachen und Kulturen sind in einem relativ kleinen Raum - immerhin 1000 Kilometer ist der Kaukasus lang - zu Hause. Innerhalb dieser vielen Völker, die dort existieren, sind die Tscherkessen das größte Volk eigentlich. Und das Faszinierende für mich war, dass sie praktisch aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind. Das Land Tscherkessien, das im 19. Jahrhundert auf jeder Landkarte zu finden war, gibt es nicht mehr. Die Tscherkessen kennt man nicht mehr. Gegen dieses Vergessen wollte ich anschreiben.
Bürger: Wo lag dieses Land, wie viele Menschen haben dort gelebt noch Mitte des 19. Jahrhunderts?
Quiring: Man kann von ein bis zwei, eineinhalb Millionen ausgehen, weil natürlich in dem wilden Gebirge, in dem unkontrollierten Gebirge natürlich niemand genau wusste, wie viele da tatsächlich leben, und es keine Volkszählung natürlich gab. Und das Gebiet, in dem direkt die Tscherkessen lebten, erstreckte sich praktisch von dem Ort, wo heute Grosny liegt, westlich bis zum Asofschen Meer, im Norden begrenzt von den Steppen. In den Steppen haben sie natürlich auch gelebt, ihre Pferde dort und ihr Vieh geweidet. Und im Süden bis zur Küste des Schwarzen Meeres, wo die Stämme, die dort lebten, unter anderem auch Piraterie getrieben. Also, sie sind nicht nur ein Reitervolk.
Bürger: Wie gut ist diese Geschichte dokumentiert und erforscht?
Quiring: Es fängt jetzt erst an, muss man sagen. Es hat wenig wissenschaftliche Forschungen gegeben vor dem Ende der Sowjetunion. Dort gab es einen Kanon "Das ist das Volk, das sich uns freiwillig angeschlossen hat", und damit endete es. Das weitere Zurückgehen in die Vergangenheit findet erst jetzt oder fand statt, ist aber schwierig, weil viele der Relikte aus diesen Jahrtausende zurückliegenden Zeiten natürlich nur schwer zu finden sind, und heute durch Unachtsamkeit oder auch durch Böswilligkeit zerstört werden.
Bürger: Und es gab wohl keine gemeinsame Schriftsprache?
Quiring: Das kommt erschwerend hinzu. Die Tscherkessen bekamen erst in den 1930er-Jahren eine Schriftsprache auf der Basis des Kyrillischen. Bis dahin wurde die gesamte Geschichte mündlich weitergegeben.
Bürger: Sie zitieren in ihrem Buch den deutschen Orientalisten Karl-Friedrich Neumann, der die Tscherkessen kurze Zeit vor diesem Völkermord, nämlich 1840, in einem Buch charakterisiert hat, und er schreibt da: "Ihre niedrigen, aber freien Hütten schätzen sie mehr denn die Paläste, über die ein Einzelner nach Willkür gebietet. Die schlechte Nahrung dünkt ihnen schmackhafter denn die Leckerbissen der Höflinge des Schahs, des Kaisers und des Zars." Das betten Sie ein in diesen enormen Unabhängigkeitsdrang, den die Tscherkessen gehabt haben müssen. Woher kam der?
"Ihre Lebensweise verteidigten sie bis aufs Letzte"
Quiring: Sie haben sich im Laufe der Jahrhunderte, noch als man sie gar nicht Tscherkessen nannte, sondern ihre Vorgängervölker, die dort siedelten, aus denen dann die Tscherkessen hervorgingen, sie hatten sich immer mit Eindringlingen herumzuschlagen. Es kamen die Goten, es kamen die Tataren. Sie mussten sich also ständig zur Wehr setzen und taten das mit einer großen Geschicklichkeit und mit einem großen Kampfesmut. Und das prägte sie natürlich über Jahrhunderte, und auch das Gefühl, dass sie, wenn sie sich zur Wehr setzen, dass sie dann auch Erfolg haben werden. Und sie wollten ihre Lebensweise immer wieder bewahren und verteidigten sie bis aufs Letzte.
Bürger: "Der vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen". Vor dem Beginn der Olympischen Winterspiele an diesem historisch belasteten Ort führt uns der Publizist Manfred Quiring hier im Deutschlandradio Kultur zurück in die lange Geschichte dieses kaukasischen Volkes. Haben denn, Herr Quiring, die Russen dieses eben beschriebene Unabhängigkeitsstreben der Tscherkessen auch als Bedrohung empfunden?
