"Trinkhallen Tour Ruhr"

Free Jazz im "Kiosk Flamingo"

Ein Kunde steht vor dem Kiosk von Herr Turkut am Donnerstag (19.07.2012) in Dortmund Eving. Bier, Lakritz und Kreuzworträtsel: Kioske bietet alles für den schnellen Einkauf. Vor über 150 Jahren entstanden viele zum Verkauf von Mineralwasser. Doch die kleinen Buden sterben aus. Foto: Marcus Simai.
Trinkhallen wie diese gibt es im Ruhrgebiet zu Tausenden. Dank der "Trinhallen Tour Ruhr" werden einige von ihnen zu Konzertstätten. © picture alliance / dpa / Marcus Simaitis
Von Leonie Reineke · 22.07.2016
Trinkhallen gelten als "Wohnzimmer des Ruhrgebiets". Damit seien sie ideale Konzertstätten, fand das Bassklarinetten-Trio "Die Verwechslung" und rief die "Trinkhallen Tour Ruhr" ins Leben. Leonie Reineke war bei einem Auftritt in Dortmund dabei.
Etwas gedrängt hinter einer Eistruhe und umgeben von Süßigkeiten, Getränken und Zeitschriften spielt das Bassklarinettentrio "Die Verwechslung". Im "Kiosk Flamingo" in Dortmund bestreiten sie das dritte Konzert der diesjährigen "Trinkhallen-Tour-Ruhr". Florian Walter, Mitglied des Trios, hält den Kiosk für eine ideale Spielstätte für frei improvisierte Musik:
"Die Trinkhalle ist ja an sich so ein bisschen der soziale Mittelpunkt des Ruhrgebiets, historisch, ziemlich dicht an die Zechen angesiedelt, so als Versorgungseinheit im Prinzip. Also, das was heutzutage vielleicht der Supermarkt ist. Aber eben mit dieser sozialen Komponente."

Der Kiosk als Ort der Kommunikation und der Toleranz

Denn die meisten Kioske haben nicht nur Lauf- sondern auch Stammkundschaft. Es sind Orte der Kommunikation und der Toleranz.
"Die Geschichte des Kiosks geht zurück bis ins alte Ägypten. Und das war damals schon ein letzten Endes demokratisches Instrument, in dem Sinne, dass dort öffentliche Positionen vertreten werden konnten, und vor allem im 19. Jahrhundert und im frühen 20. war das eben ein Ort, wo man Zeitungen kaufen konnte, wo man sehr viel lokale Zeitungen auch kaufen konnte. Und in diesem Sinne erfüllt es ein demokratisches Moment."
Ähnlich demokratisch entsteht auch die Musik des Trios: Kein Dirigent macht den Musikern Vorgaben, kein festgelegter Formverlauf setzt Grenzen. Es herrscht absolute Gleichberechtigung und jeder reagiert auf jeden.

Interaktion mit dem Publikum

Der Trompeter Markus Türk war bei der "Trinkhallen-Tour-Ruhr" als Gastkünstler eingeladen. Und obwohl er nicht regelmäßig mit dem Trio zusammen spielt, entwickelte sich automatisch eine gemeinsame musikalische Sprache:
"Ich höre was und steig da irgendwie drauf ein, intuitiv, entweder dadurch, dass ich das erwidere, dass ich eine Antwort darauf gebe oder dass ich dem was entgegensetze oder dass ich das begleite. Aber es gibt natürlich eine lange Tradition von Free Jazz und freier Improvisation, die wir auch irgendwo im Hintergrund haben. Wir haben auch eine musikalische Erfahrung, die bei allem, was wir spielen, mitspielt. Aber im Endeffekt ist es doch spontan und intuitiv, was da passiert."
(Florian:) Wir hatten zum Beispiel heute, bei dem einen Stück haben wir am Ende so einen ewig langen Ton gespielt. Und mir ging es so, dass ich dachte: "Okay, irgendwas muss jetzt passieren, irgendwas muss passieren." Und auf einmal blies da irgendjemand in seine Trillerpfeife und dann haben wir halt aufgehört, weil das einfach genau die Aktion war, die genau in dem Moment genau so richtig war und die wir aber sozusagen aus der Musik gar nicht gespeist haben, sondern die sich nur aus Situation in dem Laden ergibt letztlich."
Die Musiker reagieren unmittelbar auf ihr Umfeld. Eine Verbindung von Hoch- und Alltagskultur wird also nicht mit der Brechstange herbeigeführt, sondern sie geschieht von ganz allein.

Ein niedrigschwelliges Kulturangebot

Dass im Kiosk keine Spur von der elitären Aura eines klassischen Konzerthauses herrscht, sieht Florian Walter als Vorteil. Denn nur wenige Besucher der "Trinkhallen-Tour-Ruhr" sind mit zeitgenössischer Musik vertraut.
"Wir wollen ein neues Publikum erschließen. Und es hilft – das ist die Reaktion, die wir kriegen – es hilft ungemein dabei, diese Art von Musik zu verstehen, wenn man was hat, wo man sich ein bisschen dran festhalten kann; also, wenn man einen Titel hat wie... wir haben Titel wie "Staub in der Lunge" oder "Ouvertüre aus Stahl" zum Beispiel, "Rabenmutter aus Kray-Leithe" – also so regionale Bezüge in den Titeln. Und es hilft vielen Leuten, wenn sie sich an solchen Titeln ein bisschen festhalten können, ohne, dass das jetzt total plakativ wird."
Während der Musikdarbietung sind die Kioske weiterhin zum Einkaufen geöffnet. Florian Walter ist es wichtig, dass die Atmosphäre locker und der Ort authentisch bleibt. Denn ein großes Problem sieht er in Veranstaltungen, in denen dem Publikum mit Arroganz begegnet wird.
"Was mich häufig echt nervt, dass es sowas hat von: 'Ich habe die Kultur jetzt gepachtet. Ich habe die Hochkultur – das ist meins, und ich kann das jetzt euch zeigen. Aber ihr sollt das dann auch bitte gut finden und wehe es beschwert sich jemand! Wenn sich jemand beschwert, dann hat er es nicht verstanden und dann gehört der hier auch eigentlich überhaupt nicht hin.' – Das finde ich ganz schlimm. Und das macht letzten Endes ganz viel kaputt von dem, was man schaffen könnte."

Kunstmusik trifft Alltagskultur

Ohne akademische Attitüde oder didaktischen Zeigefinger gehen die Instrumentalisten auf ihr Publikum zu. Und so abseitig die Musik der "Trinkhallen-Tour-Ruhr" auch erscheinen mag: Die Zuhörer begegnen ihr mit Neugier.
"Das ist natürlich auch toll, wenn sich dann im Publikum auch so eine Gruppendynamik ausbreitet, dass vielleicht sogar Leute, die da erstmal gar nichts mit anfangen können mit der Musik, dann wirklich so mitgerissen werden und auf einmal alle jubeln. Und dann denkt man so: Geil, das ist ja irgendwie voll die Parallelwelt, weil letztlich spielen wir ja Free Jazz irgendwie. Das ist die Musik, wo immer alle sagen: 'Das will kein Mensch hören so'."
Mit diesem Vorurteil räumt das Bassklarinettentrio "Die Verwechslung" auf. Denn sobald die Atmosphäre stimmt, gelingt auch das Miteinander von hochkulturell konnotierter Kunstmusik und urwüchsiger Ruhrgebiet'scher Alltagskultur.
Mehr zum Thema