Treulose Herren und labile Damen

29.05.2008
Um kleine Ausbruchsversuche aus fade gewordenen Ehen und reumütige Rückkehr geht es in den "Feiertagsgeschichten" von Eduard von Keyserling. Aus "Festtagen" wird "Harmonie" oder "Alltag", schließlich kommt die "Kluft". Bewundernswert ist die impressionistische Leichtigkeit, mit der der Autor diese Zustände beschreibt.
Im Jahr 1900 malte Lovis Corinth ein völlig schonungsloses Porträt dieses Autors: ein hager-hühnerbrüstig-hängeschultriger Mann im zu knappen Jackett, den es im Leben zu frösteln scheint. Die von faustgroßen Ringen umschatteten Augen, ins Nichts gerichtet, quellen weit hervor, während das Kinn zurückflieht. Die Lippen sind merkwürdig geschwollen. Untröstlicher kann niemand sein.

Die Rede ist von Eduard von Keyserling, damals eine ziemlich enterbte Existenz. Von den baltischen Gütern hatte es ihn in die Münchner Bohème verschlagen. Gesundheitlich ging es steil bergab. Halb gelähmt und fast blind, hatte der Schriftsteller jedoch den Kopf voller magischer Erinnerungslandschaften, die er im Verlauf der nächsten Jahre aufs Papier bringen würde.

Aus Romanen wie "Wellen" und meisterhaften Novellen wie "Am Südhang" oder "Im stillen Winkel" kennt man ihn als impressionistischen Stimmungskünstler der vorletzten Jahrhundertwende, als elegischen Beschwörer baltisch-kurländischer Landschaften. Die verlorene Zeit des dort auf seinen Gütern ansässigen Adels rekonstruiert er in seinem Erzählgedächtnis, wie sie in der handfesten Realität der Landjunker selten gewesen sein dürfte: bis zum Lebensüberdruss verfeinert.

In ihrer Dekadenzthematik weisen die Erzählungen Parallelen mit den frühen Novellen Thomas Manns auf, der nicht zufällig 1918 einen hymnischen Nachruf auf Keyserling verfasste. An den komischen Ästheten Detlev Spinell aus Manns Novelle "Tristan" erinnern Figuren wie Helmut von Alderkaß, der diverse Frauen mit seinen schönen Redensarten in gehobene Stimmung zu versetzen steht, sich dann aber regelmäßig zugunsten handfesterer Bewerber zurückgewiesen sieht ("Geschlossene Weihnachtstüren").

Den Titel "Feiertagsgeschichten" trägt der kleine Band mit - in Zeitungsarchiven - wiederentdeckten Erzählungen ganz zu Recht. Die gewohnte Spannung von Prosa und Poesie, Adel und Gewöhnlichkeit ist in ihnen wirksam. Es geht um eine Lebensform, die sehr zum Feiertäglichen tendiert: zur gehobenen Seelenlage, zur denkwürdigen Formulierung erlesener Stimmungen. Nur dass der Alltag oder die platte Wirklichkeit durch solche Feiertagsbedürfnisse immer wieder einen Strich machen.

"Harmonie" heißt eine von Keyserlings berühmten Ehe-Erzählungen, die regelmäßig einen eher unharmonischen Verlauf nehmen. So auch in einigen der "Feiertagsgeschichten", in denen von Ermüdungs- und Abnutzungserscheinungen im Alltag von Paaren erzählt wird, von kleinen Ausbruchsversuchungen und reumütiger Rückkehr.

Bei Baron Egon von Pranka ("Die Kluft") kehren in verschiedenen Ehen die Stationen der Ernüchterung auf komisch-stereotype Weise wieder: Zunächst gilt ihm das Zusammensein mit der geliebten Frau als "Festtag", später folgen der "harmonische Alltag" (die "Festtage" werden dann schon bei anderen Damen gesucht) und das "wohltuende Schweigen", bis sich schließlich "die Kluft" unüberbrückbar auftut zwischen den Partnern.

Während sich die Männerfiguren in poetische Seelen und alltagskompatible "Herren" teilen, sind die Keyserlingschen Frauen zumeist sehr labile Damen, die von ihren Ehemännern gerne "Kind" genannt werden. Es sind "schöne Verkörperungen jener Ereignislosigkeit, die auf ein Ereignis wartet". Isa von Syritz empfindet in der Geschichte "Winterwege" den gewissen Überdruss an ihrem Gatten Oskar, der am liebsten über Kartoffeln, Schnapsbrennerei und Zigarren plaudert:

"Isa schaute auf ihren Mann ärgerlich nieder; es fiel ihr plötzlich unangenehm auf, dass er so schwere, gefräßige Kinnbacken hatte."

Das "Ereignis" steht für sie aber schon bereit: ein gewisser Ottomar, ein feinsinniger, attraktiver junger Mann, mit dem Isa eine Schlittenpartie unternimmt. Ottomar weiß die Stimmung des Moments in edle Worte zu kleiden; der Fahrt durch den frischen Schnee gewinnt er poetische Betrachtungen ab. Endlich hat man den Bezirk des Alltäglichen mit seinem "mechanischen Abschnurren dummer Gewohnheiten" verlassen.

Dann aber, nach dem Austausch erster Küsse, verfahren sich die beiden im Schneetreiben, und Ottomar muss feststellen, dass der sanfte Schnee unangenehm nass wird, wenn er schmilzt. Schließlich finden sie eine Unterkunft bei armen Waldleuten. Im Nebenzimmer stirbt eine alte Frau; vier verängstigte, hungrige Kinder starren die vornehmen Gäste an wie "kleine, blonde Gespenster". So hat Ottomar sich das alles nicht vorgestellt; er versagt vor den Anforderungen der Realität, zieht sich verstimmt von der "Armeleuteluft" und den unheiteren Eindrücken ins Bett zurück.

Zu bewundern ist die impressionistische Leichtigkeit von Keyserlings Beschreibungen, das Parlando der Salon-Gespräche, bei denen man sich traurige und kluge Dinge auf sehr hübsche Weise sagt. Manchmal hält es dann eine dieser vornehmen Personen nicht mehr aus und geht nach draußen, um sich zu erschießen, wie bei Tschechow. Bisweilen grenzt die beschwerte Anmut auch ans Komische, Loriothafte - diese knollennasigen Herren, die den guten Ton in jeder Situation zu wahren wissen.

Zu den Funden des Buches gehören sechs lebensphilosophische Betrachtungen - über Liebe, Hass, Kranksein oder die "Psychologie des Komforts". Meinungen veralten meist schneller als Erzählungen, und so wirkt der Denkstil manchmal ein wenig angestaubt. Hier spürt man deutlicher, dass Keyserling Jahrgang 1855 ist.

Ist man aber in der Lage, über das Sonntagsbeilagenhafte vergangener Epochen und über manche heute antiquiert erscheinende Formulierung zum Geschlechterverhältnis oder zu den Nationalcharakteren hinwegzusehen, findet man kluge Einsichten eines psychologischen Feinmechanikers, in manchem an die Essays von Georg Simmel erinnernd. Aber kein Zweifel - der Erzähler Keyserling, der so viel zwischen den Zeilen zu sagen versteht, hat einen anderen Rang.

Rezensiert von Wolfgang Schneider

Eduard von Keyserling: Feiertagsgeschichten
Herausgegeben und mit Nachwort von Klaus Gräbner.
Steidl Verlag 2008,
175 Seiten, 14,00 Euro