Trittin: Scheitert Schwarz-Gelb in der Euro-Frage, sind Neuwahlen fällig

19.09.2011
Wenn die schwarz-gelbe Koalition in der Europapolitik nicht mehr handlungsfähig sei, werde sie es nicht vermeiden können, sich den Wählern zu stellen, sagt der Vorsitzende der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Jürgen Trittin.
Hanns Ostermann: Ein Superwahljahr ist da zu Ende gegangen: Klammert man drei Kommunalwahlen aus, dann wurden insgesamt sieben Landesparlamente neu gewählt. Gestern ging es um das Abgeordnetenhaus in Berlin. Womit zu rechnen war: Die Sozialdemokraten stellen auch künftig den Regierenden Bürgermeister. Klaus Wowereit hat die Wahl, mit wem seine Partei eine Koalition eingehen kann. Die Linke hat verloren, die CDU vertritt in vielen Fragen andere Positionen, bleiben also nur die Grünen, die auf 17,6 Prozent gekommen sind. Am Telefon ist der Fraktionschef der Grünen im Bundestag, Jürgen Trittin. Guten Morgen, Herr Trittin!

Jürgen Trittin: Guten Morgen, Herr Ostermann!

Ostermann: Sie haben das drittbeste Ergebnis bei Landtagswahlen erzielt, aber eigentlich wollten Sie doch die erste grüne Bürgermeisterin stellen. Warum hat es dafür nicht gereicht?

Trittin: Wir haben am meisten von allen im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien gewonnen, anders als Herr Wowereit haben wir deutlich zugelegt, und wir haben das beste Ergebnis in der Geschichte der Grünen in Berlin erreicht. Das ist für uns ein Tag der Freude. Dass man sich manchmal mehr vornimmt, ist klar, aber wenn man sich nicht mehr vornimmt, erreicht man nicht das, was wir jetzt erreicht haben.

Ostermann: Herr Trittin, haben Sie nicht trotzdem eine Chance verspielt, denkt man an Umfragen, die einige Monate zurückliegen? Haben Sie Themen oder Wählergruppen möglicherweise vernachlässigt?

Trittin: Es ist interessant, dass Sie mir diese Frage stellen, weil die stellt man normalerweise Leuten, die verloren haben. Die könnten Sie Herrn Wowereit stellen, die können Sie der Linken stellen, die nicht mehr miteinander regieren können. Für uns kann ich nur sagen, wir haben mehr Leute überzeugt als je zuvor, die Berliner wollen grüne Politik, und das ist das Signal, was von dieser Wahl ausgeht, und insofern wird man jetzt in Auseinandersetzung gehen mit der SPD darüber, wie diese Stadt regiert werden soll. Und es wird eine zweite Auseinandersetzung stattfinden, nämlich mit der Bundesregierung. Dieses Ergebnis der Berlinwahl ist: Die FDP ist nicht mehr im freien Fall, sondern sie ist offensichtlich mittlerweile in der ungeordneten Insolvenz unter zwei Prozent gelandet an dieser Stelle, das in einer Frage, die für die Existenz nicht nur der Bundesrepublik Deutschland, sondern der Europäischen Gemeinschaft von zentraler Frage ist, in der Europapolitik absolut zerstritten. Das sind die Auseinandersetzungen, über die wir jetzt mit der Bundesregierung zu streiten haben.

Ostermann: Bleiben wir bei diesem Aspekt. Hält sich die FDP noch bis zur nächsten Bundestagswahl?

Trittin: Bis zur nächsten Bundestagswahl schon, aber sie wissen nicht, wann diese Bundestagswahl kommt. Die FDP wird sich zu entscheiden haben, ob sie in die Fußstapfen von Jörg Haider treten will oder ob sie tatsächlich weiterhin auf den Spuren von Hans-Dietrich Genscher, nämlich auf den Spuren eines geeinten Europas laufen will. Sie hat in Berlin versucht, die europopulistische Karte zu spielen und ist dafür gnadenlos abgestraft worden.

Ostermann: Auch Frau Merkel könnte sich – theoretisch jedenfalls – entscheiden. Einige sprechen jetzt von der Möglichkeit einer großen Koalition. Was dann für die Lage der Bündnis/Grünen?

Trittin: Also, ich bin eher mal der Auffassung: Wenn diese Koalition über die Euro-Frage sichtbar scheitert, dann wird es Neuwahlen geben, es wird dann auch Neuwahlen geben müssen. Eine Regierung, die vor zwei Jahren angetreten ist mit großen Versprechungen, die sich selber als Traumkoalition definiert hat, die dann in einer solch existenziellen Frage wie einem gemeinsamen Europa nicht mehr handlungsfähig ist, eine solche Regierung wird nicht drum rumkommen, sich den Wählerinnen und Wählern zu stellen.