Quiring: Das haben sie sehr wohl. Sie hatten unter Iwan Grosny noch, im 16. Jahrhundert versucht, ein Bündnis mit einem Teil der Tscherkessen zu schließen. Iwan IV., der Schreckliche, heiratete sogar die Tochter eines kabardinischen Fürsten. Daran kann man zumindest erst mal erkennen, für wie wichtig damals das Volk der Tscherkessen gehalten wurde, für wie wichtig es der Zar betrachtete. Dieses Bündnis zerfiel, und für Russland stellte sich nun heraus, dass die Tscherkessen eine Barriere bildeten für die Expansionspläne der Zaren nach Süden. Die Zaren hatten immer den großen Traum gehabt, an die Küste des Schwarzen Meeres vorzudringen und von dort entweder das osmanische Reich anzugreifen oder Persien oder beide zugleich. Die Tscherkessen wollten den Kaukasus bewahren so, wie er ist, die Russen wollten sie unterwerfen, und wenn das nicht gelingt, dann eben die Vertreibung.
Nach einem langen und opferreichen Kampf, den im Osten der Imam Schamil führte, unterlagen die Truppen des Schamil. Schamil geriet in Gefangenschaft, und von da an, das war 1858/59, von da an wurden die Truppen, die im Osten standen, die russischen Truppen, frei, um nun auch im Westen die Tscherkessen in die Knie zu zwingen. Und das kulminierte dann in der wilden Vertreibungsorgie ab 1861, wo mit dem Prinzip der verbrannten Erde vorgegangen wurde und die Tscherkessen erschlagen wurden, die Dörfer wurden niedergebrannt, die Ernte zerstört, und sie wurden nach und nach aus dem Kaukasus verdrängt. Die Reste von ihnen wurden an der Küste versammelt und wurden zwangsweise in die Türkei vertrieben. Es war die erste ethnische Säuberung in Europa von diesem Ausmaß.
Bürger: Heute leben die Tscherkessen in allen Teilen der Welt. Welches Verhältnis haben sie zu ihrer Heimat? Gibt es da konkrete Forderungen an Russland?
"Sotschi spielt für sie eine große symbolische Rolle"
Quiring: Es gibt mehrere Forderungen, die sie erheben, die aber innerhalb der Diaspora unterschiedlich bewertet werden. Sie hatten vorhin schon erwähnt die Bewegung "No Sotchi". Diese Bewegung hatte sich darauf kapriziert, gegen Sotschi als Olympia-Ort vorzugehen und hat das in das Zentrum ihres Kampfes gestellt. Das sehen viele Tscherkessen in Russland nicht so, und das sehen auch viele Tscherkessen, die hier in Deutschland leben, nicht so. Sie sind natürlich tief betroffen davon, dass gerade an dem für sie heiligen Ort, das ist mehr ein symbolischer Ort ... Es gibt andere Orte, wo es viel brutalere Kämpfe vorher noch gegeben hatte, die sind aber nicht so verankert im Bewusstsein. Sotschi spielt dort für sie die große symbolische Rolle. Und da sind sie natürlich total dagegen, dass da die Olympischen Spiele stattfinden.
Aber, sagen sie, wenn sie denn schon stattfinden und wir das nicht verhindern können, was ja offensichtlich ist, dann wollen wir dort angemessene Repräsentation. Wir möchten eine angemessene Rolle dort spielen. Man soll daran erinnern, dass es uns gibt. Und da sind sie zutiefst beleidigt, betroffen, zutiefst betroffen, vielleicht ist das das bessere Wort, davon, dass sie praktisch keine Rolle spielen, dass sie als Urbevölkerung dort nicht als Urbevölkerung figurieren. Sondern die Urbevölkerung sind die Kosaken, nämlich die, die sie aus ihrem Land vertrieben haben. Und das ist natürlich eine völlige Umkehrung der geschichtlichen Tatsachen, und dagegen machen die Tscherkessen Front.
Bürger: Russland scheint in keiner Weise zu einer Versöhnungsgeste bereit zu sein, anders etwa als bei den Olympischen Spielen in Sidney und Vancouver, wo man ja von offizieller Seite aus auf die indigenen Völker zugegangen ist. Wie sollten sich denn jetzt zum Beispiel auch die Olympiateilnehmer verhalten, denn im Gespräch sind die Tscherkessen ja nun so oder so trotzdem.
Quiring: Die Olympiateilnehmer sollten sich sicher bewusst sein, wo sie sich befinden, und von den Funktionären erwarte ich allerdings, dass sie dieses Problem bei jeder Gelegenheit ansprechen und von der russischen Seite Erklärungen abfordern. Das ist das Mindeste, was man von Funktionären erwarten kann.
Bürger: Sagt der Publizist und langjährige Russland-Korrespondent Manfred Quiring. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch! "Der vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen" ‒ das Buch von Manfred Quiring ist im Christoph Links Verlag erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.