Ostermann: Ihre Partei will die Koalition mit der SPD auch in Berlin. Aber Klaus Wowereit hat Sie ja schon davor gewarnt, Bedingungen zu stellen. Sind das die üblichen Scharmützel, oder trennt SPD und Bündnis/Grüne nicht doch Einiges?

Trittin: Wir sind unterschiedliche Parteien, aber die Frage richtet sich genauso an Herrn Wowereit: Will er in Berlin, dass 400 neue Lehrerinnen und Lehrer eingestellt werden? Möchte er, dass in Berlin die S-Bahn wieder fährt und nicht durch Busse und über Schienenersatzverkehr abgewickelt wird? Möchte er insgesamt dafür Sorge tragen, dass innenstadtnahe Quartiere nicht von sozial Schwachen entvölkert werden? Das sind all die Fragen, über die wir verhandeln. Und wenn wir in diesen Fragen zu einem positiven Ergebnis kommen, dann wird man zu einer Koalitionsvereinbarung kommen. Herr Wowereit hätte ja noch eine andere Alternative: Er könnte zurück zu den seligen Zeiten von Herrn Diepgen und Herrn Landowsky, also den Rückwärtsentwicklungen in die 90er-Jahre, und da sind wir mal gespannt, ob er diesen Weg gehen will.

Ostermann: Sie haben Klaus Wowereit Fragen gestellt – ich stelle sie im Sinne von Klaus Wowereit: Warum halten die Grünen in Berlin an einer "Käseglocke" fest – so hat er es formuliert –, warum wollen die Grünen die Stadt nicht weiterentwickeln und boykottieren möglicherweise Infrastrukturprojekte?

Trittin: Na, die Grünen sind nun gerade diejenigen, die den Muff von Rot-Rot aus dieser Stadt erfolgreich vertrieben haben. Hier hat es in der Tat in den letzten Jahren keine Stadtentwicklung gegeben. Es war Verdienst dieser Regierung, die abgewählt worden ist, die nicht dafür sorgen konnte, dass in den Baulücken Berlins beispielsweise auch von Wohnungsgenossenschaften Mietwohnungen für schwächer Verdienende errichtet worden sind. Das ist das Gegenteil von Entwicklung, was hier betrieben worden ist, sondern man hat die Stadt mit dem flotten Spruch "Arm, aber sexy" sich selbst überlassen. Wenn das Entwicklung sein soll, dann ist es gut, dass da jetzt ein grüner Wind reinbläst.

Ostermann: Renate Künast wollte mehr, das haben Sie auch zugegeben, aber es hat dann nicht gereicht. Sehen Sie sich selbst jetzt eigentlich als der starke bundespolitische Mann?

Trittin: Wir haben einen gut funktionierenden Bundesvorstand mit Claudia Roth und Cem Özdemir, und wir werden Mitte Oktober einen neuen Fraktionsvorstand wählen, und dann werden die Grünen weiter das praktizieren, was sie bei den letzten Landtagswahlen so stark gemacht hat: Wir haben in diesem Superwahljahr, ich glaube, 1,6, 1,7 Millionen Wählerinnen und Wähler zusätzlich zu uns gewinnen können, und das haben wir geschafft, weil wir in der Lage waren, im Team zu spielen, Teambildung erfolgreich praktiziert zu haben, das ist eines der Geheimnisse, warum die Grünen bei sämtlichen Wahlen dieses Jahres so gut abgeschnitten haben.

Ostermann: Über eine Überraschung gestern müssen wir noch reden, das sind die Piraten. Auch die Grünen haben ja mal klein angefangen. Sind die Piraten die neuen Grünen?

Trittin: Da müssen Sie die Piraten fragen, ich glaube, die würden sich darüber anders definieren. Mit den Piraten ist jemand in das Abgeordnetenhaus eingezogen, eine Gruppierung, die für sich offensichtlich repräsentiert den Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach Beteiligung, nach Teilhabe und nach Transparenz. Da gibt es viele Schnittmengen mit grünen Vorstellungen, und insofern fühlen wir uns dadurch jetzt nicht bedroht, sondern bestätigt. Ob die daraus ein konsistentes und tragfähiges langanhaltendes Programm entwickeln können, wird sich zeigen.

Ostermann: Jürgen Trittin, der Fraktionschef der Grünen im Bundestag. Herr Trittin, danke Ihnen für das Gespräch!

Trittin: Ich danke Ihnen, Herr Ostermann!


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